[aus: Philosophische Abhandlungen Christoph Sigwart zu seinem siebzigsten Geburtstage 28. März 1900 gewidmet von Benno Erdmann, Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert, Ludwig Busse, Richard Falckenberg, Hans Vaihinger, Alois Riehl, Wilhelm Dilthey, Eduard Zeller, Heinrich Maier. (Tübingen, Freiburg i. B. und Leipzig, Verlag von J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1900.) Seiten 41-58]






Vom System der Kategorien.



Von



Wilhelm Windelband.





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Das letzte Princip aller theoretischen Philosophie, ja aller Philosophie überhaupt, bildet seit KANT'S Kritik der reinen Vernunft der Begriff der Synthesis. Wir verstellen darunter jene eigenartige „Einheit des Mannigfaltigen", welche den Grundcharakter alles Bewusstseins und damit die Fundamentaltatsache der inneren Erfahrung ausmacht. Diese „Einheit des Mannigfaltigen" hatte bei LEIBNIZ im Begriff der Monade metaphysische Bedeutung gehabt und psychologische Verwendung gefunden: KANT machte sie zum Grundstein seiner kritischen Lehre, und indem er sie als „synthetische" Einheit des Mannigfaltigen bezeichnete, hob er als das Wesentliche in dieser Grundfunction des Bewusstseins den Umstand hervor, dass dabei die mannigfaltigen Elemente trotz ihrer Vereinheitlichung in ihrer ganzen Bestimmtheit aufrecht erhalten werden.
In der Tat ist damit das eigenste Wesen des psychischen Geschehens und sein Unterschied vom physischen in der einfachsten und treffendsten Weise bezeichnet. Aus der Vereinigung zweier Bewegungen im Raume resultirt eine dritte, die von jenen beiden nach Richtung und Geschwindigkeit verschieden ist und beide in der Weise in sich enthält, dass sie selbst keine gesonderte Wirklichkeit mehr besitzen. Aus der Vereinigung zweier Vorstellungen im Bewusstsein dagegen entsteht eine dritte Vorstellung, welche die Inhalte jener beiden gesondert aufrecht erhält: in diesem Falle besteht die Vereinheitlichung der Elemente nicht darin, dass sie in einen dritten Inhalt zu ungeschiedener Gesammtheit verschmölzen, sondern vielmehr darin, dass sie durch eine zwischen ihnen gesetzte B e z i e h u n g zu einem Ganzen verbunden werden.
Diese synthetische Einheit ist dem Bewusstsein so wesentlich, dass es geradezu als die Function des Beziehens definirt werden kann. Alles tatsächliche, unsrer Erfahrung bekannte Bewusstsein stellt eine solche Einheit des Mannigfaltigen dar. Nur durch künstliche Construction könnten wir uns Fälle erdenken, in denen das Bewusstsein momentan von einem einzigen ganz einfachen und be-[43/44]ziehungslosen Inhalte ausgefüllt wäre, etwa bei einem heftigen Sinneseindruck von Licht oder Schall; aber schon in dem Schmerz, der damit als Gefühlston unabwendbar verbunden wäre und im Bewusstsein auf denselben Reiz bezogen würde, läge die Synthesis wieder vor. In allem normalen Vorstellungsverlauf dagegen ist es von selbst klar und bedarf keiner weiteren Erläuterung, dass auch die verhältnissmässig ärmsten und einfachsten Eindrücke und Gedanken stets eine vereinheitlichte Mannigfaltigkeit enthalten.
Andrerseits bedarf es nur geringer Ueberlegung, um sich deutlich zu machen, dass es unmöglich ist, mehrere gesonderte Inhalte in einem und demselben Acte des Bewusstseins zusammen und zugleich vorzustellen, ohne sie durch irgend eine Beziehung mit einander zu verbinden. Auf dem Gebiete des sinnlichen Vorstellens, der Wahrnehmung, besteht diese Beziehung zum mindesten in der räumlichen und zeitlichen Anordnung, worin die Empfindungsinhalte aufgefasst werden: meist aber ist schon diese anschauliche Synthesis mit begrifflichen Formen, wie der Dinghaftigkeit, durchsetzt. Vollends die Tätigkeiten des Denkens bestehen durchgängig in der Vorstellung oder Behauptung von Verhältnissen zwischen einer mehr oder minder ausgedehnten Vielheit gesonderter Momente: und wenn das Bewusstsein Inhalte neben einander vorstellen will, zwischen denen es an jeder positiven, sachlichen Beziehung fehlt, so bleibt die Function des Unterscheidens als die ärmste und elementarste Art der Relation zwischen ihnen übrig.
Dabei ist es für die Psychologie und für die Logik in gleichem Masse wichtig, dass diese Beziehungen den Inhalten gegenüber, die durch sie geordnet und verknüpft werden, etwas Andersartiges, daraus nicht Ableitbares und andrerseits doch in ihrer Anwendung von den Inhalten durchaus Abhängiges sind. Sowohl die anschaulichen als auch die begrifflichen Formen der Synthesis treten den zu verbindenden Inhalten als ein Neues hinzu und sind durch die Reflexion von ihnen völlig unabhängig zu machen: in ihrer wirklichen Anwendung aber sind sie an die sachlichen Bestimmungen der Inhalte, zwar in verschiedenem Grade, aber immer doch so gebunden, dass es von diesen Inhalten selbst abhängt, in welche Beziehungen sie durch das synthetische Bewusstsein gesetzt werden dürfen oder sollen.
