DIE PHILOSOPHIE IM DEUTSCHEN GEISTESLEBEN


DES 19. JAHRHUNDERTS


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DIE PHILOSOPHIE



IM DEUTSCHEN GEISTESLEBEN



DES XIX. JAHRHUNDERTS.




FÜNF VORLESUNGEN



VON



WILHELM WINDELBAND.















TÜBINGEN

VERLAG VON J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK)

1909.


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Published March 30, 1909.

Privilege of copyright in the United States reserved under the

Act approved March 3, 1905 by J. C. B. Mohr (Paul Siebeck),

Tübingen.




Alle Rechte, einschliesslich des Uebersetzungsrechts, vorbehalten.




Druck von H. L a u p p jr in Tübingen.


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Vorwort.





Diese Vorlesungen sind vor einem Jahre am Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt a. M. gehalten, und dessen Jahrbuch bringt einen gedrängten Auszug aus ihrem Inhalt. Wenn ich daneben auch diese vollständige Niederschrift, der ich die Form der Vorlesung durchgängig zu wahren bemüht war, der Oeffentlichkeit übergebe, so geschieht es aus dem Wunsche und in der Hoffnung, damit zur Klärung der Vorstellungen über das Wesen der Philosophie und ihre verantwortungsvolle Aufgabe im heutigen Leben unseres Volkes auch in weiteren Kreisen beizutragen.

Heidelberg, im März 1909.
Wilhelm Windelband.


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Inhaltsverzeichnis.





Seite

I.Das ästhetisch-philosophische Bildungssystem1

II.Romantik und Hegelianismus26

III. Irrationalismus, Materialismus, Pessimismus50

IV.Positivismus, Historismus, Psychologismus72

V.Die neuen Wertprobleme und die Rückkehr zum Idealismus96

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I. Das ästhetisch-philosophische Bildungssystem.



