[aus: Philosophische Abhandlungen Christoph Sigwart zu seinem siebzigsten Geburtstage 28. März 1900 gewidmet von Benno Erdmann, Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert, Ludwig Busse, Richard Falckenberg, Hans Vaihinger, Alois Riehl, Wilhelm Dilthey, Eduard Zeller, Heinrich Maier. (Tübingen, Freiburg i. B. und Leipzig, Verlag von J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1900.) Seiten 203-216]






Ueber den Einfluss des Gefühls auf die Thätig-


keit der Phantasie.



Von



E. Zeller.





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Unter dem Namen der Phantasie oder der Einbildungskraft pflegt man alle die Vorstellungsthätigkeiten zusammenzufassen, welche sich weder der Wahrnehmung noch dem Denken zutheilen lassen. Von jener unterscheiden sie sich dadurch, dass sie nicht aus der gegenwärtigen Einwirkung realer Vorgänge hervorgehen: weder aus der durch unsere Sinneswerkzeuge vermittelten Einwirkung der Aussenwelt auf unsere Vorstellungsthätigkeit, welche die äusseren Wahrnehmungen hervorruft, noch aus der Rückwirkung psychischer Vorgänge, auf welche wir die Wahrnehmungen des sog. inneren Sinnes, die Aussagen unseres Selbstbewusstseins, zurückzuführen haben. Als Denkthätigkeiten lassen sie sich nicht betrachten, weil sie nicht, wie diese, das Wirkliche in seinem objektiven Wesen und Zusammenhang zu verstehen suchen, sondern sich mit der Vergegenwärtigung seiner Erscheinung, so wie sich diese dem anschauenden Subjekt darstellt, begnügen, weil sie sich nicht in Begriffen bewegen, sondern in Bildern, in Vorstellungen, welche ihrer Form nach den durch die äussere und innere Wahrnehmung gewonnenen gleichartig sind, und nur durch die Art ihrer Entstehung und die von dieser bedingten Eigenthümlichkeiten sich von ihr scheiden. Die Phantasie liefert uns ebenso wie die Wahrnehmung Bilder einzelner Dinge und Vorgänge; aber diese Bilder entstehen uns nicht, wie die Wahrnehmungsbilder, unmittelbar durch die Einwirkung jener Dinge und Vorgänge, sondern aus uns selbst, und machen desshalb auf uns nicht den gleichen Eindruck objektiver Realität. Mag ein Erinnerungs- oder Phantasiebild dem eines von uns wahrgenommenen Gegenstandes noch so ähnlich sein, so wissen wir doch bei wachem und normalem Bewusstsein zwischen beiden wohl zu unterscheiden. Das eine nennen wir eine Wahrnehmung, das andere eine blosse Vorstellung, jenem schreiben wir eine thatsächliche, von unserem Vorstellen unabhängige Wirklichkeit zu, von diesem sind wir uns bewusst, dass es nur in unserer Vorstellung vorhanden ist und sofort verschwindet, wenn wir diese einem anderen Gegenstand zu-[205/206]wenden, mit einem anderen Inhalt erfüllen.