In diesen eigenartig verwickelten Verhältnissen und Abhängigkeiten zwischen den Formen und den Inhalten des Bewusstseins stecken die tiefsten und schwersten Probleme der Transscendental-[44/45]psychologie und der Erkenntnisstheorie.
Nicht von diesen soll hier die Rede sein: eine kurze Hindeutung darauf genügt, um die centrale Stellung zu bezeichnen, welche die „synthetische Einheit des Mannigfaltigen" in den Untersuchungen der kritischen Philosophie einnimmt, und um begreiflich erscheinen zu lassen, wenn sie zum Ausgangspunkte für die Lösung einer engeren Aufgabe gemacht wird, die zunächst der reinen Logik angehört, - eines E n t w u r f s z u m S y s t e m d e r K a t e g o r i e n.
Dass diese Aufgabe den Drehpunkt für die Bewegung der logischen Wissenschaft seit KANT bildet, ist für den, der ihre Geschichte kennt, ausser Frage. Darüber, dass KANT selbst sich in seinem Versuch ihrer Lösung vergriffen hat, sind wohl ziemlich alle einig: aber gerade, weil er in der künstlichen und misslungenen Ableitung der „Tafel der reinen Verstandesbegriffe" aus der „Tafel der Urteile" die Verbindung zwischen der alten formalen und der neuen transscendentalen Logik herzustellen meinte, wird jeder neue Versuch einer Kategorienlehre diesem Bestreben Rechnung tragen müssen. So viele Versuche dazu - von FICHTE bis zu E. v. HARTMANN - gemacht worden sind, so wenig scheint doch in dieser Hinsicht das letzte Wort gesprochen und das rechte Verhältniss getroffen zu sein. Deshalb mag es gestattet sein, eine aus langjähriger Erwägung und lehrhafter Behandlung der logischen Probleme erwachsene Auffassung dieses Gegenstandes in ihren Grundzügen hier vorzulegen  1 ).
Unter K a t e g o r i e n verstehen wir die synthetischen Formen des Denkens oder die Beziehungen, in denen anschaulich gegebene Inhalte durch das zusammenfassende Bewusstsein mit einander verbunden werden. Das zusammenfassende Denken, welches dabei tätig ist, stellt sich entweder als erkennender Process im U r t e i l oder als fertiges Wissen im B e g r i f f dar. Im ersteren Falle werden die gesonderten Vorstellungsinhalte, die sich sprachlich am einfachsten als Subject und Prädicat aus einander legen, durch die Kategorie in Beziehung gesetzt und der Wahrheitswert dieser ihrer Beziehung zum Ausdruck gebracht: in der zweiten Form wird die bejahte (unter Umständen auch die nur problematisch gedachte)

1 ) Hierbei wie im Folgenden setze ich die Erörterungen über die Qualität der Urteile voraus, welche ich in der Strassburger Festschrift zu E. Zeller's 70. Geburtstage (Freiburg i./Br. 1884) als Beiträge zur Lehre vom negativen Urteil, veröffentlicht habe. [45/46]

Beziehung der Vorstellungsinhalte als ein fertig in sich verknüpftes Ganzes in weitere Verbindungen eingesetzt. Urteil und Begriff erscheinen danach als nur psychologisch verschiedene Stadien derselben logischen Function: und diese besteht in beiden Fällen wesentlich in der Verknüpfung verschiedener Inhalte durch eine Kategorie. Das Urteil entscheidet darüber, ob diese Verknüpfung „gelten" soll: der Begriff behandelt sie entweder als eine giltige oder als eine vorläufig angenommene.
Nach dieser Auffassung sind die Kategorien ebensogut Formen der Begriffe, wie Formen der Urteile: die aristotelische und die kantische Bedeutung des Worts fallen von selbst zusammen. Jeder Art des Urteils muss eine solche des Begriffs entsprechen, und umgekehrt: was im Urteil vollzogen und behauptet wird, gilt im Begriff als fertig und anerkannt oder wenigstens bekannt. Der übliche Aufbau der Logik, der vom Begriff zum Urteil und zum Schluss fortschreitet, sinkt zu einer psychologischen und grammatischen Unterscheidung herab.
Um so mehr concentrirt sich die Aufgabe der Logik auf die Frage nach dem systematischen Zusammenhange aller der möglichen Beziehungen, durch welche überhaupt Vorstellungsinhalte im Urteil mit einander verbunden und im Begriff als verbunden aufbewahrt werden können; d. h. vom Urteil aus betrachtet, auf die Lehre von der R e l a t i o n. Diese gewährt neben der Qualität den einzigen und den wichtigeren Unterscheidungsgrund der Urteile. Was KANT als „Modalität" des Urteils behandelt hat, gehört unter den Gesichtspunkt der „Qualität", wenn man diese, wie es SIGWART und LOTZE angebahnt haben, wesentlich als Entscheidung über den Wahrheitswert der im Urteil gedachten Beziehung ansieht. Die Unterschiede der „Quantität" dagegen betreffen, wie SIGWART gezeigt hat, nicht den Act des Urteils als solchen, weder in seinem beziehenden (theoretischen) noch in seinem behauptenden (praktisch ) Moment, sondern nur den Umfang des Subjects: sie haben deshalb zwar eine grosse Bedeutung für die Methodologie, aber fast gar keine oder eine sehr geringe für die reine Logik, in der sie nur bei der Theorie des Schlusses eine von der traditionellen Lehre unberechtigt aufgebauschte Rolle spielen.