Vielfach hört man und liest man in unsern Tagen von dem Neuerwachen der geistigen Mächte, die vor einem Jahrhundert geherrscht haben. In Dichtung und Kunst redet alle Welt von der neuen Romantik, die Literatur über die alte wächst von Tag zu Tag mit immer neuen Darstellungen und Ausmalungen, und die ganz Neuen wandeln symbolistisch, ironisch, phantastisch in den Bahnen der Alten. Wie in der allgemeinen Literatur, so zeigt sich dieselbe Erscheinung auch in der Philosophie. Aus der Rückkehr zu Kant, die Jahrzehnte lang das Stichwort war, scheint allmählich eine Rückkehr zu Fichte, zu Schelling und zu Hegel geworden zu sein oder werden zu wollen. Auch ihre Werke, die so lange verschmäht und vergessen waren, werden zunächst in der Auswahl wieder herausgegeben, und eine Fülle von Sonderschriften beschäftigt sich mit ihnen. Was aber allen diesen symptomatischen Vorgängen als das Innerste zu Grunde liegt - uns umfängt wieder gesteigertes Personenleben, und dies hat das wachsende Bedürfnis, an den grossen Vorbildern jener Zeit sich heraufzuranken. [1/2]
Allein es ist unmöglich, jenes Vorbild, wie es manche möchten, wieder ganz so lebendig zu machen, wie es dereinst leuchtende Wirklichkeit höchster Kultur gewesen ist. Wir können es nicht, und wir wollen es nicht. Wir dürfen nicht Kantianer sein wollen in dem Sinne, als sollte unsere Philosophie auf den gegebenen Bestand der Lehren und wohl gar auf die buchstäbliche Darstellung des grossen Meisters dogmatisch zurückgeschraubt werden. Wo das versucht wird - und es geschieht ja wohl -, da spinnt man sich in unfruchtbare Einsamkeit, in Einseitigkeit und Verschlossenheit. Denn jedes philosophische System atmet in Geist und Buchstab[!] das Leben seiner Zeit und kann nicht mit starrer Unverändertheit einem neuen Geschlecht aufgezwungen werden. So dürfen wir auch nicht Fichtianer, Schellingianer oder Hegelianer in dem Sinne sein wollen, als ob wir die Dialektik jener Tage mit Haut und Haaren wieder galvanisieren wollten. Die jüngsten Hegelinge, die jenen merkwürdigen Dialekt der romantischen Philosophie wieder mit Virtuosität zu reden anfangen, werden dazu verurteilt sein, unverstandene Konventikel zu bilden, wenn sie es nicht vermögen, diese Schale zu sprengen und den urlebendigen Ideengehalt mit den geistigen Bedürfnissen unserer Zeit in fruchtbaren Zusammenhang zu bringen. Und noch mehr gilt das von der Dichtung und von der Kunst. Sie, die in unmittelbarer Berührung mit dem Leben stehen, um es zu gestalten, zu vertiefen und zu er-[2/3]höhen, können nur die Bewegung und die Richtung aus der Ueberlieferung aufnehmen, um sie den neuen Lebensinhalten und den Aufgaben der Gegenwart anzupassen.
Wir können das Alte nicht unverändert aufnehmen, denn wir selbst sind andere geworden. Ein Jahrhundert liegt dazwischen von reichster Lebendigkeit, von tief in das Innerste des Lebens greifenden Geschicken. Solche Erlebnisse können nicht verloren sein, sie drängen mit ihrem unsagbaren Reichtum an bedeutsamen Inhalten in aller Kunst, in Musik, in Dichtung und bildender Kunst mit elementarer Gewalt zu ihrer Formung: und die Philosophie hat den grossen Errungenschaften gerecht zu werden, die inzwischen in Naturforschung und Kulturforschung erworben worden sind. Durch beides, durch Leben und Wissen, sind wir andere geworden: wie wir das geworden sind, das soll in diesen Vorlesungen behandelt werden.
Eine derartige Aufgabe scheint zu ihrer Lösung auf eine weithin verstreute Kenntnis der geschichtlichen Bewegungen angewiesen zu sein und die Betätigung unseres Volks auf allen seinen Lebensgebieten in den Kreis der Betrachtung hineinziehen zu müssen. Wenn der Historiker der geistigen Entwicklung sich an einen solchen Versuch heranwagt und sich dafür berufen halten will, so ist das damit berechtigt, dass die Theorien, die ihn in erster Linie beschäftigen, in letzter Instanz doch nur der Spiegel des Lebens sind, weil in ihnen zu einfacherer [3/4] Gestalt abgeklärt ist, was mit bunten, sich kreuzenden und sich verdunkelnden Formen im Leben streitet. Gerade darin dürfen wir zu allen Zeiten die vornehmste Aufgabe der Philosophie sehen, dass sie das Selbstbewusstsein des in der Entwicklung begriffenen Kulturlebens bildet. Sie tut das indirekt und unwillkürlich, unbewusst und halbbewusst auch da, wo der Denker lediglich seinem individuellen Erkenntnistriebe, seinen von allen Bedürfnissen der Umwelt möglichst freien Motiven der intellektuellen Befriedigung zu folgen scheint und meint. Eben deshalb steckt die Bedeutsamkeit philosophischer Systeme letzthin nicht in den vergänglichen Formeln ihrer Begriffe, sondern in den Lebensinhalten, die darin ihre Klärung suchen. Mag sich auch mit seiner fortschreitenden Ausgestaltung das Kulturleben noch so sehr differenzieren, mögen die grossen Formen des Lebens noch so sehr zu den Sondergestalten religiösen, wissenschaftlichen, politischen, sozialen Daseins sich auseinanderlegen, so bleibt doch zwischen ihnen immer die intime Lebenseinheit bestehen, die das Gemeinsame und zugleich das Wesentliche für alle ausmacht. So haben wir auch hier bei dem Blick auf den Entwicklungsgang, den unser Volk im 19. Jahrhundert durchgemacht hat, überall die Theorien als den Niederschlag des Lebens zu betrachten, und das ist umsomehr nicht nur erlaubt, sondern auch geboten, als es eine der Kernfragen dieser Entwicklung selbst ist, welches die Beziehung der Theorie zum Leben, welches der [4/5] Lebenswert der Theorie ist. Es ist eine der bedeutsamsten, wenn nicht geradezu der entscheidende und charakteristische Zug für die deutsche Geschichte, wie darin die Wertschätzung des Intellektuellen ein wechselndes Geschick erfahren hat. Wir sind zwischen Ueberschätzung und Unterschätzung der Theorie hin und her geworfen worden, und ein Blick auf die heiss umstrittenen Probleme des heutigen Tages zeigt uns, dass wir noch immer dabei sind, die rechte Mitte zwischen solchen Extremen zu suchen.
Wenn wir, um diese Wandlung und ihre Zuspitzung auf ein solches zentrales Problem zu verstehen, unsern Blick zunächst um hundert Jahre zurücklenken, auf den Beginn des 19. Jahrhunderts, so überkommt uns ein starkes Gefühl der Beschämung. Je geschäftiger die Forschung unserer Tage die Züge des Lebens jener Zeit in Briefen, Tagebüchern und Urkunden aufstöbert, um so einfacher und schlichter erscheint, gegenüber dem aufgeregten Treiben von heute, das Bild der Zustände, aus denen heraus unsere Vorfahren so unglaublich Grosses geschaffen haben. Wie bescheiden die Ansprüche an die Lebensführung, wie eng die Lebenskreise, wie ruhig und friedlich das Tempo des Lebenslaufs! Und dem gegenüber wie unendlich reich, wie gewaltig der innere Lebensgehalt dieser Epoche! In einem fast ärmlichen Aussenleben hat sich die grösste Entwicklung der deutschen Kulturgeschichte abgespielt: ihre höchsten Leistungen brechen aus [5/6] einem Stillstand und Tiefstand des äusseren Daseins mit um so eindrucksvollerer Wucht hervor.
Das ist ein nicht oft und nicht stark genug zu betonender Zug unserer Geschichte, worin vielleicht am bezeichnendsten die Eigenart unseres nationalen Wesens zum Ausdruck gekommen ist. Diese Tatsache bildet zugleich eine der wichtigsten Gegeninstanzen gegen alle Versuche der heutigen historischen Mode, die darauf ausgehen, geschichtliche Prozesse auf allgemeine Gesetze zurückzuführen oder gar daraus erklären zu wollen. Ueberall sonst sind die Blüten und die Früchte der Kultur am Baume der Macht gewachsen. Ein Blick auf das Athen des Perikles, auf das Rom des Augustus, auf das Florenz der Medicäer, auf das England der Elisabeth, auf das Frankreich Ludwigs XIV. lässt das erkennen. Aber bei uns war die geistige Kultur erst der Nährboden, aus dem das Reis der äusseren Macht plötzlich mit überraschender Lebenskraft aufgeschossen ist.
Denn das Charakteristische in den Zuständen, von denen uns heute ein Jahrhundert trennt, war gerade der Mangel eines öffentlichen Lebens. Es sind die uns allen bekannten Verhältnisse in jenen Kleinstaaten der historischen Zufälligkeit, zu denen der Einzelne sich nur als Untertan verhielt, zu denen er kein inneres Verhältnis hatte und haben konnte, - jene Kleinstaaten, von denen das Individuum nur verlangte, dass sie ihm Leben und Eigentum schützten und dass sie es im übrigen in [6/7] Frieden liessen, - in Frieden liessen auch mit ihrem wohlwollenden und väterlichen Wohlfahrtsdespotismus. Ueber diese Staatsgebilde haben in der Theorie Wilhelm von Humboldt und Fichte das harte, aber gerechte Urteil gesprochen. Und dabei war doch nach dem entsetzlichen Unheil des 30jährigen Krieges schon wieder eine gewisse soziale Erholung, eine wirtschaftliche Wiedergeburt mit der Sicherung der privaten Existenz und mit einem leidlichen Mass von Wohlstand und Behagen entstanden. Freilich hatte daran die staatliche Macht nur ein indirektes, vielfach nur ein negatives Verdienst: und das äussere Leben war lange noch nicht so weit gediehen, dass es ein inneres Interesse und eine gesteigerte Kulturarbeit der Einzelnen für sich hätte in Anspruch nehmen können. Nur in der Oberschicht des Bürgertums und des Adels war es soweit gekommen, dass die Lebenskräfte vom Zwange der Not frei zu werden anfingen: und da ihre Tätigkeit am öffentlichen Leben keinen Gegenstand und keinen Tummelplatz freier Entfaltung hatte, so wendete sie sich mit ihrer ganzen Intensität nach innen. Damit brach auch in Deutschland die Zeit herein, in der das Individuum wesentlich mit sich selbst und seinen geistigen Interessen beschäftigt war, die Zeit der Briefe und der Tagebücher, der sentimentalen Selbstbespiegelung und der geistigen Lebensgemeinschaft in Liebe und Freundschaft.
Auf diese Weise sind Dichtung und Philosophie in der Hauptsache die einzigen gemeinsamen Lebens-[7/8]interessen des deutschen Volkes jener Zeit geworden. Ihre Verbindung erwuchs aus jener Beschäftigung des Menschen mit sich selbst, die in der Sentimentalität das Gepräge des individuellen und des sozialen Lebens ausmachte und in Kunst und Wissenschaft ihre gegenständliche Gestaltung suchte. Die beiden geistigen Mächte konvergieren im Laufe des 18. Jahrhunderts aufeinander, man kann geradezu sagen, sie suchen sich gegenseitig, und sie finden sich zu einer Gemeinschaft, wie sie niemals mit ähnlicher Intensität und Intimität vorhanden gewesen ist. So ist es gekommen, dass alles, was in der geistigen Arbeit des 18. Jahrhunderts von den Engländern und den Franzosen begonnen war, sich in Deutschland vollendete, und so entstand das ästhetisch-philosophische Bildungssystem, das die letzten Jahrzehnte des 18. und die ersten des 19. Jahrhunderts in Deutschland geistig bestimmt hat. Es umfasst die grosse Entwicklung, die von Klopstock und Lessing bis zu den Ausgängen Goethes und Hegels führt, intellektuell die grösste Zeit des deutschen, wir dürfen vielleicht sagen, des europäischen Kulturlebens, eine Zeit hoher geistiger Reife und Freiheit. Das Vertrauen in sich selbst und die innere Sicherheit, die das Vernunftleben in der gewaltigen Entwicklung der Aufklärungsliteratur gewonnen hatte, verband sich nun, um aus aller Einseitigkeit, in die es sich wohl gelegentlich verstrickt hatte, sich siegreich herauszuarbeiten, mit einer umfassenden historischen Entfaltung, worin es den gan-[8/9]zen Gedankenreichtum der geschichtlichen Menschheit in sich zu leuchtender Einheit zusammenzufassen berufen war. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, das Zeitalter Goethes und Kants zu preisen oder zu schildern: wir haben nur die Züge davon ins Auge zu fassen, die für unsere Betrachtung bedeutsam und wesentlich sind, die Momente, die in diesem dichterisch und philosophisch gesteigerten Gesamtleben die entscheidenden Ansatzpunkte für die darauf folgende Bewegung gebildet haben. Wir müssen versuchen, die Gegensätze zu formulieren, deren Widerspiel die innere Lebendigkeit jenes Bildungssystemes selbst ausgemacht und andererseits es in sich selber entzweit und aufgelöst haben.