Diese Subjektivität der Phantasiethätigkeit und der aus ihr entspringenden Vorstellungen bringt es nun mit sich, dass dieselben von unsern Gefühlen und Stimmungen einen stärkeren Einfluss erfahren als die Wahrnehmung und das Denken. Auch diese sind allerdings nicht unabhängig von ihnen und sie können es nicht sein. Denn alle Geistesthätigkeiten, und so auch die Vorstellungsakte, erhalten den Anstoss zu ihrem Hervortreten, soweit er psychischer Natur ist, von gewissen Gefühlen. Unsere äusseren Wahrnehmungen werden uns freilich zunächst von aussenher aufgedrungen; aber die Aufmerksamkeit, deren es bedarf, um die Sinnesempfindungen scharf aufzufassen und zu deutlichen Bildern zu verknüpfen, entspringt aus dem Wunsche die Dinge kennen zu lernen, mag nun dieser selbst durch das praktische Bedürfniss, sie zu benützen oder sich vor ihnen zu schützen, oder mag er durch die blosse Neugierde, die Freude am Sehen und Hören u. s. w. hervorgerufen sein. Diess alles sind aber Gefühlszustände. Noch augenscheinlicher ist es bei der Denkthätigkeit, dass sie immer durch das Gefühl eines theoretischen oder praktischen Bedürfnisses, und in ihrer höchsten Entwicklung durch die Freude am Erkennen als solche und das aus ihr entspringende Bedürfniss des Erkennens angeregt wird. Aber wenn auch gewisse Gefühle eine psychische Bedingung dieser Vorstellungsthätigkeiten sind, so dürfen die letzteren doch in der Art ihrer Vollziehung und der Beschaffenheit ihrer Ergebnisse nicht von jenen Gefühlen abhängig gemacht werden. Man beobachtet vielleicht einen Gegenstand in der Erwartung, ihn so und so zu finden; aber wenn diese Erwartung getäuscht wird, darf man sich nicht einreden, dass er sich anders gezeigt habe, als er sich gezeigt hat. Man unternimmt eine Untersuchung mit dem Wunsch und der Absicht, eine Lücke seines Wissens dadurch auszufüllen, einen quälenden Zweifel zu lösen. Aber mag jener Wunsch noch so lebhaft und berechtigt sein: man darf sich durch denselben doch nicht verleiten lassen, es mit der Prüfung der Thatsachen, der Bündigkeit der Schlüsse leichter zu nehmen, das Unerwiesene für erwiesen, das Erwartete und Gewünschte für ein Nothwendiges zu halten. Anders verhält es sich in dieser Beziehung mit der Phantasie. So wichtig und unentbehrlich auch die Dienste sind, die sie, methodisch geleitet, unserer Erkenntnissthätigkeit leistet, so ist doch nicht das Bedürfniss des Erkennens als solches das Motiv ihrer Thätigkeit, nicht die Erkenntniss der Wirklichkeit das Ziel, dem sie zustrebt. Ihren [206/207] stärksten Antrieb bildet vielmehr der Genuss, den das Spiel der Vorstellungen durch sich selbst gewährt; und je freier sich dieses gestaltet, um so stärker ist der Einfluss, den subjektive Stimmungen, Zustände und Bedürfnisse auf seinen Inhalt und Verlauf gewinnen. Ich will diess an den Hauptformen der Phantasiethätigkeit näher nachweisen.
Alle unsere Vorstellungsthätigkeiten haben ihren Stoff in letzter Beziehung der Erfahrung, der inneren und äusseren Wahrnehmung zu verdanken. Von den auf's Erkennen gerichteten weist diess die Erkenntnisstheorie nach; von der Phantasiethätigkeit liegt es am Tage und wird von keiner Seite bestritten. Auch die kühnste und erfinderischeste Phantasie kann ihre Erzeugnisse nicht aus dem Nichts schaffen, sondern nur aus Elementen, die ihr schon vorher bekannt sind, bilden. Sie kann diese Elemente in neue Verbindungen bringen, ihre Beschaffenheit, ihre Grösse, ihre Wirkungsart ändern, aber sie kann nichts absolut neues, kein Gebilde hervorbringen, das nicht aus Stoffen und nach Analogieen aufgebaut wäre, die der Erfahrung entnommen sind. Die erste Thätigkeit der Phantasie und die Bedingung aller andern ist daher das Bewahren und Wiedererzeugen der ursprünglich durch die innere und äussere Wahrnehmung gegebenen Vorstellungen, die erste Form derselben die sog. reproduktive Phantasie oder das G e d ä c h t n i s s.