Sollen nun die Kategorien nicht „empirisch aufgerafft" werden, wie es KANT der aristotelischen Aufzählung mit Recht vorwarf, so bedarf es dazu einer systematischen Ableitung: diese aber kann, wenn man die Kategorien als die Beziehungsformen der Urteile und [46/47] der Begriffe auffasst, nicht in einer sonst schon feststehenden Einteilung der Urteile gefunden werden, Wie Sie von KANT selbst mit stark empirischer oder historischer Zusammenraffung vorausgesetzt wurde: umgekehrt wird sich die Einteilung der Urteile nach der „Relation" erst aus der Kategorienlehre ableiten lassen. Ein P r i n c i p f ü r d a s S y s t e m d e r K a t e g o r i e n ist deshalb nur zu finden, wenn man lediglich davon ausgeht, dass die Kategorien, im Urteil wie im Begriff, nichts anderes sind als Formen des beziehenden Denkens, und wenn man die M ö g l i c h k e i t e n e n t w i c k e l t, w e l c h e i n d e m W e s e n d e r s y n t h e t i s c h e n E i n h e i t d e s M a n n i g f a l t i g e n e n t h a l t e n s i n d u n d d i e B e d i n g u n g e n f ü r d i e A u s f ü h r u n g d i e s e r F u n c t i o n a u s m a c h e n. Es wird darauf ankommen, ob es gelingt, von diesem einheitlichen Gesichtspunkte aus ein Verständniss des geordneten Zusammenhanges aller derjenigen Beziehungen zu gewinnen, welche das wirkliche, lebendige und sachliche Denken in seinen Urteilen und Begriffen zur Verknüpfung der ihm durch die Anschauung gegebenen Inhalte verwendet.
Dabei erweist sich zunächst, dass die Synthesis den Gegensatz zwischen der beziehenden. Function und den deren Gegenstand bildenden Vorstellungsinhalten voraussetzt. Beide sind für den einzelnen Act der Synthesis gleichmässig erforderlich und in ihm untrennbar verbunden: aber die wechselnden Vorgänge des synthetischen Denkens belehren uns, dass die einzelnen Inhalte mit einander in verschiedene Beziehungen treten können und dass andrerseits dieselbe Beziehung zwischen verschiedenen Inhalten stattfinden kann. Die Bewusstseinsfunction und der Bewusstseinsinhalt zeigen damit eine freie Beweglichkeit gegen einander; der eine erscheint von der anderen unabhängig. Die Tatsachen der Erinnerung bestätigen - von der inneren Erfahrung aus gesehen -, dass der Vorstellungsinhalt von der Function unabhängig ist, die sich abwechselnd auf ihn zu richten, ihn zu verlassen und ihn wieder zu erfassen vermag. So tritt die Beziehung des Bewusstseins auf einen von ihm unabhängigen Inhalt heraus, und nichts anderes als diese Unabhängigkeit des Inhalts von der Form, des „Gegenstandes" von der Function meinen wir, wenn wir von einer B e z i e h u n g d e s B e w u s s t s e i n s a u f d a s S e i n reden. Die Kategorie des „Seins" - wie sie in jeder der verschiedenen Arten des Existenzial-Urteils enthalten ist, gleichviel ob sich ein solches auf irgend ein „Dasein" oder ein „absolutes Sein" bezieht -, bedeutet nie etwas [47/48] Anderes als diese Unabhängigkeit, des Bewusstseinsinhaltes von der Bewusstseinsfunction.
Es wäre verlockend genug, die erkenntnisstheoretischen Folgerungen aus diesem Grundsatz zu ziehen; sie eröffnen eine weite historische Perspective: aber an dieser Stelle handelt es sich nur um die Bedeutung, welche das so gefundene Verhältniss von Bewusstsein und Sein für die weitere Ausgestaltung des Kategoriensystems hat. Es ergiebt sich nämlich daraus eine fundamentale Unterscheidung, welche die Gliederung des ganzen Systems in der einfachsten Weise bedingt.
Wenn das Bewusstsein als beziehende Function zu den Inhalten hinzutritt, die unabhängig von ihm „sind", so können die einzelnen Beziehungen oder Verbindungsweisen, die dabei in Kraft treten, entweder als solche gelten, welche den Inhalten schon in ihrem vom Bewusstsein unabhängigen Sein zukommen und somit vom Bewusstsein nur aufgenommen und wiederholt werden, oder als solche, in welche die Inhalte nur deshalb und nur insoweit treten, als sie mit einander durch das beziehende Bewusstsein in eine Verbindung gebracht werden, die ihnen an sich und unabhängig davon nicht zukommt. Im ersten Falle hat die Kategorie g e g e n s t ä n d l i c h e, im zweiten n u r v o r g e s t e l l t e G e l t u n g  1 ); im ersten gehört die darin gedachte Beziehung zu dem „wirklichen" Wesen der Inhalte selbst, im zweiten gewinnen diese ihre Verbindung erst durch und nur für das beziehende Bewusstsein. Denken wir z. B. ein Ding mit einer ihm zugehörigen Eigenschaft (im prädicativen Urteil oder in einem Substanzbegriff), so gilt die dabei tätige Kategorie der Inhärenz zugleich als ein reales Verhältniss der durch das Bewusstsein synthetisch verbundenen Vorstellungsinhalte. Urteilen wir dagegen über die Gleichheit oder Verschiedenheit zweier Eindrücke, so braucht zwischen diesen beiden selbst (wie etwa zwischen Ton und Farbe) auch nicht der geringste reale Zusammenhang zu bestehen; es gehört niemals zu dem an sich wirklichen Sein eines Inhaltes, mit einem andern gleich oder davon verschieden zu sein, und die Kategorie ist somit in diesem Falle ein Verhältniss, in welches die Inhalte erst dadurch geraten, dass sie in demselben Bewusstsein mit einander vorgestellt werden. Dieses Zusammenkommen aber in dem nämlichen Bewusstseinsact liegt nicht

1 ) Absichtlich vermeide ich die durch ihre historische Vieldeutigkeit entwerteten Bezeichnungen „objectiv" und „subjectiv". [48/49]

im Wesen der Inhalte selbst, es ist ihnen zufällig, und insofern wäre für diese zweite Art der kategorialen Beziehungen der Ausdruck „zufällige Ansichten" zutreffend, wenn dieser nicht durch HERBART bereits für eine etwas andere Bedeutung in Anspruch genommen wäre.