Dabei ist nun wohl das Bedeutsamste darin zu sehen, wie jene Beschäftigung des gebildeten Menschen mit sich selbst sich nach zwei gegensätzlichen Richtungen entwickelt hat, die wir als universalistisch und individualistisch bezeichnen können. Das Interesse des gebildeten Menschen der Aufklärung haftet entweder an den Problemen des persönlichen Einzellebens oder an den idealen Aufgaben der menschlichen Gattung: es ist der einzelne Mensch oder die gesamte Menschheit, worauf sich das poetische wie das philosophische Leben konzentriert, das Allgemeinste auf der einen und das Besonderste auf der andern Seite. Für die Zwischengebilde, und gerade das sind eben die Gebilde des öffentlichen Lebens, fehlt der Aufklärung der Sinn und das Verständnis. Das ewig Gleiche im Wesen der Gattung [9/10] und im Geschick des Einzelnen gilt der Aufklärung zugleich als das Natürliche und als das Vernünftige: alles Geschichtliche dagegen erscheint in seinem Wechsel und in seiner Vergänglichkeit als ein gleichgültiges oder gar als ein feindliches, das der Entfaltung des wahren, natürlichen und vernünftigen Wesens im Wege steht. Darin vor allem besteht die unhistorische Denkart, die man von jeher der Aufklärung nachgesagt hat. Bei dieser Sachlage aber ist es wohlbegreiflich, dass sich alle Leidenschaftlichkeit des Interesses auf das Individuelle richtete. Dem Ganzen, der Gattung, wendete sich leicht eine rein intellektuelle Betrachtung, eine Auffassung aus der Distanz, zu: das gesteigerte Interesse dagegen haftete an der persönlichen Gestaltung des Lebens und an allem, worin sie sich entfalten konnte.
Von hier aus übersehen wir am besten die Richtungslinien, in denen sich das ästhetisch-philosophische Bildungssystem entwickelt hat. Denn es setzt die geistigen Bewegungen des 18. Jahrhunderts, die herrlichen und unvergänglichen Leistungen der Aufklärung als seine letzten Gründe voraus und hat an ihren Gegensätzen sein eigenstes Problem. In dem ganzen geistigen Leben des 18. Jahrhunderts aber können wir zwei Strömungen unterscheiden, die mit grösster Mannigfaltigkeit und mit den feinsten Abstufungen ihrer Vermittlung neben einander herliefen. Den Namen der Aufklärung hat das Zeitalter von der mächtigen Oberströmung erhalten, [10/11] die am meisten am Tage liegt und deren sich die führenden Geister der Zeit mit voller Deutlichkeit und Gewissenhaftigkeit bewusst waren. Das ist die Verstandesbildung, die mit den Bedürfnissen der Klarheit und Deutlichkeit die Welt zu erkennen und das Leben zu gestalten suchte. Sie war gross gezogen durch die Errungenschaften der neuen Wissenschaft seit dem Beginn der Renaissance. Ihr schwebte die Mathematik als das Ideal abstrakter, aber dabei exakter Erkenntnis vor. Sie glaubte mit derselben Klarheit und Deutlichkeit die gesamte Wirklichkeit durchdringen und überall die einfachen Elemente herausstellen zu können. Frei von aller Voreingenommenheit, unabhängig von aller Autorität und Tradition wollte das vernünftige Denken jeden Rest von Unklarheit und Verworrenheit aus dem Leben, wie aus dem Wissen austilgen. Diese ganze intellektuelle Richtung war aus der Naturforschung des 17. Jahrhunderts hervorgegangen und durch ihre Erkenntnisart, durch ihre Erkenntnisziele bestimmt. Sie richtete sich auf das Verständnis der ewigen Gesetzmässigkeit aller Dinge, auf die strenge Notwendigkeit alles Geschehens, auf das Gleiche, auf das immer sich Wiederholende im Zusammenhange der Natur. Diesem grossen Zusammenhange sollte auch das Menschenleben eingeordnet werden; es sollte als ein Glied des Universums aus dieser Gesetzmässigkeit heraus begriffen und geordnet werden. Denn weil eben deshalb das Natürliche auch als das Vernünftige galt, weil die [11/12] Gesetze des Wertes zuletzt keine anderen sein sollten, als die des Seins, so musste das aufgeklärte Bewusstsein das Wirkliche nicht nur bis auf den letzten Rest mit seiner klaren Erkenntnis durchdringen, um alles zu begreifen, alles zu beweisen, sondern auch das Leben ebenfalls bis auf den letzten Rest aus seiner Vernunft heraus gestalten. Das waren die Ideale des Rationalismus, theoretisch und praktisch zugleich, erfüllt von dem Prinzip der Identität des Natürlichen und des Vernünftigen.
Aber daneben können wir nun überall in dieser Zeit der Unterströmung lauschen, die stiller und leiser, im Anfang namentlich verdeckter, aber doch von Anfang an mit verhaltener Leidenschaftlichkeit neben dem Rationalismus einherläuft. Sie entquillt dem Gefühl, dass das Einzelste, dass namentlich der einzelne Mensch sich nicht aus dem Allgemeinen ableiten, nicht restlos ans ihm verstehen lässt, dass »die Summe unserer Existenz, durch Vernunft dividiert, nie ohne Rest aufgeht«, dass vielmehr immer in aller Wirklichkeit und vor allem in der persönlichen Existenz ein Undurchdringliches bleibt. Das ist die Grenze, vor der der beweisende, der begreifende Verstand stille stehen muss. Dies Eigenste ist nur zu fühlen, zu erleben. Und gerade aus diesem Grunde erscheint nun dieser irrationale Rest des Individuellen recht eigentlich als das Natürliche, als das unbefangen Gegebene, im Unterschiede von Allem, was der Verstand ausklügeln, was er begreifen und zustande bringen, was er erkennen und [12/13] erzeugen kann. Im Namen dieser Natürlichkeit protestiert das Gefühl der Individualität und der persönlichen Freiheit gegen allen Regelzwang des Verstandes, gegen alle Herrschaft des Allgemeinen, des Gesetzes und der begrifflich formulierbaren Norm. Und so nehmen beide Richtungen, der Irrationalismus ebenso wie der Rationalismus, die Natur und das Natürliche als ihr Recht für sich in Anspruch und als ihr Ideal in Aussicht.
In der allgemeinen europäischen Literatur ist der Gegensatz und, das Verhältnis beider Richtungen durch die typischen Persönlichkeiten von Voltaire und Rousseau vielleicht am deutlichsten bezeichnet: bei dem ersteren die glänzende Macht des Verstandes, der mit souveräner Freiheit kritisch und zersetzend um alle Vorstellungen des traditionellen Glaubens spielt und dabei doch von einer siegreichen Ueberzeugung in der Vertretung der natürlichen Moral und der Gerechtigkeit getragen ist, - bei dem anderen die elementare Gewalt des Gefühls, welche das Recht des Herzens gegen solche Kritik des Verstandes ebenso wie gegen die Willkür des Dogmas verteidigt. In dem engeren Kreise von Deutschlands schöner Literatur erkennen wir den Rationalismus in der Regelrechtigkeit der liniengeraden Dichtung, wie sie der Wolffianer Gottsched verlangte, oder in der dünnen Seichtigkeit der Popularphilosophie, den Irrationalismus dagegen in der leidenschaftlichen Bewegung von Sturm und Drang, in der Periode der Genialität und der »erregten [13/14] Trotznatur«, die im Gegensatz gegen jene beiden Richtungen das Urrecht der dunklen Individualität geltend machte.
Diese Gegensätze und Beziehungen sind allgemein bekannt: aber es ist weniger beachtet worden, dass die grosse Entwicklung unseres ästhetisch-philosophischen Bildungssystems gerade aus diesen Verhältnissen heraus nach ihren innersten Motiven zu begreifen ist. Die Vereinbarung der Gegensätze, die dabei gewonnen worden ist, lag ja ihrer ideellen Möglichkeit nach keimartig schon in dem grossen System, mit welchem die eigentlich deutsche Philosophie begonnen hat, und welches, in zahllose Anregungen zerstreut, das intellektuelle Leben Deutschlands während des ganzen 18. Jahrhunderts in verschiedenen und zum Teil weit auseinandergehenden Richtungen bestimmt hatte. In der Leibnizschen Monadologie war die Betonung des dunklen, halbbewussten und unbewussten Lebensgrundes der Seele ebenso bedeutsam gewesen, wie das Prinzip, nach welchem die Entwicklung der Monade in der Klärung der Vorstellungen und der Triebe, in ihrer Emporhebung zum deutlichen Vernunftleben gefunden wurde. Auf Leibniz hatten sich daher beide Teile gleichmässig berufen dürfen: die Aufklärer einerseits, die in Wolff den wahren Fortsetzer und Vollender der Lehre des Meisters sahen und mit ihm das Denken wie das Leben zugleich verstandessicher und nützlich machen wollten, - die Genies andererseits, indem sie für das freie Spiel der Phantasie [14/15] und für die Entladung elementarer Leidenschaft das ursprüngliche Recht der Individualität in Anspruch nahmen. Dort fand man das Natürliche in den klar erkannten, immer sich selbst gleichen und für alles Leben geltenden Gesetzen der Wirklichkeit, hier in dem geheimnisvollen Ursein der Persönlichkeit. In beiden Fällen aber wurde das geschichtliche Dasein als eine unnatürliche Verderbnis und als ein zu durchbrechendes Hemmnis auf dem Wege zu dem neuen Leben betrachtet, das man suchte.
Als dieses neue Leben nun wirklich mit aller seiner Fülle hereinbrach, da waren jene Gegensätze des Rationalismus und des Irrationalismus so weit auseinander getreten, dass sie in der klassischen Zeit ihre bewusste und höhere Vereinigung finden sollten. Wenn dieses als die gemeinsame Aufgabe der Kunst und der Wissenschaft jener Tage angesehen werden muss, so löste sie die klassische Philosophie durch die genaueste Sonderung, die klassische Dichtung durch die innigste Vereinigung der Gegensätze. Damit verstehen wir vielleicht am besten das Verhältnis zwischen den beiden königlichen Geistern, um welche sich das ästhetisch-philosophische Bildungssystem von Anfang bis zu Ende bewegt und gestaltet hat, das Verhältnis von Kant und Goethe.
Die kritische Philosophie, die wir nach Kant nennen, lässt sich mit der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer Aufgaben und ihrer Ergebnisse doch auf die einfache Formel bringen, dass es sich bei ihr darum handelte, im ganzen Umkreise des menschlichen [15/16] Geisteslebens überall genau den Punkt zu bezeichnen, wo das rational Begreifliche aufhört und das Recht des Irrationalen beginnt. In dem theoretischen Teil des Kritizismus, in seiner Erkenntnistheorie, ist dieses recht eigentlich der Sinn des so viel umstrittenen Begriffes vom Ding an sich und der Grund, weshalb ein so schillernder, so vieldeutiger und so anfechtbarer Begriff wie dieser für eine grosse und bedeutsame Entwicklung den Anhaltspunkt wie den Ausgangspunkt hat bilden können. Kants persönliches Interesse an der Kritik der Erkenntnis lag durchaus in der Vorstellungsweise der Aufklärung, wonach die mathematische Theorie der Naturwissenschaft, die Newtonsche Naturphilosophie[,] den idealen Typus alles wahren wissenschaftlichen Erkennens darstellen sollte. Nur sie erkannte er als eigentliche und wahre Wissenschaft an, und ihre Begründung war das Ziel, das er im Wechsel seiner erkenntnistheoretischen Ansichten mit immer gleicher Sicherheit verfolgt und schliesslich erreicht hat. Aber er fand, dass diese mathematische Theorie auf die allgemeine Form der Erfahrung, auf die Grundstruktur der Gesetzmässigkeit der Natur beschränkt sein müsse. Irrational dagegen blieb der Inhalt, der als das Gegebene der Empfindung in den apriorischen Formen der Anschauungen und der Begriffe zum Gegenstande gestaltet und der Herrschaft der Grundsätze unterworfen werden konnte. Irrational blieb deshalb auch dies Verhältnis von Inhalt und Form der Erfahrung, und unmöglich schien es, aus jenen [16/17] allgemeinen Formen die besonderen Arten der Naturgesetzmässigkeit rational abzuleiten: so viel sich Kant mühte, diese »Spezifikation der Natur« zu begreifen, so sehr musste er in der Kritik der Urteilskraft anerkennen, dass sie für die theoretische Vernunft ein undurchdringliches Geheimnis bleibe und eben deshalb nur im Sinne einer auf die Zweckmässigkeit gerichteten Betrachtung als notwendig gelten dürfe. In demselben Sinne behandelte er das Leben als den Grenzbegriff der rationalen Erkenntnis von der kausalen Gesetzmässigkeit der Natur, und so steckte ihm überall in dem Inhalt der Erfahrung, deren Form mit so leuchtender Klarheit vor dem Verstande zu liegen schien, die Hindeutung auf die irrationale, für die Vernunft nicht mehr gegebene, sondern nur aufgegebene Realität des Ding an sich.