Schon hier zeigt sich aber der Einfluss der Gefühle auf die Vorstellungsthätigkeit sehr bedeutend. Wenn nämlich das Gedächtniss im allgemeinen ebenso wie die Gewöhnung und Uebung auf dem Gesetze beruht, dass jede psychische Thätigkeit, je intensiver sie ist um so mehr, eine Disposition zur Wiederholung derselben Thätigkeit begründet, so kommen für die Stärke dieser Disposition beim Gedächtniss - abgesehen von der Verschiedenheit der individuellen Begabung - drei Punkte als massgebend in Betracht. Je deutlicher und je lebhafter eine Wahrnehmung ist, um so fester prägt sie sich dem Gedächtniss ein. Je länger eine Vorstellung in unserem Gedächtniss geruht hat, um so leichter verschmilzt sie mit andern, verliert sich in sie, wird vergessen; je kürzere Zeit dagegen seit ihrem ersten Auftreten verflossen, je öfter, deutlicher und lebendiger sie seit demselben erneuert worden ist, um so länger und treuer wird sie bewahrt. Je fester und mannigfaltiger sie mit anderen Vorstellungen verknüpft ist, um so leichter und häufiger wird man durch diese an sie erinnert. Bei allen diesen Vorgängen spielen aber die Gefühle, die sich mit den betreffenden Vorstellungen ver-[207/208]knüpfen, eine sehr wichtige, nicht selten die entscheidende Rolle. Schon zur D e u t l i c h k e i t unserer Wahrnehmungen trägt, wie bereits bemerkt wurde, das Interesse, das ihr Gegenstand für uns hat, die Bedeutung, welche unser Gefühl ihm beilegt, sehr viel bei, weil unsere Aufmerksamkeit dadurch erregt und geschärft wird. Nur in der Stärke der sie begleitenden Gefühle besteht ferner die L e b h a f t i g k e i t der Wahrnehmungen; und sie gerade ist es, von der es vorzugsweise abhängt, ob ihr Bild im Gedächtniss haftet oder mit den Eindrücken, durch die es hervorgerufen wurde, aus dem Bewusstsein verschwindet. Jedermann weiss, wie Gegenstände auf die wir sonst nicht achten und an die wir nie wieder denken würden, die wir vielleicht schon lange Zeit unbeachtet gelassen haben, mit einemmal unsere Blicke auf sich ziehen und sich unserer Erinnerung fest einprägen können, sobald wir Anlass haben, sie mit etwas, das ein Interesse, einen Gefühlswerth für uns hat, mit einem für uns merkwürdigen Vorgang, einer bedeutenden oder uns nahestehenden Person in Verbindung zu bringen, so bald sich angenehme oder unangenehme Gefühle von einiger Stärke mit ihrem Bilde verknüpfen. Ja man wird mit der Annahme nicht fehlgehen, dass gerade diese mit ihnen verbundenen Gefühle dasjenige sind, was unsere Erinnerungen dem Gedächtniss am festesten einprägt; denn erst durch sie werden dieselben in den Zusammenhang unseres persönlichen Lebens aufgenommen, wird ihnen eine individuelle Bedeutung für uns gegeben. Auch für die H ä u f i g k e i t o d e r S e l t e n h e i t i h r e s W i e d e r a u f t r e t e n s ist der Gefühlswerth, den sie für uns haben, von entscheidendem Einfluss. Was uns gleichgültig lässt, wird gerade desshalb in der Regel schnell vergessen, was uns in irgend einer Richtung tiefer erregt, geht desshalb in unseren dauernden inneren Besitz über, weil es keinen Reiz für uns hat uns mit jenem zu beschäftigen, während auf dieses durch das Interesse, das es uns einflösst, unsere Gedanken immer wieder hingelenkt werden. Dieses Interesse kann von der verschiedensten Art sein: Gefühle des Wohlgefallens und solche des Missfallens, der Liebe und des Hasses, der Hoffnung und der Furcht, aus was für Motiven und Bestrebungen sie auch entsprungen sein mögen: aus der Wissbegierde des Forschers oder aus der Neugierde des Klatschsüchtigen, aus der Freude am Schönen oder dem Schwelgen im Hässlichen, aus Menschenliebe und Pflichttreue oder aus Eitelkeit, Ehrgeiz, Herrschsucht, Gewinnsucht. Alle diese Gefühle, wenn sie nur stark genug sind, nöthigen uns, oft gegen unseren Willen, an die