In diesem Sinne zerfallen die Kategorien in zwei Hauptgruppen, welche am besten - mit kantischen Terminis - als c o n s t i t u t i v e u n d r e f l e x i v e K a t e g o r i e n bezeichnet werden. Es leuchtet ein, dass diese Unterscheidung mit derjenigen von t r a n s s c e n d e n t a l e r u n d f o r m a l e r L o g i k zusammenfällt. Die constitutiven Kategorien bedeuten diejenigen sachlichen Zusammenhänge, welche das gegenständliche Verhältniss der Vorstellungselemente ausmachen: die reflexiven Beziehungen dagegen betreffen diejenigen Verhältnisse, welche das zusammenfassende Bewusstsein aus den übernommenen Inhalten durch seine combinirende Tätigkeit zu entwickeln vermag.
Hiernach erscheint unter dem Gesichtspunkte der reinen Logik das Verhältniss zwischen der transscendentalen und der formalen Synthesis zunächst derartig, als ob in den reflexiven Kategorien sich eine freie Spontaneität des synthetischen Bewusstseins entfalte, während jede Anwendung der constitutiven Kategorien an die „wirklichen" Beziehungen der gegenständlichen Vorstellungsinhalte gebunden sei. In der Tat ist die empirische Function der constitutiven Kategorien als die Tätigkeit des e r f a h r e n d e n Bewusstseins von den sachlichen Zusammenhängen der „Gegenstände" unweigerlich abhängig: die formale Reflexion dagegen, welche von der Auffassung gegebener „Gegenstände" zur Feststellung der in ihnen enthaltenen inhaltlichen Gemeinsamkeiten fortschreitet, stellt sich als eine Entfaltung der willkürlichen Aufmerksamkeit dar, die mit ihrem Stoffe nach eigenem Interesse schaltet. Beziehungen wie diejenigen der Inhärenz und der Causalität werden in der Erfahrung mit unwillkürlicher Notwendigkeit aufgefasst, während es in weit umfangreicherem Masse dem individuellen Belieben überlassen oder von den besonderen Zwecken der Erkenntniss abhängig ist, welche Inhalte etwa unter den Gesichtspuncten der formalen Logik verglichen, in ihre Bestandteile zerlegt und zu neuen Begriffsbildungen vereinigt werden sollen. So sehr dabei die Ergebnisse von den in den Inhalten gegebenen Voraussetzungen abhängig sind, so frei ist doch die Richtung, in der sich die Reflexion bewegt, während die Anwendung der constitutiven Kategorien einem wahllosen Zwange [49/50] zu unterliegen pflegt.
Es mag jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass diese Seite des Unterschieds wesentlich auf die psychologischen Functionen des i n d i v i d u e l l e n Bewusstseins zutrifft und auch für dieses nur verhältnissmässig gilt, ausserdem aber von dessen Entwicklungsstadium abhängig ist. Auch die reflexiven Associationen vollziehen sich zunächst durchgängig und zum Teil immer mit unwillkürlichem psychischen Mechanismus, und die freie Spontaneität der Reflexion ist erst ein Ergebniss des entwickelten und seines Stoffes Herr gewordenen Seelenlebens. Andrerseits wird die Anwendung der constitutiven Kategorien, die Auffassung der Dinge mit ihren Eigenschaften, Zuständen und gegenseitigen causalen Abhängigkeiten, durch die Erfahrung jedes Einzelnen succesive in dem Grade modificirt, dass das kritische Bewusstsein sich von seiner anfänglichen Unfreiheit emancipiren, den unwillkürlichen Schein der Zusammenhänge corrigiren und sogar in der wissenschaftlichen Erkenntniss zur selbständigen Erzeugung solcher kategorialen Verhältnisse fortschreiten kann.
Angesichts dieser, namentlich entwicklungsgeschichtlichen Flüssigkeit des Gegensatzes erscheint es von vornherein nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern naheliegend, dass das für den ersten psychologischen Befund des Individualbewusstseins zutreffende Verhältniss sich auf dem Standpunkte der Erkenntnisstheorie, d. h. dem des „Bewusstseins überhaupt" geradezu umkehrt: damit wäre die Lehre der Kritik der reinen Vernunft gewonnen, wonach die „productive Einbildungskraft" durch die constitutiven Formen des transscendentalen Bewusstseins die „Gegenstände" der Erfahrung „allererst erzeugt", während die Operationen des formal-logischen Denkens darauf angewiesen und beschränkt sind, die Verwandtschaftsverhältnisse des so Gegebenen in der Reflexion auseinander zu legen.