Völlig analog liegen die Verhältnisse in Kants ethischer Philosophie. Auch hier geht er von dem Bedürfnis aus, das sittliche Leben so weit wie nur irgend möglich zu rationalisieren. Er scheidet alle supranaturalen Motive aus der Begründung der Moral ebenso aus, wie die in der empirischen Wirklichkeit der menschlichen Natur und des Lebens enthaltenen. Er will das Sittengesetz lediglich als das Vernunftgesetz betrachten, und er erkennt den ethischen Wert von Gesinnungen und Handlungen nur soweit an, als sie mit Maximen übereinstimmen, die in ihrer formalen Gesetzmässigkeit für alle vernünftigen Wesen gleichmässig gelten. Selbst die [17/18] Freiheit, die den Grundbegriff seiner ethischen Weltanschauung bildet, wird nur als die autonome Fähigkeit der Person bestimmt, ihren Willen durch kein anderes Motiv als durch das selbstgegebene Gesetz zu bestimmen. Allein aus dem kategorischen Imperativ, aus diesem Prinzip der Maximenhaftigkeit, dessen Inhalt eben nur die Gesetzmässigkeit ist, liess sich der besondere Inhalt der sittlichen Wertbestimmungen nur auf einem Umwege ableiten, indem die Würde der Persönlichkeit als der höchste im Sittengesetz selbst begründete Wert eingeschoben wurde. Indessen blieb auch dieser Begriff der Persönlichkeit, der so stark und wirkungsvoll betont wurde, schliesslich in der allgemeinen Vorstellung der Autonomie hängen, und die individuelle Persönlichkeit in ihrer urlebendigen Eigenart blieb als ein Irrationales und Unbegreifliches übrig, sie musste aus der erkennbaren Welt der Erfahrung in das metaphysische Reich des Ding an sich, des Uebersinnlichen und des Unerkennbaren versetzt werden. Nur auf dem ästhetischen Gebiete schien es, als sollte diese unbegreifliche und aus dem Laufe der natürlichen Gesetzmässigkeit nicht erklärliche Eigenart, mit der die Persönlichkeit in ihrem unerforschlichen schöpferischen Wirken sich darstellt, in dem Begriffe des Genies ihre Anerkennung finden.
So vollzog sich in der Kantischen Philosophie die Verbindung des Rationalen und des Irrationalen durch ihre reinliche Scheidung und ihre scharfe Trennung im Begriff: und dagegen sehen wir nun [18/19] ihre Versöhnung, ihre restlose Verbindung im Bild und in der Anschauung durch die klassische Dichtung. In Goethes Persönlichkeit und Entwicklung ist diese höchste Vereinigung der Lebensrichtungen und der Kulturentfaltungen des 18. Jahrhunderts mit typischer Vollkommenheit vollzogen. Hier ist überall das unmittelbarste Erleben in seiner ganzen Ursprünglichkeit bewahrt, sind alle Tiefen und Höhen des Lebens in der treuesten Wahrheit dargelegt, hier redet mit elementarer Gewalt die innerste Leidenschaft und das dunkel Dämonische der Persönlichkeit und ihres Geschicks; hier waltet die Ehrfurcht vor den unergründlichen Geheimnissen der Natur und der Geschichte: und doch ist alle diese flutende Urwüchsigkeit des Erlebnisses in die reine durchsichtige Form der Darstellung, in die lichte Schönheit des wahren Menschentums erhoben, alles Leid und aller Genuss des Besonderen untergetaucht in die Harmonie, in die ewige Lebendigkeit des Ganzen -
Alle menschlichen Gebrechen
Sühnet reine Menschlichkeit.
Auf dieser Höhe der Anschauung und Gestaltung ist das fiebernde Wühlen, worin das eigene Ich sich auslebt, mit den höchsten und geklärtesten Idealen des allgemeinen Menschentums versöhnt.
In dieser Weise können wir es versuchen, einen den wesentlichsten Momenten des geschichtlichen Zusammenhanges entsprechenden Rahmen für den unendlichen Reichtum an Ideen und Gestalten zu [19/20] finden, der in jener grössten Zeit der deutschen Kulturgeschichte in das gemeinsame Leben von Dichtung und Philosophie eindrang. Während die Dichtung auch von der leidenschaftlichen Ursprünglichkeit des besonderen Erlebnisses auf die lichte Höhe gedanklicher Klarheit sich emporrang, stieg die Philosophie von den abstrakten Linien des Allgemeinen zu der Gestaltenfülle des geschichtlichen Lebens herab, um in ihm die Verwirklichung ewiger Wertzusammenhänge zu suchen. Mit allen diesen geistigen Entwicklungen aber war ein Reich der Innerlichkeit, eine Welt des reinen Schauens und Denkens gegründet und gestaltet, das abseits lag von der gemeinen Wirklichkeit der Dinge. Die Interessen dieses ästhetisch-philosophischen Bildungssystems lagen jenseits der äusseren Lebenszusammenhänge, aus denen es hervorwuchs: die Geister jener Zeit lebten in einer anderen Welt, die höher, reiner, menschlicher sein wollte als ihre äussere Gegenwart. Mitten in dem Zusammenbruch der politischen Mächte, an denen sie keinen inneren Anteil hatte, schuf sich die dünne Oberschicht der Gebildeten in Deutschland, unbefriedigt von der rauhen und öden Realität, eine neue Welt im Aether des Ideals.
Für die innerste Ueberzeugung musste eine solche ideale Welt als ein zeitlos Geltendes, als ein ewig Wertvolles und darum niemals völlig Wirkliches erscheinen. Aber der Gegensatz, worin sie sich zu der nüchternen Wirklichkeit der Gegenwart befand, [20/21] trieb das Bedürfnis hervor, sie in einer geschichtlichen Wirklichkeit bewährt zu denken. Es wiederholte sich, was dem deutschen Geiste schon mehr als einmal vorher geschehen war: er projizierte das Ideal, das ihm vorschwebte und das er selbst zu verwirklichen sich ausserstande fühlte, auf eine entfernte Vergangenheit, um in ihrem selbstgeschaffenen Anblick zu schwelgen und in ihr alles als wirklich zu schauen, was er an seinem eigenen Leben vermisste. So hatte dereinst Klopstock die Idee der deutschen Nationalität in eine Idealisierung altgermanischen Bardentums zurückgeworfen und damit vergebens versucht, die Reste germanischer Mythologie zu einem poetischen Nachleben zu galvanisieren: er hatte damit zeitweilig die literarische Mode bestimmt, aber eine dauernde Neubelebung jener Vergangenheit ebenso wenig erzielt, wie das der genialen Musik unserer Tage gelingen wird. Nicht lange darauf hatte die aufklärerische Literatur ihre Idealdarstellung von nüchterner Staatsweisheit oder behaglichem Lebensgenuss teils in das orientalische, teils in das griechische Gewand gehüllt: aus Wielands Romanen tritt uns der Herrscher des Ostens als der väterlich sorgende Weise entgegen, oder leuchtet uns das hellenische Leben als das schöne Bild edlen Sinnengenusses und wohlerwogener Bescheidung.
Nun aber stieg noch einmal die Griechenwelt als eine historische Fata morgana in wunderbarem Glanze höchster Vollkommenheit vor dem deutschen [21/22] Geiste auf. Das Ideal eines reinen Menschentums, einer Ausgleichung aller Anlagen des menschlichen Wesens, einer Ueberwindung des Gegensatzes der sinnlichen und der übersinnlichen Natur, das Ideal eines geistigen Gemeinlebens, worin jedes Individuum mit der höchsten Steigerung seiner Eigenart doch die Gesamtheit in sich darstellte und nach allen ihren Richtungen innerlich miterlebte, - dieses Ideal einer höchsten Kulturentfaltung, das die Gegenwart nicht bot, sollte doch einmal wirklich gewesen sein in glücklicher Entfaltung. So erwuchs die neuhumanistische Idealisierung des Griechentums, an der die von Friedrich August Wolff eingeleitete philologische Bewegung ebenso viel Anteil hatte, wie die Anforderungen der Dichtung. Mit umfassendstem Verständnis hat der Schöpfer der vergleichenden Sprachwissenschaft, Wilhelm von Humboldt, diese Auffassung vertreten und durchgeführt. Aber die weitaus eindrucksvollste Verkörperung erfuhr diese Idealisierung des Griechentums durch Schiller, den Propheten Kants und Goethes, der seine Aesthetik wie seine Geschichtsphilosophie zu diesem Hellenentum als der höchsten und wahrsten Erscheinung des menschlichen Wesens zurücklenkte. Von ihm empfing Friedrich Schlegel. zeitweilig die Anregung zu den extremen Verherrlichungen, worin die »Graecomanie« ihre von den Meistern selbst abgelehnte Uebertreibung bis zum Fieber steigerte. Von Schiller empfing auch der unglückliche Hölderlin das Bild der Griechenwelt als [22/23] des höchsten Lebenszustandes, nach dessen Wiederherstellung er in unheilbarer Sehnsucht sich verzehrte.
In der Tat war auch bei Schiller selbst diese liebevolle Versenkung in das idealisierte Griechentum in letzter Instanz doch nur der Ausdruck einer Sehnsucht, die bei dem Genusse der innerlichen Bildungswelt sich aus dem Blick auf die ideallose Wirklichkeit ergeben musste. Ausgeschlossen von politischer Macht, den Interessen des äusseren Lebens entfremdet, hatte sich der deutsche Geist in ein selbstgeschaffenes Reich der Innerlichkeit gerettet und suchte in ihm die Entschädigung für allen Verzicht, den die Aussenwelt seiner Betätigung auferlegte. Wenn man die Begründungen liest, mit denen Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen und in der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung, seiner ästhetischen Theorie gemäss, das Hellenentum als das wahre Menschentum feiert, so empfindet man deutlich, dass hier überall eine Kontrastwirkung vorliegt, mit der in der Antike alles das als Wirklichkeit gilt, was die Gegenwart am Ideal vermissen lässt. Die Flucht in die Vergangenheit ist im Grunde genommen dasselbe, wie die Flucht in das Ideal.
In das Pathologische verzerrt, treten uns dieselben Züge bei Hölderlin, vor allem in seinem Hyperion entgegen, wo mit dem elegischen Schwelgen in der reinen Humanität des griechischen Lebens [23/24] sich die bitterste Klage gegen die Gespaltenheit und Zerrissenheit, gegen die Beschränktheit und Einseitigkeit des modernen Daseins verbindet. Alle die Töne, die Schiller dereinst schon in den Göttern Griechenlands angeschlagen hatte, sind hier zu einem furchtbaren Klagegesang angeschwollen, worin das harmonische Gebilde des Ideals durch die disharmonischen Stimmungen der Gegenwart zerrissen und übertönt wird.
Aber auch, wo die schöpferische Kraft, aus der jene Bildungswelt erwachsen war, sich nicht zu so krankhaften Erscheinungen fortreissen liess, da blieb doch an diesem Bildungssystem der Innerlichkeit zunächst die Gleichgültigkeit gegen die äussere Realität und der vielleicht schmerzhafte Verzicht auf ein Wirken in der Gegenwart haften. Die folgenden Generationen haben es den Grossen jener Tage oft mit ungerechtem Zorn vorgeworfen, dass ihnen das Leben in der idealen Welt mehr galt als die grossen Geschicke, die sich in der geschichtlichen Wirklichkeit abspielten, und selbst als die Not, mit der ihr eigenes Volk dadurch bedrängt wurde. Niemals vielleicht ist dieses seltsame Verhältnis ergreifender ausgesprochen worden, als in dem Neujahrsgedicht, mit dem Schiller die Wende der Jahrhunderte gefeiert hat. Er schildert die ungeheuren Bewegungen und Kämpfe, mit denen das alte Jahrhundert geschieden ist und das neue beginnt, den gewaltigen Kampf der beiden herrschenden Nationen, die um den Besitz der Erde ringen, das Drängen der Mensch-[24/25]heit nach Frieden und Freiheit, das nirgends Erfüllung findet, und er schliesst mit den denkwürdigen Versen:

In des Herzens heilig stille Räume
Musst du fliehen aus des Lebens Drang!
Freiheit ist nur in dem Reich der Träume,
Und das Schöne blüht nur im Gesang.

[25/26]


II. Romantik und Hegelianismus.


Wenn wir die griechische Prägung betrachten, mit der jene historische Illusion ihr ideales Sehnsuchtsbild statt nach vorwärts nach rückwärts warf, um ihm in Gedanken wenigstens eine Verwirklichung zu geben, so zeigt sich, dass der letzte Grund davon darin bestand, dass jene Sehnsucht ohne Wille und deshalb ohne Tat, jenes Interesse ohne Leidenschaft war. Das Vorwiegen des intellektuellen Lebens, die Gewöhnung an den ästhetischen Genuss des reinen Schauens und die Befriedigung an der intellektuellen Arbeit des Auffassens und Verstehens hatte den Verzicht auf das Aussenleben zur Folge. Hier war in der Tat, wie es damals so oft in Dichtung und Philosophie ausgesprochen ist, die Erlösung von der Not des Lebens durch die Erhebung zum Schauen und zum Begreifen gewonnen worden, und selbst wo der Verzicht auf die Aussenwelt in der Form elegischer Sehnsucht ertönte, hatte er den Trost zum Hintergrunde, dass im Reich der Innerlichkeit ein höherer Ersatz gewonnen sei.
Auf die Dauer aber war jene Flucht in die ide-[26/27]ale Welt nicht haltbar. Jener Sehnsucht musste der Wille eingeimpft werden, damit sie zu der Tat fortschritt, die ihr selbst schliesslich doch als das Höchste vorschwebte. Denn die Forderung der Tat war wirklich der Weisheit letzter Schluss, zu dem sich die Philosophie wie die Dichtung bekannte. Diese Forderung erklang aus der gewaltigen Predigt der Fichteschen Wissenschaftslehre, und sie war auch das letzt Wort in Goethes beiden Lebenswerken, im »Faust« und im »Meister«. Diese Forderungen zu vollziehen, haben sich in der weiteren Entwicklung die Tendenzen der Theorie und die des Lebens miteinander verbunden.
Für die Theorie blieb doch schliesslich als das grosse Erbteil der Aufklärung die rationalistisch praktische Tendenz des philosophischen Jahrhunderts bestehen, die Ueberzeugung, dass die Menschheit reif sei, alle ihre Verhältnisse selbst mit Vernunft zu regeln. In diesem Sinne war die französische Revolution gerade von den Grossen unserer Literatur mit Begeisterung begrüsst worden. Das hatte ihr die Sympathie Kants eingetragen und Fichte zu den flammenden Schriften veranlasst, mit denen er sie verherrlichte und für ihre Forderungen eintrat. Das war auch die Meinung, in der die akademische Jugend, wie die Stiftler in Tübingen, den grossen Moment feierten und den Freiheitsbaum pflanzten; das war es, weshalb es für Schiller eine Ehre sein konnte, Ehrenbürger der neuen Republik zu werden. Das Vernunftreich schien zu kommen, [27/28] manchem schien es schon gekommen zu sein. Wir wissen alle, wie schnell sich dies Urteil in sein Gegenteil verwandelt hat. In Deutschland vollzog sich der Umschlag andersartig als in England, wo Edmund Burke das Recht der historischen Mächte gegen den Ruf nach Rückkehr zur Natur mit glücklicher Energie aufmarschieren liess und damit bei dem geschichtlichen Sinn seiner Landsleute das Spiel gewann. Bei uns in Deutschland gab es kein solches historisch-politisches Gegengewicht, hier waren es moralisch-kulturelle Mächte, die den Sieg über den ersten Ueberschwang der Begeisterung davontrugen. Man nahm Anstoss daran, dass die Verwirklichung des Vernunftideals in die elementaren Leidenschaften getaucht wurde und dass statt des ersehnten Reiches sittlicher Ordnung der Krieg Aller gegen Alle wieder auf der Bühne der Weltgeschichte gespielt zu werden schien. Die Verbrechen der Terreur haben die Denker und Dichter Deutschlands stutzig und an ihrer Begeisterung irre gemacht; die Verquickung der Gedanken Voltaires und der Ideale Rousseaus mit der Roheit der persönlichen Interessen zerstörte den Nimbus, mit dem die Revolution anfänglich wie ein Morgenrot über Europa aufzugehen schien. Nach den Anschauungen des deutschen Lebens jener Tage sollte das Vernunftreich nur durch die Bildung selbst verwirklicht werden. Das ist nirgends deutlicher zu erkennen als in der glänzenden Darstellung, mit der Schiller seine Briefe über die ästhetische Erziehung [28/29] des Menschen eröffnet hat. Sie zeigt, wie energisch und tatenlustig der Blick des Dichter-Philosophen auf die politische Wirklichkeit seiner Zeit gerichtet ist und die Aufgabe der Bildung in ihr zu bestimmen versucht. Von dem Notstaat der Gegenwart, von diesem Gebilde der Macht, der Interessen und der Leidenschaften, soll die Menschheit hinübergeführt werden zu dem Vernunftstaat der sittlichen Ordnung: und die einzige Möglichkeit, diesen Austausch im Rollen der Räder der Geschichte ohne Gefahr einer vollkommenen Entgleisung zu vollziehen, sieht der Dichter in dem »ästhetischen Staat«. Er erwartet das Heil der Zukunft von der Ausbreitung jenes Reiches edler Geselligkeit, das auf dem Grunde philosophischer und ästhetischer Bildung sich zu errichten begonnen hat. Der Theorie gemäss, die er im Fortgang jener Briefe über das Wesen des ästhetischen Zustandes im Verhältnis zu dem natürlichen und dem sittlichen Zustande des Menschen zu entwickeln sich anschickte, vertrat er die Ueberzeugung, dass nur die Veredlung des Fühlens und die Verfeinerung des Lebens durch die Begründung der intellektuellen Interessen geeignet sei, die rohe Leidenschaft des Sinnenmenschen zum Schweigen zu bringen und der Vernunft die Bahn frei zu machen zur Gestaltung des Lebens der Gesamtheit. Das war der ideale Glaube an die Macht der Bildung, der ein Bestandteil des politischen Lebens in Deutschland geworden und geblieben ist, - glücklich und wirkungsvoll und doch auch wie-[29/30]der hemmend und schädlich, - die Stärke und die Schwäche des Liberalismus. Denn man kann den W e r t der Bildung für das öffentliche Leben nicht hoch genug schätzen: aber die tatsächliche M a c h t, die psychische Motivationskraft der Bildung in den politischen Bewegungen, ihre Gewalt über die Massen kann man gar leicht überschätzen, und auf solchen Illusionen beruhen die Fehler des Liberalismus zum grossen Teil bis auf den heutigen Tag.
Aus jenen Ueberzeugungen von dem politischen Beruf der Bildung erwuchsen die Anfänge der deutschen Romantik, wie sie Friedrich Schlegel proklamierte, wenn er die Einheit der drei grossen Tendenzen der Zeit verlangte: der französischen Revolution, der Goetheschen Dichtung und der Kantisch-Fichteschen Philosophie. In der Tat war der üppige Drang des geistigen Lebens, der in dem romantischen Kreise waltete, aus dem Ideal geboren. In der neuen Philosophie sah man vor allem die begriffliche Zeichnung des sittlichen Vernunftreiches und den klaren Gedanken der Ziele, auf welche die französische Revolution mit elementarer Gewalt und in der dunklen Leidenschaft der erregten Massen hinstrebte. Aber die rechte Verwirklichung dieses Ideals erwarteten anfänglich auch die Romantiker von der Ausbreitung jener universellen Bildung, als deren Typus und deren vollkommenste Gestaltung ihnen die Goethesche Dichtung galt. Im Grunde genommen steckte darin der Gedanke des platonischen Staatsideals, [30/31] das Prinzip, dass die wahre und vernunftberechtigte politische Gemeinschaft nur auf der Einheit der Ueberzeugung beruhen könne. Aber gerade damit bereitete sich schon in der Romantik die Umkehr vor. Denn für die Massen, deren elementare Gewalt die Revolution ausgelöst hatte, und die sich darin gerade von der Herrschaft der gebildeten Oberschicht zu emanzipieren begonnen hatten, war eine solche Einheit des Lebens durch jene in sich durchaus aristokratische und auf die Entfaltung der Individualität gerichtete Bildung nicht zu gewinnen: für sie kann jene Ueberzeugungseinheit nicht in den Formen wissenschaftlicher und künstlerischer Erziehung herbeigeführt werden. Dazu gehören andere unmittelbar wirkende Gewalten: die innere Macht der Religion und die äussere Macht des Staates. So kam die Romantik dazu, diese beiden Mächte mit dem Bildungssystem durchdringen zu wollen, das sich unabhängig von ihnen und zum Teil im Gegensatz gegen sie entwickelt hatte. Denn zu den wichtigsten Merkmalen der Aufklärung hatte es gehört, dass sie das geistige Leben von dem Druck der positiven Religionen befreite und die Gesamtheit der intellektuellen Tätigkeiten im Prinzip völlig verweltlichte: und andererseits war das Humanitätsideal teils auf die kosmopolitische Gesamtheit, teils auf die individuelle Ausgestaltung gerichtet gewesen und deshalb an den historischen Gemeinschaften der Staaten achtlos vorübergegangen. Mit der neuen Wertung der Religion und des Staa-[31/32]tes beginnt deshalb die Romantik aus der reinen Welt der Ideen und der Ideale in die praktischen Aufgaben des öffentlichen Lebens herabzusteigen. Aber in der ganzen Struktur dieses Kulturlebens war es begründet, dass auch diese Wendungen sich durch gedankliche Motive des Bildungssystems selbst einleiteten.
Auf dem religiösen Gebiete hat Schleiermacher den Anstoss gegeben. Seine Reden »über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern« wendeten sich unmittelbar an den romantischen Kreis selbst. Sie suchten zu zeigen, dass die neue Bildung, die in die Fülle wissenschaftlicher und poetischer Interessen zerstreut sei, ihre Einheit und damit ihre innerste Kraft nur in der Religion finden könne, die, indem sie das ganze Leben durchdringe und durchleuchte, die Gesamtheit der Vernunfttätigkeiten erst zu einer organischen Einheit verknüpfe. Dieser Gedanke, dem in seinem späteren Philosophieren auch Fichte beigetreten ist, hatte von Schleiermacher aus eine ungeahnte und in dieser Richtung von ihm nicht gewollte Wirkung. Seine eigene Religiosität war die einer mystischen Frömmigkeit, die über jede Form der historischen Religion weit hinausging. Wenn die Wirkung, die das von ihm in die romantische Bewegung hineingeworfene Prinzip auf diese schliesslich ausübte, in einer ganz anderen Richtung lag, so hat dabei wieder eine historische Illusion mitgespielt, welche aus dem Bedürfnis hervorging, das eigene Ideal in einer geschichtlichen Erschei-[32/33]nung der Vergangenheit realisiert zu finden. Diesmal war es die Idealisierung des Mittelalters, die schon von Herder in seiner Bückeburger Zeit der religionslosen Aufklärung entgegengehalten worden war und die nun in einer weithin wirkenden Weise zuerst von Novalis vertreten wurde. Er glaubte zu erkennen, dass es eine solche Lebenseinheit aller Kulturtätigkeiten in der Religion, wie sie nun als Aufgabe wieder erschien, schon einmal gegeben habe in der ungebrochenen Herrschaft, die im Mittelalter der Katholizismus über alle Lebenssphären der europäischen Völker ausübte. Daraus erwuchs ihm der Glaube an die Möglichkeit, den Katholizismus zur modernen Bildungsreligion umzugestalten, in ihn den ganzen Reichtum des modernen Geisteslebens aufzunehmen und damit die neue Epoche der Kultur heraufzuführen, an deren Verwirklichung die Romantik arbeitete. In dem Aufsatz »Europa oder die Christenheit«, der auf Goethes klugen Rat zunächst nicht veröffentlicht wurde, hatte er diese Gedanken niedergelegt: aber sie flossen durch seine Freunde, vor allem durch Friedrich Schlegel, schnell genug in weitere Kreise über. Damit aber wurde unter allen den historischen Illusionen unserer Geistesgeschichte diese weitaus die gefährlichste. Denn der Gedanke, der von Novalis lediglich aus den inneren Bedürfnissen des Bildungssystems gemeint und für dessen Abschluss bestimmt war, wurde nun von realen Mächten ergriffen, von der klerikal-legitimistischen Restauration, [33/34] aus der in Frankreich die Gegenbewegung gegen die Aufklärung und die Revolution entsprungen war. Damit vollzog sich eine Verbindung der deutschen und der französischen Romantik, durch die für die letztere eine gedankliche Vertiefung ihrer kirchlich-politischen Tendenzen gewonnen wurde, während die erstere aus der ästhetisch-philosophischen Atmosphäre in die Niederungen der polischen Bewegung gezogen wurde. Die Anwesenheit Schlegels in Paris und sein Verkehr in dem Salon von Auteuil, wo man nicht bloss vom Wetter gesprochen habe wird, sind in dieser Richtung von grosser Bedeutung gewesen. Die Deklamationen der französischen Legitimisten und Traditionalisten, wie Joseph de Maistre oder de Bonald, lesen sich manchmal direkt wie Kopien aus Novalis' »Europa« oder aus Fichtes »Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters« oder aus Friedrich Schlegels Vorlesungen. Ueberall wird der Verlust der Ueberzeugungseinheit in der europäischen Gesellschaft als das grosse Uebel beklagt, überall der Protestantismus, der die Herrschaft der religiösen Einheit des Mittelalters gebrochen hat, für diesen Schaden verantwortlich gemacht, überall die Anarchie der Meinungen und der Leidenschaften, welche Aufklärung und Revolution gebracht haben sollen, dem Prinzip der Gewissensfreiheit in die Schuhe geschoben. Die faszinierende Gewalt dieser Gedanken sieht man vielleicht am deutlichsten bei einem Manne wie Auguste Comte, dem Schüler des mathematisch-naturwisssenschaftlichen Rationalismus, [34/35] der mit St. Simon an dem Ideal der Sozialisierung des öffentlichen Lebens durch die moderne Wissenschaft arbeiten wollte. Auch ihn führt die Beobachtung der geistigen Zersplitterung zur Beschuldigung der protestantischen Gewissensfreiheit als des Krebsschadens der Gesellschaft; auch er bewundert das Mittelalter, welches auf der religiösen Lebenseinheit ein in seiner Weise vollkommenes, wenn auch »eminent verfrühtes« System der Gesellschaft ausgebildet habe. An die Stelle der theologischen Einheit, die durch das kritisch metaphysische Uebergangszeitalter zerstört ist, soll die neue Einheit auf dem Boden der mathematischen Naturforschung und einer nach ihrer Methode entworfenen Gesellschaftslehre (der Soziologie) gewonnen werden. Es ist bekannt, wie für Comte die positive Philosophie und Soziologie zu diesem Zwecke schliesslich nicht genügt und wie bei ihm das religiöse Motiv in der zweiten Hälfte seiner Wirksamkeit gesiegt hat. Er war freilich vor der Illusion der Romantisierung des Katholizismus bewahrt, aber seine phantastische Schöpfung der Humanitätsreligion zeigt doch Zug um Zug mir dessen kümmerliche Nachbildung. Die deutsche Romantik dagegen, die von den grossen Ideen einer philosophischen Umbildung des religiösen Lebens herkam, ist in den Friedrich Schlegel, Adam Müller u. s. w. den umgekehrten Weg gegangen. Sie hat die Rückkehr zu der historisch positiven Religion vollzogen, weil sie einerseits darin die einzige Möglichkeit fand, eine den ganzen gesell-[35/36]schaftlichen Körper durchdringende und umspannende Ueberzeugungseinheit zurückzugewinnen, und weil sie andererseits von der Hoffnung erfüllt war, dem historischen Wesen der römischen Kirche den Inhalt der modernen Bildung einimpfen zu können. So hat Schleiermachers Anregung auf der gedanklichen Seite dazu geholfen, dass im 19. Jahrhundert die Macht der positiven Religion wieder zu einem Masse von Bedeutung und von psychologischer Festigung gelangt ist, wie das 18. Jahrhundert sie niemals gekannt hat, und so reichen bis auf diese Höhen der ästhetisch-philosophischen Kultur die Versuche zurück, die sich seitdem von Zeit zu Zeit trotz allen Scheiterns immer wiederholt haben und heutzutage abermals wiederholen, die Versuche, den neuen Wein der modernen Bildung in den alten Schlauch des überlieferten Religionslebens zu füllen.
Diese Wendung des romantischen Lebens zur historischen Religion hing aber auch mit der allgemeinen Belebung des geschichtlichen Sinnes und Verständnisses zusammen, worin die schöpferische Eigenart der Romantik bestand. Die grosse geistige Entwicklung der klassischen Zeit hatte auf der Verarbeitung des Gedankenstoffs der Geschichte beruht. Das Interesse des ästhetisch-philosophischen Denkens hing nicht mehr an dem abstrakt Allgemeinen und Naturnotwendigen wie in der Aufklärung, sondern an dem konkret Lebendigen aller historischen Gebilde menschlicher Kulturbetätigung. Damit begann die historische Wissenschaft, in der die Romantik [36/37] ihre dauernden Leistungen geschaffen hat. Statt des abstrakten Absprechens und der toten Gelehrsamkeit begann man mit kritischem Gewissen aus der allseitig durchforschten Ueberlieferung den lebendigen Zusammenhang des vergangenen Geschehens neu zu gestalten. So gehen auf die Romantiker die fruchtbaren Anfänge der neueren historischen Wissenschaft zurück. Die Literaturgeschichte, die Kunstgeschichte, die Religionsgeschichte, die Wissenschaftsgeschichte, sie entspringen als scientifische Disziplinen an dieser Quelle ebenso wie die politische Geschichte. Damit wurde für das 19. Jahrhundert ein neues Reich der wissenschaftlichen Arbeit aufgetan. Im 18. Jahrhundert galt, wie wir es an Kants Erkenntnistheorie am deutlichsten sehen, als eigentliche und wahre Wissenschaft nur die Naturforschung und die physikalische Theorie. Wenn wir heute die geschichtliche Wissenschaft nicht mehr zu den belles lettres rechnen, sondern ihr eine vollkommen ebenbürtige, im Erkenntnisziel und in der Methode durchaus selbständige Stellung neben der Naturforschung einräumen, so ist das ein Verdienst der Arbeiten, welche die Romantiker begonnen haben.