Gegenstände, die Menschen und die [208/209] Vorgänge zu denken, an die sie sich heften, und sie frischen dadurch die Erinnerungen an dieselben immer wieder auf und geben ihr nicht selten eine Dauer, die uns selbst lästig ist und unser inneres Gleichgewicht stört. Und das gleiche gilt auch von der Verknüpfung der Vorstellungen, der sogenannten I d e e n a s s o c i a t i o n. Alle die Gesetze der Ideenassociation, welche die Psychologie aufzuzählen pflegt, lassen sieh schliesslich auf das eine zurückführen: dass zwei Vorstellungen dann an einander erinnern, wenn sie bei ihrem früheren Vorkommen mit einander verbunden gewesen sind, und dass sie um so geeigneter sind an einander zu erinnern, je fester diese Verbindung geworden ist 1 ); weil nämlich in derselben keine der beiden Vorstellungen vereinzelt, sondern jede nur mit der andern zusammen gedacht wird, und daher jede auf die andere als ihre Ergänzung hinweist. Welche Vorstellungen nun bei Jemand mit einander in Verbindung gekommen sind, hängt von seinem früheren Vorstellungsverlauf und allen ihn bedingenden Umständen ab. Dagegen hat auf die Festigkeit und Dauer einer solchen Verbindung neben anderem auch das Interesse, das wir dem Gegenstand entgegenbringen, die Stärke der Gefühle, die den Gedanken an ihm begleiten, einen massgebenden Einfluss. Wir kommen etwa an einen Ort, in dem wir vor Jahren verweilt, mancherlei erlebt, manche Menschen kennen gelernt haben. Aber von allen diesen Erlebnissen und Begegnungen treten uns nur wenige beim Anblick des Ortes wieder vor die Seele, weil nur sie auf uns einen Eindruck gemacht haben, der stark genug war, um ihr Bild mit dem des Ortes, an dem sie sich vollzogen haben, dauernd zu verknüpfen. Mit der Erinnerung an schmerzliche oder erfreuliche, ernste oder heitere Vorfälle verbindet sich oft d i e an ganz unerhebliche Nebenumstände nur desshalb, weil sie Theile, wenn auch noch so nebensächliche Theile eines Bildes sind, das sich durch seine Rückwirkung auf unser Gefühl in unser Gedächtniss eingegraben hat. Zahllose Dinge, die für sich genommen unsere Aufmerksamkeit kaum auf

1 ) Denn auch in dem Fall, wo sich die Association zweier Vorstellungen auf ihr objektives Verhältniss gründet, hat dieselbe doch für uns nur in dem Masse Bedeutung, in dem uns dieses Verhältniss schon bekannt ist. Verwandte oder entgegengesetzte oder Correlatbegriffe erinnern nur den an einander, der bei dem einen derselben an den andern zu denken gewöhnt ist, das A nur den an das B, die 4 nur den an die 5, der buchstabiren und zählen gelernt hat, ein Gegenstand an einen andern, der ihm ähnlich ist, nur desshalb, weil die Züge, worin der erste mit dem zweiten übereinkommt, einen Theil der Vorstellung ausmachen, die man sich von diesem gebildet hat. [209/210]

sich ziehen und desshalb bald vergessen würden, haften fest in der Erinnerung, sobald es gelingt, sie einem grösseren Zusammenhang als wesentliche Bestandtheile einzureihen. Der Werth, den sie dadurch für uns erhalten, verknüpft sie mit den übrigen Theilen der Vorstellungsreihe, so dass wir durch sie an diese und durch diese an sie erinnert werden. Der Gefühlswerth unserer Vorstellungen ist so, wie an der Stärke, mit der sie sich uns einprägen und uns fortwährend beschäftigen, so auch an ihrer Association und ihrem durch diese bedingten Wiederaufleben auf's wesentlichste betheiligt. Die Bedeutung dieses Moments ist aber bei den Einzelnen natürlich um so grösser, je stärker der Antheil des Gefühls an ihrem Geistesleben überhaupt ist. Bei grosser Innigkeit der Empfindung, wie sie vorzugsweise Frauen eigen ist, kommt es wohl vor, dass im hohen Alter die durch Gefühle befestigten Erinnerungen - das, was wir das Gedächtniss des Herzens nennen können - sich allein noch erhalten, während alle andern allmählich versinken.