Diese Gedankengänge können hier nicht weiter verfolgt werden: wie sie gemeint sind, wird leicht zu verstehen sein, wenn die Grundzüge dargelegt werden, wonach sich in den beiden Gruppen, der constitutiven und der reflexiven, die einzelnen Kategorien aus dem allgemeinen Wesen der synthetischen Einheit des Bewusstseins ableiten lassen. Dabei muss von den Kategorien der Reflexion ausgegangen werden, weil in diesen sich das immanente Wesen des Bewusstseins am einfachsten und reinsten darstellt, während die constitutiven Beziehungsformen sämmtlich durch das transscendente Verhältniss zu dem unabhängigen „Sein" der Inhalte modificirt sind. [50/51]
Als die erste und für alle übrigen grundlegende Function des urteilenden und begrifflichen Denkens erweist sich - dem oben erwähnten Grundcharakter der Synthesis gemäss - die U n t e r s c h e i d u n g. Es war nicht ohne Berechtigung, wenn ULRICI in seinen logischen und psychologischen Lehren sie zum Ausgangspunkte machte. Denn damit überhaupt irgend welche Beziehungen zwischen den Inhalten im Urteil oder im Begriff gedacht werden können, müssen diese Inhalte im Bewusstsein gesondert werden und trotz aller Vereinheitlichung gesondert erhalten werden. Eben deshalb ist, wie oben angedeutet, das Unterscheiden diejenige Kategorie, welche in Function bleibt, auch wenn alle übrigen versagen.
Die hauptsächlichste Bedeutung des Unterscheidens entwickelt sich in der Verwandlung der durch den psychologischen Mechanismus erzeugten Vorstellungen in Begriffe - der ersten Leistung des logischen Bewusstseins. Sie besteht darin, dass die in der Vorstellung gegebene Mannigfaltigkeit in ihre Elemente zerlegt, deren Verknüpfung durch die constitutive Kategorie erkannt und sodann diese Synthesis von neuem vollzogen wird. Bei diesem Vorgange wird im individuellen Bewusstsein dasjenige reconstruirt, was sich darin vorher bei der empirischen Aufnahme der Vorstellung unwillkürlich vollzogen hatte, allein diese Reconstruction oder „Verdeutlichung" verläuft nicht, ohne dass dabei durch das von dem Erkenntnisszweck geleitete logische Denken eine Auswahl und zum Theil eine Neuordnung in der gegebenen Mannigfaltigkeit vorgenommen würde. Von hier aus übersieht man am einfachsten, in welcher Weise die in der Arbeit des logischen Denkens erzeugten Begriffe mit den im psychologischen Mechanismus entsprungenen Vorstellungen einerseits übereinstimmen und andererseits sich doch nicht vollständig decken: es wird aber dadurch vor allem klar, dass schon die erste Begriffsbildung eine zweckbestimmte Auswahl aus der gegebenen Mannigfaltigkeit des Vorstellungsstoffs darstellt.
Allein das Unterscheiden findet seine Grenze an dem Inhalt des Gegebenen selbst: den Grenzfall der Unterscheidung bildet die Kategorie der G l e i c h h e i t. Vorstellungsinhalte, welche nur noch an einem einzigen Punkte unterscheidbar sind, heissen gleich. Eine restlose Nichtunterscheidbarkeit würde das synthetische Denken, welches einer Beziehung zwischen g e s o n d e r t e n Inhalten bedarf, aufheben: zwei Inhalte, die durch ein Urteil als gleich gesetzt werden sollen, müssen dabei doch in irgend einer Weise immer noch unterschieden werden. Wo z. B. alle Unterschiede der qua-[51/52]litativen Bestimmtheit aufhören, da müssen diejenigen der Lage im Raum oder in der Zeit eintreten, wenn von einer Gleichheit mehrerer, d. h. von einander unterschiedener Inhalte die Rede sein soll. Hieraus folgt, dass Gleichheit und Verschiedenheit relative Beziehungen sind, deren Geltung von der zwecktätigen Aufmerksamkeit bestimmt wird. Denn das Mass dessen, was an den in Beziehung gesetzten Inhalten verschieden sein darf, um mit Rücksicht auf den ununterscheidbaren Rest das Urteil der Gleichheit zu erlauben, ist lediglich durch den jeweiligen Erkenntnisszweck bestimmt. In der Praxis der statistischen Methoden z. B. werden vielfach solche Fälle als „gleich" betrachtet und behandelt, die von einem anderen Gesichtspunkte, etwa dem psychologischen aus unbedingt als wesentlich verschieden angesehen werden müssen. Wo das Mass des Gleichen dem Unterscheidbaren gegenüber verhältnissmässig gering ist, pflegen wir von A e h n l i c h k e i t zu reden: so stufen sich Gleichsetzen und Unterscheiden in den mannigfaltigsten Verhältnissen mit einander ab.