Aus diesem historischen Denken aber erwuchs auch das zweite, die Neubelebung des Staatsgedankens. Hier ist Hegel der Heros. Auch seine Gedanken freilich wuchsen aus dem klassischen Bildungssystem hervor. Bei ihm, dem Schwaben, war es sicher die Einwirkung von Schillers idealem Griechentum, wenn er im Staat die höchste Ver-[37/38]wirklichung des Volksgeistes und damit die »Wirklichkeit der sittlichen Idee« erkannte. Wo er dies begrifflich darstellt, schildert er es doch immer in den anschaulichen Formen des griechischen Lebens, wie es sich in der begeisterten Sehnsucht seiner Zeit darstellte. In dem öffentlichen Leben Griechenlands findet er den absoluten Kulturstaat. Und nicht bloss in dieser historischen Idealisierung, sondern auch in der begrifflichen Theorie überspannt er anfänglich das Wesen des Staats. Im ersten Entwurf seiner Lehre vom objektiven Geiste ist der Staat das höchste und letzte in aller Wirklichkeit überhaupt: und daran hat Hegel stets festgehalten, dass, seinen Staat zu schaffen, die eigenste und beste Aufgabe jedes Volkes sei. So war seine Lehre eine gewaltige Predigt an das staatsfremde Geschlecht seiner Zeit. Wie Schleiermacher die Gebildeten zur Religion, so hat Hegel sie zum Staat gerufen.
Damit bekamen nun wieder zwischen der Menschheit und dem einzelnen Menschen, auf welche beide die Aufklärung ihre Liebe und ihr Studium gerichtet hatte, die grossen organischen Gesamtgebilde der historischen Wirklichkeit ihren Wert: die Völker und die Staaten. Es ist höchst interessant, den verschiedenen Wegen zu folgen, auf denen sich bei den Denkern jener Tage der Gedanke des Nationalstaates aus dem Weltbürgertum herausgearbeitet hat. So hat Wilhelm von Humboldt dies Motiv zum Teil aus dem historischen Studium der Sprachen gewonnen. Es gibt keine Universalsprache [38/39] der Menschheit, so wenig, wie es eine reine Individualsprache des Einzelnen gibt; jede wirkliche Sprache ist das sinnlich-geistige Leben eines Volkes: und so hat das Volk sein Recht und seinen Wert als das in seiner Besonderheit gestaltete historisch konkrete Zwischenglied zwischen der Idee der Menschheit und dem einzelnen Menschen. Bei Fichte schliessen sich ähnliche Gedanken an das Prinzip der Bestimmung des Menschen. Der Einzelne soll freilich zuletzt sich als Glied einer sittlichen Weltordnung wissen, aber er erfüllt seine Bestimmung doch schliesslich nur in den natürlich und geschichtlich gegebenen Lebenssphären seiner Zeit und seines Volks: und diese Gesamtgebilde haben deshalb ebenfalls ihren Sinn und ihr Existenzrecht in ihrer Bestimmung, d. h. in der besonderen Aufgabe, die sie in dem allgemeinen Zusammenhange der sittlichen Ordnung zu erfüllen haben. Auf solchen Wegen wurde theoretisch und in der Idee das Prinzip der Nationalität geschaffen, das nachher der politischen Geschichte im 19. Jahrhundert seinen Stempel aufgedrückt hat. Die kosmopolitische Gesamtbewegung des 18. Jahrhunderts kulminierte in Frankreich mit der napoleonischen Tendenz zur Weltherrschaft, in Deutschland mit der Goetheschen Idee der Weltliteratur: aber aus beiden haben sich gerade auf ihrer Höhe die Individualisierungen entwickelt, welche zur nationalen Gestaltung des Lebens und Denkens drängten. Für die deutsche Entwicklung lag die Begründung dafür darin, dass unsere neue [39/40] deutsche Nationalität zuerst eine Wirklichkeit war in der Sprache und in der Literatur, dass ihre Substanz in dem ästhetisch-philosophischen Bildungssystem bestand, das seinem eigensten Wesen nach allgemein menschlicher, kosmopolitischer Natur war. Wenn dieses nationale Bewusstsein von sich selber aus seine Verwirklichung in der äusseren Lebensgestaltung, im Staate suchte, so können wir verstehen, weshalb der Gedanke der deutschen Nationalität anfangs in seinem Inhalt jenem kosmopolitischen Wesen des Bildungssystems so ähnlich sah, wie das namentlich in Fichtes Reden an die deutsche Nation deutlich hervortritt. Aber gerade an diesen Reden sehen wir auch, welchen starken Anteil an dieser nationalistischen Wendung der Theorie die Not der Zeit und ihr tiefes Gefühl bei den Besten des Volkes gehabt hat. So verbanden sich die Interessen der Theorie und die des Lebens, um der Weiterentwicklung miteinander die entscheidende Richtung zu geben.
Indessen, mit der Verwirklichung der Idee des nationalen Staates hatte es bekanntlich bei uns in Deutschland noch gute Weile. Was ihr im Wege war, lag aber doch nicht bloss, wie man wohl gern annimmt, an dem Widerstande der herrschenden Gewalten: es steckte zum Teil gerade auch in dem Anteil, den das geistige Leben an dieser Wendung hatte, und in dem Umstande, dass in der Theorie der nationale Gedanke aus dem universellen kosmopolitischen Bildungssystem herkam. Fichte hatte [40/41] nicht umsonst die Erhebung der Deutschen und die Schöpfung ihres eignen Staates als ihre Pflicht gegen die ganze Menschheit und deren wesentlichste Bildungsgüter bezeichnet: dieser Nationalitätsgedanke war so tief sittlich begründet und gefühlt, dass er sich nicht im geringsten auf die Bedürfnisse eines nationalen Egoismus, auf die Befriedigung von Macht und Ehrgelüsten bezog, sondern vielmehr wesentlich auf dem ethischen Pflichtgefühl der Humanitätsidee beruhte und in ihr beschlossen blieb. Das war seine sittliche Grösse und seine politische Schwäche. In höchst charakteristischer Weise erkennen wir das in der Art und Weise, wie Wilhelm von Humboldt bei seiner Auffassung von der Gestaltung der politischen Verhältnisse, die durch die Verhandlungen des Wiener Kongresses herbeigeführt werden sollten, zwar stets die Bedürfnisse und Wünsche des deutschen Volkes, aber fast noch mehr die Aufgabe im Auge hat, welche Deutschland vermöge seiner zentralen Lage im System der europäischen Gesamtpolitik zu erfüllen hat. Das bedeutet ein Beharren des aus der Aufklärung stammenden weltbürgerliehen Gedankens mitten in den Anfängen der politischen Entwicklung der deutschen Nationalität.
Andererseits aber wurde die volle Identifikation der Nationalkultur mit dem Staat noch keineswegs so durchgeführt, wie es Fichte gedacht hatte. Hier allerdings machte sich das Schwergewicht der historischen Wirklichkeiten, der Selbsterhaltungstrieb der bestehenden Staaten und Dynastien geltend, hier [41/42] wurde als der politische Ausdruck der nationalen Gemeinschaft nur das schattenhafte Gebilde des deutschen Bundes gewonnen. Es ist wiederum interessant zu sehen, wie leicht man sich in der öffentlichen Meinung und namentlich in den Kreisen des literarischen Lebens dabei beruhigte. Uns heute kommt es so vor, als müsse nach der gewaltigen und einheitlichen Erhebung der Freiheitskriege die Enttäuschung über dasjenige, was mit so hoher Kraftentfaltung nun wirklich gewonnen war, ausserordentlich gross gewesen sein. Bei den Zeitgenossen selbst scheint dieses Gefühl durchaus nicht in diesem Masse vorhanden gewesen zu sein. Hie und da flammt wohl wie in Uhlands Feuerworten die Erbitterung darüber auf, dass die neue Wirklichkeit des politischen Lebens so garnicht dem Ideale entspräche, das die grosse Volksbewegung hervorgerufen hatte, und in der burschenschaftlichen Bewegung bildete dies Gefühl zweifellos den Grundzug. Aber auf der andern Seite war man in weiten Kreisen mit zwei Errungenschaften zufrieden: der Fremde war verjagt, und es war wieder Friede und Sicherheit im Lande. Das wurde ganz in dem idealen Innerlichkeitssinn des klassischen Bildungssystems gedacht; man beschied sich damit, dass das öffentliche Leben dem Individuum wieder die Ruhe verschaffte, seinen geistigen Lebensinteressen nachzugehen. Es nimmt auf den ersten Blick wunder, dies gerade von Hegel ausgesprochen zu finden. In der Antrittsrede, die er 1816 in Heidelberg hielt und [42/43] dem Hauptinhalt nach 1818 in Berlin wiederholte, sprach er die denkwürdigen Worte: »Der Weltgeist, in der Wirklichkeit so sehr beschäftigt und nach aussen gerissen, war abgehalten, sich nach innen und auf sich selbst zu kehren und in seiner eigentümlichen Heimat sich zu geniessen. Nun, nachdem dieser Strom der Wirklichkeit gebrochen und die deutsche Nation überhaupt ihre Nationalität, den Grund alles lebendigen Lebens, gerettet hat, so ist dann die Zeit eingetreten, dass in dem Staate neben dem Regiment der wirklichen Welt auch das freie Reich des Gedankens selbständig emporblüht«. Also der Staat, auch der nationale Staat, soll nicht mehr alles sein, nicht mehr selbst die Gesamtheit der Kultur in sich entfalten: er soll nur die Grundlage und die Sicherheit dafür gewähren. Und Hegel spricht das in dem Vertrauen auf den Staat, der vor allem diese Aufgabe leisten werde, auf Preussen. In der Tat, Hegel hatte hierin eine Entwicklung durchgemacht, die einzige, so viel wir sehen, seit der Zeit seines ersten akademischen und literarischen Auftretens. Er war von dem Verständnis des antiken Staates zu dem des modernen fortgeschritten. Der antike Staat, der die volle Ausprägung aller Kulturtätigkeiten, die totale Verwirklichung des objektiven Geistes bedeuten soll, lässt (so lehrt es vor allem das platonische Ideal) für das freie Spiel des individuellen Geistes keinen Raum. Diese Gebundenheit ist für das moderne Individuum unerträglich, das in der Innerlichkeit seines Lebens, in der Ent-[43/44]faltung seiner Persönlichkeit frei geworden ist. Daher verlangt die moderne Welt ein anderes Verhältnis des Staates zu den höchsten Kulturtätigkeiten. Und deshalb baute die Hegelsche Dialektik, wie es schon in der Phänomenologie angedeutet wurde, über jener vollkommenen Gemeinschaft des empirischen Lebens, deren höchste Form der Staat darstellen sollte, noch das freie Reich des absoluten Geistes auf, der sich in Kunst, Religion und Wissenschaft entfalten sollte. Alles Aussenleben mochte zu gemeinsamer Verwirklichung seiner objektiven Lebenswerte im Staate beschlossen sein, - in seinem Innenleben entfaltet der Mensch die freie Kraft der Persönlichkeit, die ihre Werte über den Staat hinaus in das Universelle setzt: und wenn auch das unmittelbare Verhältnis zu dem geistigen Weltinhalt, das damit für das Individuum in Anschauung, Vorstellung und Begriff zurückgewonnen war, bei jeder besonderen Gestaltung durch die historischen Stufen des objektiven Geistes oder des Gattungslebens bedingt erschien, so blieb darin doch die freie Erhebung der Persönlichkeit gewahrt. Das war also schliesslich bei Hegels »Rationalisierung der Romantik« herausgekommen: eine Ausgleichung aller Momente der bisherigen Entwicklung, ein tiefes Verständnis der Vernunftbedeutung des politischen Lebens und doch zugleich eine Ueberordnung des Kultursystems über die geschichtliche Sondergestaltung des einzelnen Staats. Die ewigen Werte der Innerlichkeit blieben in ihrer Eigenart bestehen, [44/45] nicht äusserlich neben dem staatlich gestalteten Aussenleben, sondern als dessen übergreifende Triebkräfte. Auch das verdient manchen unrichtigen Auffassungen gegenüber hervorgehoben zu werden, dass bei aller Anerkennung der historischen Berechtigung und Unerlässlichkeit der einzelnen Gestalten des Kulturlebens doch auch der Rationalismus mit seiner kritischen Mission in dem Ganzen des Hegelschen Systems durchaus aufrecht erhalten worden war: der dialektische Entwicklungsprozess war eben bei Hegel doch der logische, der Fortschritt von einer Form zur andern war zugleich immer eine rationale Kritik. Und wenn Hegels Naturphilosophie zeigte, dass die sinnliche Erscheinung der Idee diese niemals vollständig verwirkliche, sondern sie in die Zufälligkeit des Andersseins verwickle, so galt dasselbe bei ihm erst recht auch für die Vernunft in der Geschichte. Auch hier gilt der oft zitierte Satz: »Alles was ist, ist vernünftig« doch durchaus nicht für die Gesamtheit dessen, was geschichtlich da ist, sondern nur für das Wesen, und dieses Wesen der historischen Wirklichkeit wurde jedesmal nur in seinem Anteil an der sich logisch entwickelnden Gesamtwahrheit gefunden. Auch in dieser Hinsicht wurde die Hegelsche Lehre der Bedeutsamkeit des irrational Individuellen ebenso gerecht, wie dem Wert des rational Allgemeinen.
Auf dieser umfassenden Ausgleichung der in dem klassischen und dem romantischen Bildungssystem zur Entfaltung gelangten Kulturfaktoren hat [45/46] der Zauber des Hegelianismus beruht. Daraus erklärt sich die langdauernde Herrschaft, welche dieses Gedankensystem über das deutsche Leben, über die Wissenschaft und die Kunst, über die religiösen und die staatlichen Bewegungen ausgeübt hat. Einem späteren Geschlechte, das Hegels Lehren nur aus den toten Büchern, aus seinen Werken und seinen Vorlesungen kennen lernt, ist es kaum begreiflich, wie diese in einer künstlichen Terminologie schwerfällig fortschreitende Darstellung, diese mit dunkeln Andeutungen des sachlich Gemeinten spielende Dialektik die Zeitgenossen so faszinieren konnte, dass sie selber zum grossen Teil diese Sprache zu reden und in dieser Gedankenform zu leben anfingen. Wir müssen dabei bedenken, dass es ein literarisch viel umfassender gebildetes und geistig feinfühligeres, an die Arbeit des begrifflichen Denkens weit mehr gewohntes Geschlecht war, dem diese Nahrung vorgesetzt werden durfte. Wir dürfen ebensowenig vergessen, dass auch nach den Freiheitskriegen unser Volk, soweit es eine geistige Einheit bildete, noch immer hauptsächlich und wesentlich mit seiner Literatur beschäftigt war und erst allmählich kritisch und theoretisch zur Prüfung seiner äusseren Lage überzugehen gerade erst durch den Hegelianismus veranlasst wurde. Und in diesem System des Panlogismus, worin alle Fäden der idealistischen Bewegung sich zu einer grossen Einheit zusammenschlangen, waren eben die geistigen Mächte, die das deutsche Leben bestimmten, seine [46/47] wissenschaftlichen, künstlerischen, religiösen und politischen Interessen in eine solche Ruhelage gekommen, dass sie eine geraume Weile darin beharren konnten. Darum ist Hegels Lehre bei uns das System der Restaurationszeit gewesen: man hat es damals wohl die Philosophie des preussischen Staates genannt, weil sich in diesem die Tendenzen des älteren Staatsgedankens mit den Aufgaben des nationalen Kulturstaates, die vorwärtsdrängenden Gedanken des Liberalismus mit den retardierenden Momenten des Absolutismus in einer Art von Gleichgewicht befanden, dem die Hegelsche Dialektik mit ihrer Abwägung des relativen Rechtes aller einzelneu Momente den theoretischen Ausdruck zu geben schien. Das grosse Entwicklungssystem wies in gewissem Sinne jede einseitige Behauptung und Stellung ab und setzte sie zu einem Moment des Ganzen herab, das allein die Wahrheit sei. Hegels Staatsphilosophie begriff die Notwendigkeit des Beharrens in den Institutionen des öffentlichen Lebens gerade ebenso, wie die des Fortschreitens der darin sich bewegenden Interessen: sie fand den Sinn der politischen Wirklichkeit in dem Wechselspiel beharrender und vorwärtstreibender Kräfte, sodass jedes besondere Moment darin sein Recht und zugleich sein Unrecht haben und erweisen sollte. In dem überschauenden Geiste des Philosophen waltete die abwägende und ausgleichende Gerechtigkeit, welche die dialektischen Gegensätze zu einer höheren Einheit des Begreifens und des [47/48] Bewertens zusammenschloss. Aber wenn die Ausgleichung der Gegensätze den intimsten Sinn des Systems ausmachte, so fand es in der Breite der zeitgenössischen Literatur gerade vermöge dieser Eigenart die verschiedenartigsten und einander widersprechenden Ausdeutungen. Jede der Mächte, die in Hegels Lehre mit ihrem relativen Recht Platz gefunden hatten, wollte nun, wie in der Wirklichkeit, so auch in der Theorie das Ganze für sich in Anspruch nehmen. So konnte eine orthodoxe und supranaturalistische Theologie sich ebenso auf dem Boden dieser Philosophie entwickeln, wie die historisch kritische Richtung mit ihren rationalistischen und naturalistischen Tendenzen: so pochte die Politik der konservativen Mächte ebenso auf der Behauptung ihres historischen Rechtes, wie der Liberalismus: so vermochte die alte Staatstheorie des Naturrechts ihre dialektische Begründung ebenso zu finden, wie die neue Lehre des Sozialismus. Alle diese Gegensätze konnten ihre Diskussionen auf dem gemeinsamen Boden des Hegelschen Systems ausfechten. Und das Bedenklichste war, dass die dialektische Lehre von dem relativen Recht aller historischen Erscheinungen, wo man das übergreifende Kriterium ihrer logischen Abwägung aus dem Auge verlor, zu dem timiden Historismus führen konnte, der in den Stimmungen der Erschlaffung sich mit der Relativität selbst begnügte, wonach alles so, wie es eben ist, berechtigt sein kann, aber nichts mit vollkommener Sicherheit in sich begründet erscheint. [48/49]
So war das Gleichgewicht, das die geistigen Mächte in Hegels System gefunden hatten, schliesslich doch nur labil und konnte eben deshalb keinen dauernden Bestand haben. Die Gegensätze, die darin vereinigt waren, hielten sich bereit, mit aller Schärfe hervorzubrechen: sobald das geschah, musste das formale Band, das sie zusammenhielt, zerfallen, und auch diese grösste Gestalt der historischen Weltanschauung und des idealistischen Denkens vermochte dem Geschick ihrer Auflösung nicht zu entgehen. [49/50]