Noch unmittelbarer wirken die Gefühlszustände auf jenes f r e i e S p i e l d e r P h a n t a s i e ein, dem sich alle Menschen, allerdings aber in sehr verschiedenem Masse, nicht allein im Traume, sondern auch im wachen Zustande zeitweise überlassen. Irgend eine Veranlassung erweckt gewisse Vorstellungen, die zunächst nur dem im Gedächtniss aufbewahrten Vorstellungsvorrath entnommen sein können; an diese schliessen sich andere und wieder andere, bald vollständiger bald fragmentarischer auftretend, an; durch das Zusammenfliessen verschiedener, nach Ursprung und Inhalt ungleichartiger Erinnerungsbilder entstehen neue Gebilde; im Traum, im Delirium, überhaupt in allen den Zuständen, in denen das Bewusstsein aufgehoben oder stark verdunkelt ist, erhalten diese den Schein gegenwärtiger Realität, dem wachen Bewusstsein sind sie nur als Vorstellungen gegenwärtig, wenn man auch vielleicht wünscht und hofft, oder auch fürchtet, dass sie in der Zukunft zur Verwirklichung gelangen. Man könnte nun vielleicht geneigt sein, dieses ganze, anscheinend so freie, Spiel der Phantasie für nichts weiter als eine Folge der Ideenassociation zu halten; einen Process, in dem jede Vorstellung oder Vorstellungsgruppe diejenigen hervorruft, mit denen sie durch den bisherigen Vorstellungsverlauf am stärksten und vielfachsten verknüpft worden ist. Allein diess hiesse eine verwickelte Erscheinung allzu einfach, einen psychischen Vorgang allzu mechanisch erklären. Die Bilder, welche unsere Phantasie erfüllen, sind nicht blos Erzeugnisse des vorstellenden Subjekts, sondern sie wir-[210/211]ken auch auf seine Thätigkeit zurück, geben den Anstoss zu Gegenwirkungen, welche sich in den verschiedensten Formen, als Gefühle, Willensakte, Gedanken u. s. w. äussern können. Wollen wir uns aber hier auf diejenigen von ihnen, die wieder in Phantasiebildern bestehen, und auf den Vorstellungsverlauf als solchen beschränken, so ist doch auch er, gerade im freien Spiel der Phantasie, nicht so unabhängig von dem übrigen Seelenleben, dass wir dieses für seine Erklärung bei Seite lassen dürften. Was für Bilder unsere Phantasie uns vorführt und in welcher Richtung sie dieselben weiter verfolgt und gestaltet, das hängt nicht blos von dem bisherigen Gang und Inhalt unseres Vorstellens ab, sondern es ist durch unseren ganzen inneren Zustand und Charakter wesentlich mitbestimmt. Die Stimmungen, die Affekte, die Leidenschaften der Menschen, ihre Neigungen und Abneigungen, ihre Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen, bezeichnen der Phantasie gerade dann, wenn sie sich nicht in den Dienst einer bestimmten künstlerischen, wissenschaftlichen oder praktischen Aufgabe stellt, sondern sich in freiem Spiel ergeht, nur um so sicherer die Gegenstände, mit denen, und den Sinn, in dem sie sich mit ihnen beschäftigen soll. Der Ehrgeizige träumt im Schlafe und noch viel mehr im Wachen von Auszeichnungen und Erfolgen, der Herrschsüchtige von Eroberungen, der Thatendurstige von Kämpfen, der Furchtsame von Gefahren, der Habsüchtige von gewinnbringenden Geschäften, der Genussmensch von Vergnügungen, der Verliebte von dem Gegenstand seiner Neigung, der Forscher von wissenschaftlichen Entdeckungen, der Techniker von Erfindungen, der Hierarch von Ketzerverfolgung, der Fromme von der himmlischen Herrlichkeit. Was uns als ein Gut oder ein Uebel erscheint, was unser Interesse in der einen oder der anderen Richtung auf sich zieht, das reizt uns ebendamit, daran zu denken, und dieser Reiz kann zu einem so starken psychologischen Zwang anwachsen, dass es uns nicht oder nur mit Anstrengung und allmählich gelingt, unsere Gedanken bei anderem festzuhalten, dass es einer strengen Selbstzucht bedarf, um sich vor der Zerstreuung zu bewahren, der Leute von lebhafter Phantasie und Empfindung bei unkräftigem Willen oft rettungslos anheimfallen. Wie unsere Gefühle von unsern Vorstellungen erregt werden, so wirken sie ihrerseits auf diese zurück: unsere Phantasie zeigt uns solche Bilder, wie sie unserer jeweiligen Stimmung und Gemüthslage entsprechen, diese spiegelt sich in jenen ab, und wenn es möglich wäre festzustellen, mit was jeder seine müssigen Stunden verträumt und [211/212] welchen Theil seiner Zeit er so zubringt, so erhielte man dadurch einen höchst werthvollen Beitrag zur Kenntniss seines ganzen Charakters. Wie man daher von Ideenassociation spricht, so könnte man mit dem gleichen Rechte von einer Association der Gefühle mit den Vorstellungen sprechen, infolge deren sie sich gegenseitig hervorrufen, und in den Bildern, welche unsere Phantasie anscheinend ziellos erzeugt, nicht nur, unsere augenblickliche Stimmung, sondern auch unsere ganze Empfindungsweise zum Ausdruck kommt.