Aus ihrer Wechselwirkung aber ergeben sich alle weiteren Kategorien der Reflexion. Zunächst folgt daraus die Function des Z ä h l e n s und damit die Kategorie der Z a h l oder der Q u a n t i t ä t; denn alles Zählen ist ein Zusammenfassen von Inhalten, welche von einander unterschieden und dabei doch in irgend einer Hinsicht als gleich angesehen werden. Im Gefolge der Quantität entwickeln sich die Verhältnisse des G r a d e s, des M a s s e s und der G r ö s s e. Alle diese Kategorien mit ihren verschiedenen Auszweigungen, die hier nicht besonders verfolgt werden sollen, stellen sich in den mathematischen Gleichheitsurteilen dar: denn diese bringen, gleichviel ob arithmetisch oder geometrisch, immer nur die Verhältnisse zum Ausdruck, unter denen verschiedene Functionen des Zählens, Rechnens oder Messens das gleiche quantitative Ergebniss haben. Jede derartige Gleichung ist ein Urteil: aber weder die eine noch die andere Seite ist in dem üblichen Sinne des formal-logischen Schematismus Subject oder Prädicat; vielmehr kommt der reciproke Charakter der Beziehung, welche theoretisch das Wesen des Urteils ausmacht, nirgends zu so deutlicher Erscheinung wie hier, wo zwei logisch vollkommen gleichwertige Inhalte in das kategoriale Verhältniss der „Gleichheit" zu einander gesetzt werden.
Jene Wechselwirkung des Unterscheidens und des Gleichsetzens führt aber zweitens zur Bildung des G a t t u n g s b e g r i f f s und damit zu der ganzen Reihe von formal-logischen Operationen, die [52/53] sich um ihn gruppiren. Es bedarf hier keiner näheren Ausführung darüber, dass es stets Urteile über das Mass der Gleichheit und der Verschiedenheit der Begriffsinhalte (und demgemäss auch der Begriffsumfänge) sind, worauf die Functionen der Abstraction und der Determination, der Subordination und der Coordination, der Division und der Disjunction mit allen ihren verschiedenen, in Urteilen oder Begriffsverhältnissen ausgedrückten Varianten ausnahmslos zurückgehen. Nur einige weniger selbstverständliche Gesichtspunkte mögen dabei angedeutet werden.
Zunächst erscheinen bei dieser Ableitung die Formen des mathematischen und des formal-logischen, sog. discursiven Denkens in einem Parallelismus, der in der Geschichte der Philosophie schon oft und in den mannigfachsten Gestalten zu Tage getreten ist: beide wurzeln in der Function der V e r g l e i c h u n g, welche das Unterscheiden und das Gleichsetzen mit einander verbindet; in beiden Richtungen hat das Denken lediglich die Aufgabe, das Mass der Gleichheit und der Verschiedenheit der Bewusstseinsinhalte zum Ausdruck zu bringen; mathematische und formal-logische Gesetzmässigkeit kommen in dem P r i n c i p d e r G l e i c h h e i t überein. Dadurch wird es verständlich, dass die Logik, wenn sie ganz consequent nur als formale Logik und mit der Beschränkung auf die Kategorien der Reflexion behandelt wird, das Denken als eine „Art des Rechnens" betrachten und bei dem sog. logischen Calcül endigen muss: das beweist in der neueren Philosophie die Entwicklung der nominalistischen Logik von HOBBES bis zu HUME und CONDILLAC, und bis zu allen Wunderlichkeiten des „Algorithmus", auf die sie in unserm Jahrhundert verfallen ist.
Zugleich legen sich damit die Fäden klar, welche zwischen einer bloss formalen Logik und einer nominalistischen Erkenntnisstheorie notwendig herüber und hinüber laufen. Wie das Zählen, Rechnen und Messen, so enthält auch das Bilden der Gattungsbegriffe mit allen seinen logischen Consequenzen als bloss formale Operation nicht mehr als eine reflexive Beziehung, d. h. eine solche, worin die Inhalte nur durch und für das Bewusstsein treten. In der Tat giebt es in Folge der Willkür der reflexiven Tätigkeit eine unbegrenzte Möglichkeit der Bildung von Gattungsbegriffen, vermöge deren es formal erlaubt ist, jeden Begriff unter ebensoviele Gattungsbegriffe zu subsumiren, als er Merkmale besitzt und Merkmalverbindungen zulässt, die sich in andern Begriffen wiederfinden; und eine bloss formale Logik besitzt kein Kriterium, wonach über [53/54] den offenbar sehr verschiedenen Erkenntnisswert aller dieser Abstractionen entschieden werden könnte. Das zeigt sich u. a. in sehr charakteristischer Weise an dem Cirkel, in welchen die bloss formale Logik bei ihrer Lehre von den „wesentlichen" Merkmalen der Begriffe zu verfallen pflegt: sie definirt diese als diejenigen, vermöge deren der Begriff seiner übergeordneten Gattung angehört, und lehrt dann, dass die „richtigen" Gattungsbegriffe diejenigen seien, welche aus der Reflexion auf die wesentlichen Merkmale der ihm zu subordinirenden Artbegriffe gebildet sind. Aus diesem Cirkel ist ein Ausweg nur zu finden, indem man von den reflexiven auf die constitutiven Kategorien zurückgreift. Der Inhalt eines Begriffs ist nicht nur eine Summe oder ein Aggregat seiner Merkmale, sondern eine Ordnung von Vorstellungselementen, die durch die constitutive Kategorie bestimmt ist, von dieser hängt der Wert der einzelnen Merkmale für den Bestand des Begriffs ab, und von ihr aus allein ist in einer von der psychologischen Apperception unabhängigen Weise zu beurteilen, welche Merkmale für den Begriff wesentlich sind und welche an ihm verändert werden können, ohne seinen Bestand zu gefährden.