III. Irrationalismus, Materialismus, Pessimismus.



Der Glaube an die Vernunft in der Geschichte war die Grundüberzeugung des Hegelianismus gewesen. Er konnte bei seiner hohen Stellung über den Gegensätzen schliesslich jeder Partei als Rückhalt dienen, und er brauchte bei seiner universellen Ausgeglichenheit sich zunächst noch nicht erschüttert zu sehen, wenn die Verwirklichung der Vernunft in den gegenwärtigen politischen Zuständen ein etwas sehr langsames Tempo zeigte. Aber die Belastungsprobe, der jenen Glauben die Geschicke Deutschlands in den Jahrzehnten von 1830 bis 1850 aussetzten, war denn doch zu stark: er ist schliesslich darunter zusammengebrochen, und die Elemente, die Hegel so kunstvoll zum System gefügt hatte, fielen auseinander.
Das erste, was dabei gesprengt wurde, war die Verknüpfung von Philosophie und Religion. Wenn Hegel gelehrt hatte, die Religion enthalte dasselbe in der Vorstellung, was die Philosophie im Begriff darstelle, so zeigte sich, dass von seiten der positiven Religion eben die Vorstellung doch für das ihr Wesentliche und für ihre eigene Wahrheit an-[50/51]gesehen werden musste. Die romantische Reaktion, die in den kirchenpolitischen Kämpfen jener Zeit den Sieg davontrug, beeilte sich, den Bund mit der Philosophie zu brechen: und wenn gerade die nächsten Schüler Hegels in Berlin seine Lehre durchaus mit dem positiven Protestantismus zu identifizieren versucht hatten, so wurde mit der vollständigen Romantisierung Preussens unter Friedrich Wilhelm IV. das philosophische Moment immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Die starke Machtstellung aber, die gleichzeitig der Katholizismus wieder einzunehmen begann, liess diesen selbstverständlich alle Beziehungen zu der ketzerischen Philosophie ablehnen.
Dieser Bruch der Orthodoxie mit dem Hegelianismus vollzog sich umso energischer, je mehr auf der anderen Seite der religiöse Liberalismus in der Wissenschaft aus der Hegelschen Dialektik die radikalen Konsequenzen zog, welche zu Gunsten der philosophischen Begriffsform der absoluten Wahrheit die Unzulänglichkeit und Vorläufigkeit der religiösen Vorstellungsform derselben Wahrheit energisch hervorhoben. Dies geschah, als bei den Kämpfen, in welche die Hegelsche Linke durch David Friedrich Strauss und Ludwig Feuerbach verwickelt wurde, das pantheistische Moment immer kräftiger und entscheidender herausgehoben wurde. Alle Fragen, um die es sich dabei handelte, betrafen in gewissem Sinne die religiöse Bedeutung des Begriffes der Persönlichkeit. Wenn in der pan-[51/52]logistischen Struktur des Hegelschen Systems Gott mit der Idee gleichgesetzt war, die durch den ganzen Entwicklungsprozess schliesslich im Menschen zu sich selbst kommt, so war damit das christologische Problem gestellt, wie es Strauss in seinem Leben Jesu und schliesslich auch in seiner Dogmatik aufrollte, und andererseits wieder einmal die Frage nach der persönlichen Unsterblichkeit des Menschen angeschnitten, mit deren Diskussion Feuerbach seine Laufbahn begann. Es war in der Tat im Hegelianismus ein Zug, der die Individualität nur als Durchgangspunkt in der Entwicklung des Ganzen oder des »Geistes« dachte und so auch hier, wie in Hegels Naturphilosophie, die Unangemessenheit des Individuums zur Idee der Gattung als den Grund und das Wesen seines Todes ansprach. In derselben Richtung bewegte sich das methodische Prinzip, mit welchem Strauss aus dem Mythos als der überpersönlichen Tätigkeit des Gesamtgeistes die Entstehung der religiösen Vorstellungen ableitete, während er erst später in der zweiten Auflage der Mitwirkung der Individuen gewisse Konzessionen machte. Aber die letzte Folgerung war eben doch die, dass die Dogmatik die Wahrheit nur hinter und über der historischen Vorstellungsform im philosophischen Begriffe suchen konnte: und der philosophische Pantheismus endete schliesslich überall bei der Herrschaft des Allgemeinen und der Idee, er trat in ausgesprochenen Gegensatz gegen den Individualismus. [52/53]
Aehnlich gestalteten sich die Verhältnisse auf dem politischen Gebiete. Auch hier galt wohl eine Zeitlang der Hegelianismus als die wahre Philosophie der Restauration, welche sich mit dem bestehenden Staat und mit dem System der heiligen Allianz als dem zeitlich Gegebenen und Berechtigten beruhigte. Auf der anderen Seite aber nahm erst recht die liberale Opposition den intellektuellen Typus der herrschenden Philosophie an und beanspruchte für sich das geschichtsphilosophische Prinzip des »Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit«. Dabei erfuhr jedoch der Liberalismus selbst eine eigenartige Umprägung. Er ist an sich und ursprünglich ja durchaus individualistischen Charakters: hervorgegangen aus den religiöser Postulaten des calvinistischen Puritanertums, ist er seinem eigensten Wesen nach von demokratischer Struktur. Aber durch die Anlehnung an den Hegelschen Staatsgedanken, wonach das Ganze früher ist als die Teile, bekam dieser Liberalismus eine universalistische Färbung. In der Opposition gegen die klerikale und legitimistische Romantik und zum Teil in der Aneignung gewisser Momente der französischen Geistesbewegung nahm er kosmopolitische und sozialistische Gedanken in sich auf. Auch er konnte sich dem grossen Zuge nicht widersetzen, der in der Gesellschaftslehre des 19. Jahrhunderts ganz allgemein an die Stelle des aufklärerischen Individualismus die Idee von der übergreifenden Realität des Gesamtlebens gesetzt hat. So kam es [53/54] zu der unklaren Mischung von Demokratismus und Sozialismus, welche den geistigen Typus des jungen Deutschlands in solchen Männern, wie Heine, Börne, Gutzkow ausgemacht hat. Dasselbe tritt uns bei der wissenschaftlichen Parallelerscheinung zu dem literarischen jungen Deutschland entgegen, bei den politisch-philosophischen Führern der Hegelschen Linken, bei Arnold Ruge und Echtermeyer, den Begründern der Halleschen, später der deutschen Jahrbücher. Ein grosser Teil dieser liberalen Hegelianer hat dann bekanntlich die deutsche Heimat verlassen müssen und ist in Paris oder London in immer stärkere und zum Teil bittere Opposition getrieben worden.
Die wunderliche Mischung aber, die in diesem geistigen Zustande herrschte, zeigt sich an den Extremen, in die er sich schliesslich auseinandergelegt hat: dem äussersten Individualismus auf der einen Seite und dem radikalen Sozialismus auf der andern. Die »Kritik« zuerst, als wollte sie bestätigen, was die Romantik in Novalis, de Bonald oder Comte von ihr behauptet hatte, schritt um das Jahr 1840 herum zu den letzten und rücksichtslosesten Folgerungen. Bei Männern wie Bruno Bauer und Edgar Bauer stellte sich in der Tat ein Rausch der Kritik ein, der mit der zugespitzten Bedeutung, die man damals dem Worte »Kritik« gab, von der Kritik der Religion und der Kritik des Staates zur »Kritik der Kritik«, zur vollständigen Zersetzung, zum absolut sophistischen Relativismus und zum theoretischen [54/55] wie praktischen Nihilismus fortging. Am Ende dieser Reihe steht Stirners wunderliches Buch »Der Einzige und sein Eigentum«, bei dem man nicht recht wusste und nicht recht weiss, ob diese letzte Paradoxie ganz ernsthaft gemeint war, oder ob sie nur eine parodistische Kritik jener Kritik aller Kritik sein sollte: und ganz zuletzt sah sich auch dies noch durch eine anonyme Schrift »Das Verstandestum und das Individuum« übertrumpft, die in ein gespreiztes »Ich bin Ich selbst allein« auslief.
Auf der anderen Seite verband sich der Hegelsche Staatsgedanke mit der organischen Sozialtheorie der französischen Literatur, und mit solchen gedanklichen Zusammenhängen ist Lassalle und seine Lehre aus dem Hegelianismus hervorgegangen. Ebenso wurden mancherlei Momente der Hegelschen Dialektik durch Feuerbach und Engels in den Marxismus übergeleitet. Dazu freilich war die Wandlung des Hegelianismus in Materialismus erforderlich, die Feuerbach, wie wir sogleich sehen werden, inzwischen vollzogen hatte. Der dialektische Zusammenhang aller Lebenssphären, die das Hegelsche System gelehrt hatte, war darin so auf den Kopf gestellt, dass die Natur oder die Materie als das Grundwesen und alle geistigen Gebilde für seine abgeleiteten, zum Teil als Selbstnegation zu charakterisierenden Nebenerscheinungen galten. Damit war dann der historische Materialismus begründet, welcher die ökonomischen Vorgänge als die Grundlage und alle literarischen, künstlerischen, wissenschaft-[55/56]lichen und religiösen Vorgänge als deren Begleiterscheinungen auffasste. Das Wichtigere aber war, dass auch hier die Massenbewegung als das Wesenhafte, das Individuelle nur als zufälliges und vorübergehendes Produkt angesehen wurde.
Neben dieser tiefgespaltenen Mannigfaltigkeit der religiösen, politischen und sozialen Bewegungen, die alle aus dem in der Auflösung begriffenen Hegelianismus Momente ihrer Theorie entnahmen und ausbildeten, geht nun in denselben Zeiten auch die Entwicklung der Idee des Nationalstaates einher. Sie begegnet uns aber dabei nicht nur, wie man wohl gemeint hat, in der liberalen Form, die sie wesentlich auf den Universitäten bekam, wo in den studentischen Kreisen die burschenschaftliche Bewegung sich zu ihrem Träger machte und wo unter den Lehrern sich jener »Professorenliberalismus« befestigte, von dem in späterer Zeit oft mit abschätziger Betonung die Rede war: sie lebte auch fort - und das darf man keineswegs verkennen oder vergessen - in den pietistischen Junkerkreisen und in der romantischen Restauration um Friedrich Wilhelm IV. Freilich nahm der Gedanke der nationalen Einheit dabei sehr verschiedene Färbung und mancherlei schillernde Abtönungen an, worin sich seine Zusammenhänge mit dem universalistischen Kosmopolitismus höchst verschiedenartig gestalteten. Auf der einen Seite erschien er in romantisch-religiösem Lichte, auf der anderen Seite in nationalistischer und demokratischer Beleuchtung. [56/57] Auf dieser innerlichen Spaltung, auf diesem Auseinandergehen in die beiden getrennten und einander befehdenden Strömungen des geistigen Lebens der Zeit beruhte in letzter Instanz damals die Unfähigkeit unserer Nationalitätsidee zu ihrer politischen Verwirklichung.
Die Probe darauf ist das Jahr 1848 gewesen. Die verschiedenen geistigen Mächte, welche das Erbe des ästhetisch-philosophischen Bildungssystems angetreten hatten, erhoben sich gegen einander, um sich in dem Ringen um die politische Neugestaltung des nationalen Lebens gegenseitig zu hemmen. Denn der Prozess, der sich dabei abspielte, war eben vermöge der Art und Weise, in der sich die Nationalitätsidee selbst entwickelt hatte, in viel zu hohem Masse auf allen Seiten durch die Theorie bestimmt. Auch das Frankfurter Parlament, das intellektuell höchststehende und an Charakterköpfen reichste, das die Geschichte je gesehen hat, konnte die Versöhnung der Gegensätze und den Ausweg zur entscheidenden Tat nicht finden. Damit erst kam für das deutsche Volk die wahre, die grosse Enttäuschung. Die gedrückte Stimmung, die in den trüben Zeiten nach der Revolution sich ausbreitete, war schliesslich doch nichts anderes als die Verzweiflung an der Vernunft in der Geschichte es war der Zusammenbruch des Idealismus, und damit war der Schwung der geistigen Mächte gelähmt, die den Inhalt jenes Glaubens geschaffen hatten, der Dichtung und der Philosophie. Der so hoch [57/58] gewölbte Himmel der Weltanschauung des Geistes war zusammengestürzt, und es galt nur noch, so erschien es den führenden Geistern, sich auf der Erde umzuschauen. Die höhere, die ideale Wirklichkeit, von der man geträumt hatte, schien sich zu versagen, und es hiess, sich mit der niederen abzufinden. Bedeutete es denn etwas anderes, wenn ein Mann wie Gervinus aus der Geschichte der grossen Zeit des deutschen Geistes das Fazit zog, die Tage des Dichtens und Denkens seien vorüber, die des Wollens und des Handelns müssten beginnen?
So machte in der allgemeinen Stimmung der Idealismus, der abgewirtschaftet haben sollte, einem Realismus Platz, von dem man sich vielleicht Geringeres, aber Erreichbareres versprach. Auch im theoretischen Leben wich die begriffliche Konstruktion, nachdem sie in ihren metaphysischen Spekulationen bankerott gemacht zu haben schien, einer neuen Schätzung des Erfahrungswissens. In der Philosophie, in ihrer sachlichen und ihrer methodischen Gestaltung, sprach sich dies als Empirismus aus. Und dieser Empirismus führte sich gegenüber dem nationalistischen Charakter der idealistischen Systeme auf allen Seiten ausdrücklich mit dem Motive ein, das Irrationale in Welt und Leben müsse genommen werden, wie es ist. Irgendwo war ja ein jedes der rationalen Systeme schliesslich auf etwas gestossen, was in seiner alogischen Realität sich als etwas von der begrifflichen Einsicht nicht Durchdringbares und einfach Hinzunehmendes geltend [58/59] machte. Schritt für Schritt hatte die idealistische Bewegung diesen irrationalen Rest zu tilgen gesucht und in der Hegelschen Lehre ihn wirklich überwunden zu haben gemeint. Nun aber, in den Zeiten der Enttäuschung, erhob der Irrationalismus siegreich sein Haupt. Den Führer aber dazu gab kein Geringerer ab als Schelling, der in seiner Feinfühligkeit für die Bewegungen des allgemeinen Geistes auch diese Wendung schon im voraus gemacht hatte. Wenn er um 1840 herum als der Vertreter eines »metaphysischen Empirismus« auftrat, so konnte er dabei an frühere Gedanken anknüpfen, die jetzt mit eigentümlicher Bedeutsamkeit und zugespitzter Wirksamkeit sich in den Vordergrund rückten. Schon Kant, noch mehr Fichte hatten in ihrer Auffassung von den Zusammenhängen des seelischen und geistigen Lebens gelehrt, nicht die Idee sei das Höchste und Letzte, das eigentlich Lebensgewaltige, sondern der Wille. Aber sie hatten dabei nur den vernünftigen Willen, den sittlichen, gemeint und hatten in ihm, wie das Wesen der Persönlichkeit, so auch den letzten Grund der Welt gefunden. Schelling war es zuerst, der schon in seiner Freiheitslehre vom Jahre 1809 den Anschluss an mystische Gedanken, die der religiösen Wendung der Romantik entgegenkamen, und namentlich an die Spekulationen von Jakob Böhme suchte und damit in dem »dunklen Drang«, in dem irrationalen Willen das Weltinnerste, die »Natur in Gott« erkannt zu haben glaubte. Er sah in diesem Willen den Ur-[59/60]zufall, d. h. das nicht als notwendig zu Begreifende, nur tatsächlich Aufzudeckende, das nur erlebt werden kann als der dunkle Lebenstrieb in aller Wirklichkeit. Damit schlug der in der kritischen Philosophie angelegte Voluntarismus in Irrationalismus um, und diese Wandlung ist für das deutsche Denken des neunzehnten Jahrhunderts von Stufe zu Stufe immer bedeutsamer geworden. Dies wurde auch dadurch nicht aufgehalten, dass Schelling in seiner romantischen Theosophie das voluntaristische Prinzip zunächst ganz in's Religiöse wendete. Die Entwicklung der Gottheit und damit der Welt sollte darin bestehen, dass der dunkle Urwille sich selbst offenbar werde und von der inneren Entzweiung, die in seiner natürlichen sündigen Erscheinung vorliegt, durch den Prozess des Geistes in der Geschichte sich erlöse. Dieser theogonische Vorgang aber sollte nicht durch rationale Erkenntnis, sondern nur in dem religiösen Urleben selbst, in der aufsteigenden Reihe der religiösen Vorstellungen der Menschheit erfasst werden. So stellte sich der metaphysische Empirismus als die Philosophie der Mythologie und Offenbarung dar, mit der Schelling in dem Berlin Friedrich Wilhelms IV. Hegel widerlegen sollte, wollte - und nicht konnte. Diesen Mystizismus und Gnostizismus lehnte das Geschlecht ab, worin noch der Rationalismus Nicolais, die Goethe-Verehrung aus dem Kreise der Rahel und die Jung-Hegelsche Kritik nachklang. Aber eingeleitet war damit doch wenigstens schon in den Gedankenfor-[60/61]men des Idealismus selbst die Neigung, sich mit der Irrationalität des Weltgrundes und der Weltwirklichkeit vertraut zu machen. Diese Stimmung des Irrationalismus wuchs nun nach dem Niedergange des idealistischen Glaubens zu immer grösserer Macht heran, und ihr verdankten in den folgenden Jahrzehnten der Materialismus und der Pessimismus die Macht, welche sie über die Gemüter gewannen.