Der gleiche Zusammenhang lässt sich aber auch noch weiter und bis zu den höchsten Leistungen unserer Phantasie hinauf verfolgen. Die Bilder, welche sie uns vergegenwärtigt, dienen nicht blos zur Erinnerung an früher Wahrgenommenes und zum freien Spiel der Vorstellungen; sondern sie erhalten auch eine weitergreifende Bedeutung, indem sie uns zu Zeichen oder S y m b o l e n für Vorstellungsinhalte werden, die über ihren ursprünglichen Sinn hinausgehen, erst durch Uebertragung und Entlehnung in sie hineingelegt werden. Diese symbolisirende Phantasiethätigkeit ist für das geistige Leben des Menschen von unabsehbarer Bedeutung. Auf ihr beruht z. B. alle Sprachbildung (denn die Worte sind nichts anderes als Zeichen der Vorstellungen) und bei derselben die Möglichkeit, durch Töne zu bezeichnen, was nicht durch's Gehör von uns vernommen worden ist, für geistige Vorgänge Ausdrücke zu gebrauchen, die von körperlichen, für Begriffe solche, die von sinnlichen Anschauungen entlehnt sind, aus einer kleinen Anzahl von Wurzeln durch unablässige Aenderung und Erweiterung der Bedeutung der Wörter eine unerschöpfliche Fülle sprachlicher Bezeichnungen abzuleiten. In Bildern, deren Bedeutung eine uneigentliche, symbolische ist, bewegt sich, über die herkömmliche und nicht mehr als metaphorisch empfundene Redeweise hinausgehend, die Sprache des Dichters und grossentheils auch die des Redners. Und bei dieser ganzen Bildersprache entscheidet über die Bedeutung der Bilder sehr oft weniger ihre sachliche Aehnlichkeit mit dem durch sie bezeichneten, als die Gleichartigkeit des Eindrucks, den beide hervorbringen, der durch sie erregten Gefühle. Einen symbolischen Charakter hat aber alle Poesie und alle Kunst überhaupt auch desshalb, weil die Gestalten, die sie schafft, neben den Einzelwesen, als welche sie sich uns darstellen, immer zugleich allgemeine Typen, Repräsentanten der menschlichen Natur und einzelner Menschenklassen sind, allgemein menschliche Charakterzüge, Zustände und Schicksale zur Anschauung bringen. Weil sie aber dieses Allge-[212/213]meingültige nur im Einzelnen und scheinbar Zufälligen zum Ausdruck bringen, kann es durch sie nicht direkt ausgesprochen, sondern nur dadurch angedeutet werden, dass die Gefühle, die alle gleichartigen Fälle hervorrufen, durch sie besonders rein und kräftig hervorgerufen werden. Sie belehren nicht, sondern sie erfreuen, erheitern, begeistern, rühren. Ihre nächste Wirkung ist, wie nach ARISTOTELES die der Mysterien, nicht ein m a J e i n , sondern ein p a J e i n . Die „Idee" einer Dichtung in einem Lehrsatz zu suchen, war verfehlt: ihre Idee liegt in ihrer Wirkung. Aehnlich verhält es sich mit der Mythologie und den vielen aus ihr entsprungenen oder analog gebildeten Vorstellungsgruppen. Die Wesen, von denen sich der Mensch abhängig fühlt, von deren Gunst er Schutz gegen Gefahren und Güter jeder Art erhofft, deren Ungnade er durch Opfer und Sühnungen abzuwenden sich bemüht, treten ihm zunächst als Einzelwesen, meist in menschlicher Gestalt, entgegen. Aber er legt ihnen alle die Kräfte und Eigenschaften bei, die sie seiner Meinung nach haben müssen, um ihm selbst das zu leisten, was er für sich von ihnen erwartet, und er liebt sie dadurch um so höher, je mehr seine eigenen Ziele sich veredeln und erweitern, verkörpert in ihnen seine Ideale, macht sie zu Repräsentanten von allem, was ihm Bewunderung, unter Umständen auch von dem, was ihm Schrecken und Angst einflösst. Mögen wir