Zu den reflexiven Denkformen, die sich aus dem Gattungsbegriffe entwickeln, gehört endlich auch der ganze Schematismus der S y l l o g i s t i k. Er beruht, wie ihn ARISTOTELES vorgebildet hat, nach dem Princip der Subalternation darauf, dass der Gattungsbegriff für die Gesamtheit seiner Arten und Exemplare „supponirt", und dass deshalb, was von ihm gilt, auch für alles ihm Subordinirte zu gelten hat. Alle einzelnen Operationen, die dabei eintreten, sind zunächst durchweg reflexiven Charakters: sie sind die A r t e n d e s V e r h ä l t n i s s e s v o n G r u n d u n d F o l g e oder die Formen der l o g i s c h e n D e p e n d e n z, vermöge deren die Geltung der Prämissen diejenige des Schlusssatzes nach sich zieht; und sie kommen deshalb alle in dem P r i n c i p d e r C o n s e q u e n z überein, worin der Zwang des normativen Bewusstseins ausgedrückt ist, wegen der ersten Behauptungen auch Weiteres zu behaupten, zu bejahen oder zu verneinen.
Hieraus erhellt, dass die aristotelische Theorie des Syllogismus nur den r e f l e x i v e n o d e r f o r m a l e n T e i l d e r S c h l u s s l e h r e enthält und dass sie einer Ergänzung durch eine t r a n s s c e n d e n t a l e T h e o r i e d e s S c h l u s s e s bedarf, welche auf den Zusammenhängen der constitutiven Kategorien beruhen muss. Das Gefühl der Unzulänglichkeit der Syllogistik oder das Bedürfnis [54/55] nach einer sachlichen Schlusslehre ist bekanntlich nicht neu: positive Anfänge aber zu jener Ergänzung sind noch nicht im systematischen Zusammenhange, sondern nur gelegentlich und einzeln gemacht worden. Dazu gehört die Verwendung der Kategorie der Causalität in der Theorie der Induction; dahin deutet auch die Behandlung des Syllogismus selbst in HEGEL'S Kategorienlehre; in gewissem Sinne sogar schon die Forderung des ARISTOTELES, der Syllogismus solle in dem Mittelbegriff nicht nur den Grund, sondern die reale Ursache der Conclusio enthalten. Denn diese Forderung setzt im Geiste der platonischen Ideenlehre voraus, dass die Abhängigkeit des Besondern vom Allgemeinen nicht nur formale sondern auch sachliche Bedeutung habe, dass sie nicht nur eine reflexive, sondern eine constitutive Kategorie sei.
Den Kategorien der zweiten, transscendentalen Gruppe oder den g e g e n s t ä n d l i c h e n D e n k f o r m e n ist dies gemein, dass die in ihnen gedachte Beziehung der Vorstellungsinhalte mit diesen als seiend „gesetzt" wird; ihnen liegt somit die Beziehung des Bewusstseins auf das Sein als allgemeines Princip zu Grunde. Dabei lassen sich die Richtungen, in welche diese Gruppe sich zerlegt, schon von den Bezeichnungen aus übersehen, die uns für das „Sein" geläufig sind. Wir sprechen von R e a l i t ä t oder von W i r k l i c h k e i t; der eine Ausdruck stammt von „res", der andre vom „Wirken" her; so sind es, wie schon KANT'S Kategorien der „Relation" und die darauf gebauten „Analogien der Erfahrung" zeigen, D i n g h a f t i g k e i t und C a u s a l i t ä t, welche die Grundformen der constitutiven Beziehungen ausmachen.
In der Entwicklung nach KANT ist, insbesondere infolge der dialektischen Zertrümmerung des Ding-an-sich-Begriffes, die Kategorie des Dinges zu Gunsten der Causalität in den Hintergrund gedrängt worden, - ein Irrtum, der in der Psychologie sich ebenso bemerkbar gemacht hat wie in der Logik (bei FICHTE, FRIES, SCHOPENHAUER u. s. w.). Demgegenüber hat schon HUME (allerdings nur im Treatise) die coordinirte Bedeutung beider Kategorien festgestellt. In der Tat bilden sie die beiden Grundformen, worin die r e a l e Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t v o n V o r s t e l l u n g s i n h a l t e n gedacht werden kann. Deshalb aber - und das ist das grosse Ergebniss von KANT'S transscendentaler Analytik - ist ihre sachliche Anwendung für das menschliche Bewusstsein nur in der engsten Verbindung mit der a n s c h a u l i c h e n S y n t h e s i s d e r E m p f i n d u n g e n i n R a u m u n d Z e i t [55/56] möglich. Während die reflexiven Kategorien in der formal-logischen Reihe dieser Beziehung auf die „Sinnlichkeit" entraten können, bedürfen die constitutiven Formen des Denkens zu jedem besonderen Erkenntnissgebrauch einer Anlehnung an die räumlich-zeitliche Anordnung des Gegebenen. Die reciproke Abhängigkeit aber, welche dabei zwischen den Kategorien und den Formen der Anschauung stattfindet, bildet einen Untersuchungsgegenstand der Psychologie und ein Problem der Erkenntnisstheorie.
Für den Zweck der gegenwärtigen Betrachtung handelt es sich nur darum, ob diese beiden Grundkategorien der constitutiven Reihe aus dem Wesen der synthetischen Bewusstseinseinheit ebenso abgeleitet werden können, wie dies bei der reflexiven Gruppe gelang. In der Tat erscheint dies möglich, wenn man wiederum von der Wechselwirkung des Unterscheidens und des Gleichsetzens ausgeht und damit stetig die Beziehung des Bewusstseins auf das „Sein" combinirt.
Sobald das Bewusstsein eine Mehrheit gleich befundener Inhalte trotz ihrer (zeitlichen) Unterscheidung auf eine gegenständliche Einheit bezieht und als solche „setzt", geht die Vorstellung der Gleichheit in diejenige der (seienden) I d e n t i t ä t über: und indem andrerseits das Unterschiedene in einen realen zeitlichen Zusammenhang gebracht wird, entwickelt sich die Kategorie der V e r ä n d e r u n g (das platonische t a u t o n und J a t e r o n ). Dabei zeigt sich die Correlativität des Gleichsetzens und des Unterscheidens auf dieser constitutiven Stufe darin, dass jede Identität nur in Bezug auf eine Veränderung und jede Veränderung nur in Bezug auf eine Identität gedacht werden kann. Daraus folgt, dass gegenüber dem zeitlichen Wechsel der Vorstellungen, welcher die allgemeine Grundtatsache des Bewusstseins bildet, eine reale Einheit und gegenständliche Zusammengehörigkeit des Mannigfaltigen, wie sie in den constitutiven Kategorien gedacht werden soll, nur so vollzogen werden kann, dass die Verknüpfung der Elemente entweder als b e h a r r l i c h e I d e n t i t ä t oder als n o t w e n d i g e S u c c e s s i o n vorgestellt wird. Der Begriff aber einer seienden und dauernden Zusammengehörigkeit von Vorstellungsinhalten ist derjenige des D i n g e s, der Begriff einer in ihrer Zeitreihe notwendig bestimmten Zusammengehörigkeit von Momenten ist der des G e s c h e h e n s (Werdens).
Im Dingbegriff entwickelt sich die Kategorie der I n h ä r e n z als das Verhältniss der Elemente zu der sie verknüpfenden Einheit. [56/57] Diese Elemente bilden die E i g e n s c h a f t e n des Dinges (Kategorie der Qualität): aber sie erweisen sich in Bezug auf die Identität des Dinges als verschiedenwertig und gliedern sich danach unter Hinzutritt der Kategorie der Veränderung in A t t r i b u t e, M o d i und Z u s t ä n d e. Die empirische Relativität dieser Unterscheidungen führt zu dem Postulat des absoluten Dinges in dem wissenschaftlichen Begriffe der S u b s t a n z und dem erkenntnisstheoretischen Grenzbegriffe des D i n g e s - a n - s i c h. Dagegen ist es eine künstliche Entartung der Kategorie der Dinghaftigkeit wenn HERBART in seinen „Realen" den Begriff von Dingen mit absolut einfacher Qualität verlangte: die Begründung, die er dafür versuchte, ist eine typische und lehrreiche Verwechslung der constitutiven mit den reflexiven Kategorien. Eine seiende Einheit des Mannigfaltigen bleibt für den Begriff des Dinges unerlässlich.
Der Begriff des Geschehens, welcher den Doppelvorgang des V e r g e h e n s und des E n t s t e h e n s in sich enthält, gliedert sich seinerseits durch die verschiedene Beziehung der darin zu verknüpfenden Zustände auf die in deren Wechsel beharrenden Dinge. Je nachdem es sich um das Notwendigkeitsverhältniss der Zustände e i n e s Dinges oder mehrerer Dinge handelt, erscheint das Geschehen als i m m a n e n t oder als t r a n s i e n t. Begriffe wie E n t w i c k l u n g und W i r k e n, K r a f t und V e r m ö g e n etc. entspringen auf diese Weise. Die Bestimmtheit der zeitlichen Reihenfolge aber, in der die reale Zusammengehörigkeit der Zustände zum Ausdruck gelangt, wird entweder so gedacht, dass der vorhergehende Zustand den nachfolgenden oder so, dass umgekehrt der nachfolgende den vorhergehenden „zum Dasein in der Zeit bestimmt": im ersteren Falle handelt es sich um die c a u s a l e, im zweiten um die t e l e o l o g i s c h e D e p e n d e n z.
Die Identität endlich, ohne die eine reale Zusammengehörigkeit des Veränderlichen nicht gedacht werden kann, liegt für beide Fälle (wie es in KANT'S Theorie der Causalität erkannt ist) wesentlich, in der B e s t i m m t h e i t d e r Z e i t f o l g e d u r c h e i n e a l l g e m e i n e R e g e l. Daher ist in jedem Prozesse des Geschehens eine doppelte Abhängigkeit zu beachten: einerseits die (sei es causale sei es teleologische) Dependenz des einen Zustandes von dem andern, andrerseits die Dependenz dieses besonderen Verhältnisses von einer allgemeinen Regel. Hier haben wir in logischer Form SPINOZA'S Lehre von der endlichen und der unendlichen Causalität. Das Entscheidende aber ist, dass darin jene A b h ä n g i g k e i t d e s B e-[57/58]s o n d e r e n v o m A l l g e m e i n e n, welche zunächst in der reflexiven Reihe der Kategorien sich als ein Princip der Consequenz darstellte, hier sich als eine constitutive Beziehung enthüllt. Diese reale Bedeutung der logischen Dependenz denken wir im Begriffe des G e s e t z e s.
Diese kurzen Andeutungen mögen genügen, um den stetigen Zusammenhang zwischen beiden Reihen der Kategorien zu bezeichnen. Alles wirkliche Denken zeigt ein lebendiges Ineinander von reflexiven und constitutiven Functionen: und dieses ist eben darin begründet, dass sie beide aus derselben Quelle stammen - aus der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen im Bewusstsein.



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