aber an den Erzählungen über die Götter mehr das in's Auge fassen, was sie für das religiöse Leben ursprünglich bedeuten, oder das, was bei höherer Entwicklung in sie hineingelegt wird: immer zeigt es sich, dass der Phantasie, welche diese Erzählungen geschaffen hat, ihre Wege von dem menschlichen Gemüth vorgezeichnet worden sind. Dass die Mächte, von denen sich der Mensch abhängig findet, menschenähnlich gedacht werden, der Mensch seine Götter nach seinem Bilde schafft, diess freilich ist in der allgemeinen Unfähigkeit begründet, sich die Kräfte, deren Wirkungen man erfährt oder zu erfahren glaubt, anders als nach Analogie des menschlichen Willens vorzustellen. Aber der nähere Inhalt des Götterglaubens richtet sich durchaus nach den Bedürfnissen, deren Befriedigung man von den Göttern erwartet, seien diess nun physische, moralische oder intellektuelle. Jedes Bedürfniss kündigt sich aber in einem Gefühl an, und jede Befriedigung desselben ruft gewisse Gefühle hervor; wenn jenes die Quelle, diese das Ziel der Glaubensvorstellungen ist, so beweist diess, dass die Phantasie, welche diese Vorstellungen erzeugt, im Dienste des religiösen Gefühls steht. Und ähnliches lässt sich noch in vielen [213/214] Fällen wahrnehmen. Wo immer seine Bedürfnisse, seine Wünsche, seine Befürchtungen, seine Erfahrungen dem Menschen die Schranken seines Wissens und Könnens fühlbar machen, ist alsbald die Phantasie am Werke, sie zu überspringen und für das, was die Wirklichkeit versagt, in einer zweiten, selbstgeschaffenen Welt Ersatz zu geben. Dass die letztere nur aus Bildern besteht, nur in dem vorstellenden Geiste Dasein hat, verbirgt sich dem Bewusstsein auf niedrigerer Entwicklungsstufe zwar nicht gänzlich; aber gerade wegen der Betheiligung des Gefühls an ihrer Erzeugung sind die Grenzen der beiden Welten, der wirklichen und der Phantasiewelt, noch ganz unsichere und fliessende. Je lebhafter der Eindruck ist, den ein Phantasiebild macht, um so geneigter ist man, ihm Wirklichkeit beizulegen, weil man eben die Wahrnehmung von der blossen Einbildung und vom Traume an diesem Merkmal, an der Stärke des Eindrucks, zu unterscheiden gewohnt ist. Wird vollends die Ueberzeugung von der Realität eines von der Phantasie geschaffenen Bildes oder einer von ihr hergestellten Combination durch unvordenkliche Ueberlieferung, allgemeine Uebereinstimmung, lebenslängliche Gewöhnung, vielleicht auch durch ihren Zusammenhang mit anderweitigen Interessen und Vorurtheilen befestigt, so begreift man, dass sie in zahllosen Fällen zu etwas so unbezweifeltem und unantastbarem wird, wie es der Glaube an die Götter des eigenen Volkes, an die Wirkungen der überlieferten Kultushandlungen, Gebete und Beschwörungen, an Astrologie und Orakel, an alle den tausendfältigen Aberglauben zu sein pflegt, der schliesslich immer wieder darauf zurückkommt, dass man einen objektiven Causalzusammenhang annimmt, wo nur eine subjektive Ideenassociation vorliegt, reale Wirkungen von Vorgängen, Worten, Geberden und Handlungen erwartet, die an das Erwartete vielleicht erinnern, aber nicht das geringste dazu beitragen können es herbeizuführen. Mag ein solcher Glaube den Thatsachen der Erfahrung noch so handgreiflich widersprechen: wenn der Wunsch, dass er wahr sei, lebhaft genug ist, wird sich auch die Ueberzeugung einstellen, und auch an Erzählungen, die sie bestätigen, wird es nicht fehlen. So gross ist bei den meisten die Macht der Gefühle über ihre Phantasie.
Auch da aber, wo keine Selbsttäuschung dieser Art obwaltet, wo man sich des subjektiven Ursprungs und Charakters der Phantasiebilder vollkommen bewusst ist, wird der Einfluss, welchen die Gefühlszustände auf dieselben ausüben dadurch nicht aufgehoben. [214/215]
Da nämlich alles, was Gegenstand unserer Vorstellung werden kann (wie schon oben bemerkt wurde), erst durch die Gefühle, die es in uns hervorruft, eine persönliche Bedeutung für uns erhält, uns als ein Gut oder ein Uebel erscheint, uns anzieht oder abstösst, so setzt jede schöpferische Phantasiethätigkeit eine bestimmte Gemüthslage und Stimmung voraus, welche zu ihr hintreibt; und je kräftiger und beharrlicher diese Thätigkeit ist, um so stärker muss auch der innere Drang sein, aus dem sie entspringt. Ohne Begeisterung gibt es keinen Dichter oder Künstler, ohne Eingebung keinen Propheten. Selbst den verstandesmässigeren Thätigkeiten des Forschers, des Erfinders, des Staatsmanns u. s. f. wird die Phantasie nur dann den Beistand leihen, den sie für die Lösung ihrer Aufgaben von ihr erwarten, wenn ein lebendiges Gefühl für die Bedeutung der Sache sie befeuert. Ebenso kann nur die Freude an bestimmten Stoffen und einer bestimmten Art ihrer Behandlung den Einzelnen veranlassen, sich mit ihnen zu beschäftigen. In welchem Sinne diess aber geschieht, hängt bei der Phantasie eben desshalb, weil sie in ihrem Schaffen frei ist, mehr als bei jeder anderen Vorstellungsthätigkeit vom subjektiven Gefühl ab. Im Beobachten wie im Denken finden wir uns durch die Sache gebunden: wir glauben an unsere Wahrnehmungen und unsere Schlüsse nicht weil wir wollen, sondern weil wir müssen, mögen uns nun unsere Ergebnisse gefallen oder nicht. Die dichtende Phantasie hat die Freiheit, einen beliebigen Inhalt in beliebigen Formen zur Darstellung zu bringen, und sie macht von dieser Freiheit den reichlichsten Gebrauch. Was veranlasse sie dann aber gerade diesen Inhalt und in dieser Form darzustellen? Schliesslich wird man doch nur sagen können: es habe eben dem Darstellenden so am besten gefallen; und mag man noch so gute Gründe dafür angeben können, warum es ihm so gefiel: wenn es ihm anders gefallen hätte, würde er es anders gemacht haben; das entscheidende Wort spricht bei seinem Verfahren sein ästhetisches Gefühl. Und dabei bleibt es auch dann, wenn der Versuch gemacht wird, die Phantasie in ihrer schöpferischen Thätigkeit durch Kunstregeln und Theorieen zu leiten. Der Massstab, welchen diese anlegen, ist doch immer, wenn man genauer zusieht, die Uebereinstimmung eines Werkes mit dem, was von allen ästhetisch Gebildeten als schön anerkannt ist, die letzte Instanz, an die sie appelliren, der gute Geschmack, das ästhetische Gefühl. So nothwendig es aber auch ist, dass dieses Gefühl durch die Theorie über sich selbst aufgeklärt werde, dass die Künstler [215/216] durch methodische Schulung ihrer Phantasie gewöhnt werden, nur an dem Schönen und Zusammenstimmenden Gefallen zu finden, von dem Hässlichen und Disharmonischen sich abgestossen zu fühlen, und so wünschenswerth man in dieser, Beziehung gerade in unserer Zeit eine Künstlerlogik, eine Anleitung zum folgerichtigen künstlerischen Denken finden möchte: was schön und was unschön ist, lässt sich doch immer nur an dem Eindruck erkennen, den ein Gegenstand macht, dem Gefühl des Gefallens oder Missfallens, das er hervorruft. Die Schönheit, welche der Zweck aller künstlerischen Hervorbringung und der Gegenstand aller ästhetischen Beurtheilung ist, betrifft die Art, wie die Dinge uns erscheinen. Diese hängt aber nicht blos von der objektiven Beschaffenheit der Dinge und den allgemeinen Bedingungen der sinnlichen Wahrnehmung ab, sondern zugleich ganz wesentlich von der Empfänglichkeit, die wir dem Gegenstand entgegenbringen. Seine ästhetische Wirkung überträgt sich nicht mechanisch von ihm auf uns; sie tritt vielmehr nur in der Art und dem Umfang ein, in dem wir mit unserer Phantasie nachschaffen und mit unserer Empfindung uns aneignen, was er uns entgegenbringt. Die Aufgabe des Künstlers ist es, die Bilder, welche er uns vorführt, so zu gestalten, dass sie den von ihm beabsichtigten Eindruck rein und voll hervorrufen, die Aufgabe dessen, der sein Werk anhört oder betrachtet, sich dieser Wirkung mit innerem Verständniss hinzugeben. Wie aber jener nichts wirksam darstellen kann, was nicht in ihm selbst lebt, so kann auch dieser nichts verstehen und geniessen, was er nicht nachzufühlen im Stande ist.



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