Der Materialismus ist freilich nicht damals geschaffen, aber er ist erst durch diese geistige Zeitlage zu einer vorübergehenden Herrschaft gelangt. Er stammte aus dem 18. Jahrhundert und insbesondere aus der Literatur der französischen Aufklärung. Sein Ursprung war in den Kreisen der Naturforscher und der Aerzte gewesen, und in demselben Milieu hatte er sich auch während der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bei den Franzosen entwickelt und befestigt. Er trug deshalb einen ausgesprochen anthropologischen Charakter und begründete sich hauptsächlich durch die mechanistischen Theorien der Physiologie. Seit Lamettrie der Cartesianischen Anwendung der mechanischen Erklärung auf die Vorgänge des Lebens die materialistische Zuspitzung gegeben hatte, dass bei ihrer Ausführung die Annahme einer substanziellen Seele für den menschlichen Organismus ebenso unnötig werde, wie für das Tier, hatten die Physiologen in den verschiedensten Ländern versucht, die seelischen und geistigen Tätigkeiten als Ergebnisse der physischen Vorgänge im Leibe begreiflich zu machen. Der [61/62] Nachweis der psychophysischen Abhängigkeiten galt ihnen für eine Gleichsetzung der seelischen Leistungen des Organismus mit seinen physisch wahrnehmbaren Tätigkeiten. Dieser physiologische Materialismus, wie er in Frankreich durch Cabanis und Broussais besonders ausgeführt worden war, lag im wesentlichen auch den Darlegungen zu Grunde, die nun in Deutschland durch Moleschott und Karl Vogt mit breitem Erfolge eingeführt wurden. Die Anwendung der mechanischen Erklärung auf den Organismus und der Ausschluss aller Finalursachen und aller geistigen Kräfte aus der Erklärung des körperlichen Geschehens wurde namentlich im schroffen Gegensatz gegen die als Träumerei verschrieene Naturphilosophie hervorgehoben, und dieser Materialismus betrachtete sich und verkündete sich als die einzig aufrichtige und folgerichtige Weltanschauung des naturwissenschaftlichen Denkens. Er glaubte damit seine sichere Basis in der empirischen Forschung zu haben und übersah vollständig, dass er von dieser aus zu einer völlig einseitigen Metaphysik kritiklos fortzuschreiten unternahm.
Dazu aber kam noch ein für deutsche Gemüter ganz besonders eindrucksvolles Moment: der Umstand nämlich, dass gleichzeitig der Materialismus unabhängig von solcher empirisch anthropologischen Begründung als ein letztes Ergebnis der metaphysischen Entwicklung selbst vorgetragen wurde und auf diese Weise eine vornehme Abkunft aus den Höhen der Philosophie aufzuweisen schien. Dies [62/63] ist die Bedeutung, welche Ludwig Feuerbach durch seine denkwürdige Umstülpung des Hegelianismus gewonnen hat. Er vollzog sie von seiner Kritik der Hegelschen Philosophie (1839) an bis zu den Grundsätzen der Philosophie der Zukunft (1843) und den Schriften über das Wesen des Christentums und der Religion Schritt für Schritt in einer kontinuierlichen Entwicklung, die für den Umschlag des dialektischen Idealismus in Materialismus als typisch anzusehen ist. Er spürte zuerst in der Hegel'schen Lehre den »theologischen Rest« auf, den er in der Annahme des reinen Geistes, in dem Glauben an das Uebersinnliche fand: er entdeckte dann, dass auch das metaphysische Denken, wenn es die Idee oder das Allgemeine für das wahrhaft Wirkliche hielt, noch im Banne der alten Illusionen sich befinde: und ganz nach dem Rezept Auguste Comtes endete er, nachdem er das theologische und das metaphysische Stadium durchlaufen hatte, bei der »positiven« Ansicht, dass nur das Einzelne das Wirkliche sein könne, das Sinnending und der konkrete Mensch. Das Allgemeine und das Geistige ist nur eine Illusion dieses einzelnen und körperlichen Wesens: die metaphysischen und die theologischen Vorstellungen von der Idee und dem Geist sind nichts als Negationen der konkreten Wirklichkeit, der Natur. Was man das Uebernatürliche genannt hat, ist das Unnatürliche, das Widernatürliche. Hatte Hegel gesagt, die Natur sei das Anderssein des Geistes, so ist für Feuerbach der Geist das Anders-[63/64]sein der Natur, die Entzweiung des sinnlichen Menschen mit sich selbst. Insbesondere die religiösen Vorstellungen suchte Feuerbach durch seine »Theorie des Wunsches« in dem Sinne zu erklären, dass der Mensch die Idee seiner Gattung, das Ideal dessen, was er selbst zu sein wünschte, zu göttlichen Wesen und Eigenschaften hypostasiere und mythologisiere. Aber während er in seiner Theorie allem Gattungsmässigen Vernichtung drohte, lebte die menschliche Gattung in dem Gefühl der Mitfreude, auf das er seine Ethik gründete, für sein warmes Herz fort, und während er das Stichwort ausgab: der Mensch ist, was er isst, hat er aus seinen eigenen trüben Lebensverhältnissen heraus, mit dem unbeirrten Idealismus einer frohen Lebensbejahung seine Ethik der irdischen Glückseligkeit entwickelt, seine Lehre, dass man den Menschen gesund und zufrieden machen müsse, um ihn gut zu machen.
Aus so verschiedenen Quellen ist der mächtige Strom des materialistischen Denkens zusammengeflossen, der in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Fluren des deutschen Geisteslebens überschwemmte. Auf der Naturforscherversammlung zu Göttingen im Jahre 1854 kam er mit siegreicher Kraft zum Durchbruch, und der Gewalt, die er mit seiner populären Einfachheit über die Massen auch der Gebildeten ausübte, konnten die Epigonen des Idealismus nur einen ziemlich wirkungslosen Widerstand entgegensetzen. Selbst das schöngefügte und gedankenreiche System des teleo-[64/65]logischen Idealismus, das Lotze gerade aus diesen Motiven heraus in feiner und anmutiger Darstellung gestaltete, fand nur in sehr beschränkten Kreisen Anklang. In der grossen Breite der Literatur nahm der Materialismus für Jahrzehnte eine beherrschende Stellung ein. Die weite und langdauernde Verbreitung eines so oberflächlichen Buches, wie Büchners »Kraft und Stoff«, ist das charakteristische Zeichen der Zeit. Namentlich seitdem durch die Darwinistische Theorie die mechanische Erklärung des Zweckmässigen in der organischen Welt endgültig gelungen schien, kannte der Triumph der naturalistischen Weltanschauung keine Grenzen mehr. Dabei war gerade das Prinzip der Entwicklung den Momenten der Hegelschen Dialektik sympathisch, die in diesem deutschen Materialismus seit Feuerbach steckten. In der automatischen und mechanischen Erzeugung immer feinerer, höherer und zweckmässigerer Lebensgebilde schien die Natur von ihren elementaren Zuständen her über sich selbst hinauszutreiben - in den »Geist« hinüber: und in diesem Sinne hat David Friedrich Strauss mit seinem letzten Bekenntnis, dem »Alten und neuen Glauben«, dem Materialismus eine feine Aesthetisierung gegeben, worin er ihm die grösstmögliche Annäherung an das idealistische Bildungssystem aufzwang. Aber gerade diese persönlich reizvolle Kombination prägte dem in sich widerspruchsvollen Buch einen esoterischen Charakter auf und liess es in dem allgemeinen Interesse weit hinter den gröberen und plumperen Darstellungen zurücktreten. [65/66]
Gleichzeitig mit dem Materialismus hat sich bei uns der Pessimismus ausgebreitet. Auch er ist, soweit diese Stimmung darauf Anspruch macht, eine wissenschaftliche Theorie zu sein, schon längst vorher begründet, aber erst damals zur Anerkennung gelangt. Schopenhauer hatte seine irrationalistische Willensmetaphysik schon mitten während der grossen Zeit der idealistischen Bewegung ausgebaut. Sie erscheint damals, in dem historischen Zeitpunkte ihrer Entstehung (1819), abseits von der Gesamtentwicklung als eine persönliche Schöpfung, an der die Individualität mit ihrem Temperament und ihrem Schicksal ebensoviel Anteil hatte, wie die Energie eines originellen Denkens. Dies System war durch und durch getränkt mit dem Bildungsgehalte seiner Zeit, und es hatte vor allen Erscheinungen der gleichzeitigen Philosophie den Vorzug einer unvergleichlich schönen, glänzenden und eindrucksvollen Darstellung voraus. Dennoch war es Jahrzehnte lang so gut wie völlig unbeachtet geblieben: das Geschlecht, das von dem Glauben an die Vernunft in der Welt und der Geschichte überzeugt war, hatte mit dieser systematischen Darstellung des Elends aller Wirklichkeit nichts anzufangen gewusst. Jetzt aber, in der Mitte des Jahrhunderts, war die Stimmung in Deutschland für Schopenhauer reif geworden: er erlebte es noch, dass er, wie er immer behauptet hatte, als der legitime Erbe Kants anerkannt, dass seine Lehre die Philosophie der Zeit wurde. Die Grundzüge dieser Lehre sind [66/67] seitdem in dem allgemeinen Bewusstsein bekannter geblieben, als die irgend eines andern von den grossen deutschen Philosophen. Er führte den voluntaristischen Irrationalismus über Schelling hinaus und bis ans Ende: er streifte das mystisch-religiöse Moment beinahe vollständig ab und machte damit den Irrationalismus von den historischen Traditionen frei, in die ihn Schelling verwickelt hatte. Das Ding an sich, das für die rationale Erkenntnis unzugänglich ist, kann nur in unmittelbarer Anschauung erlebt werden, und so zeigt es sich in uns als der Wille. Aber als der Wille, der zugleich das Wesen aller Erscheinung bedeutet, ist es nicht der durch die Vorstellung bestimmte, sondern der dunkle, der unvernünftige Wille. Er will nichts als leben, d. h. immer wieder wollen: und deshalb ist er der seinem Wesen nach immerdar unbefriedigte Wille. Die Unlust gehört zu seiner Natur. Alle die Gestaltungen, mit denen er sich in die zeitliche Erscheinung ergiesst, können an diesem seinem Wesen und dieser seiner Unlust nichts helfen: es gibt keine Entwicklung, die ihn von sich selbst befreien, die ihn selber umbilden oder ihn weiterbringen könnte.
In den Begriffen der Schopenhauerschen Philosophie nimmt dieses trüb gestimmte Weltbild grosse wissenschaftliche Formen an, mit denen es gerade den durch die Interessen der Naturforschung bestimmten Denkgewohnheiten in der Mitte des 19. Jahrhunderts sympathisch werden konnte. Alle [67/68] Erkenntnis ist auf das Allgemeine, auf das Ewige, das sich gleich Bleibende gerichtet, und in Platon und seiner Ideenlehre sieht Schopenhauer neben Kant das höchste Vorbild seines Philosophierens. So sucht er in dem Willen die letzte allgemeinste Einheit, die der bunten Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu Grunde liegt, und in dieser wieder die dauernden Erscheinungsweisen, die im Wechsel des Geschehens beharren, die Gattungstypen und ihre Gesetzmässigkeit, die Allgemeinbegriffe des Seins und des Geschehens. Deshalb trägt sein wissenschaftliches Denken durchgängig die Züge der Naturforschung an sich, insofern diese, wie auch Kant ihren Begriff bestimmte, wesentlich auf die allgemeinen Formen der Erscheinungen gerichtet ist. Wissenschaft ist deshalb für Schopenhauer Naturwissenschaft, Erklärung alles Besonderen aus dem Prinzip kausaler Gesetzmässigkeit. Vom Einzelnen gibt es kein Wissen, und deshalb ist die Geschichte keine Wissenschaft: deshalb ist auch die in der Analogie zu solcher Auffassung der Wissenschaft gedachte Philosophie Schopenhauers schliesslich die absolut unhistorische Weltansicht, und darin ist Schopenhauer in der Tat der wahre Antipode Hegels gewesen. Das historisch-konkrete Einzelne hat als eine vorübergehende Objektivation des Allgemeinen keinen eigenen Wert, und die Vorgänge des Geschehens, die successive Entladung des immer gleichen Willens in den Wechsel der zeitlichen Erscheinung, bilden in sich und mit einander keine [68/69] Entwicklung, keinen bedeutsamen Zusammenhang. Es ist in der Welt immer dasselbe Elend, dieselbe Unlust des niemals befriedigten Willens. Die Personen und die Kostüme wechseln, aber die Sache ist immer dieselbe: idem sed aliter.
Für den Philosophen freilich gab es eine Erlösung von diesem Unheil der Welt: in demselben Sinne wie Spinoza die Ueberwindung der Leidenschaft durch die Erkenntnis und wie Goethe die Selbstbefreiung durch dichterische Gestaltung erlebt und gelehrt hatte. Schopenhauer selbst hatte mit seinem heissen und heftigen Willen Anteil genug an der Unvernunft und der Unseligkeit der Lebensbejahung: aber von der Höhe des Intellekts her konnte er in stiller Betrachtung der ganzen Unrast und Unlust des Willenslebens zuschauen. Aus diesem eigenen Erlebnis erwuchs ihm die Lehre von der Selbsterlösung des unvernünftigen Willens durch das reine, auf das Ewige gerichtete Denken und Schauen, von der Ueberwindung des Willens in der begierdelosen Betrachtung der Wissenschaft und der Kunst. Wie das im Grunde genommen doch nur eine Ausführung der Kantisch-Schillerschen Aesthetik mit ihrer Lehre von der interesselosen Betrachtung der reinen Form bedeutete, so kam darin die ganze Gesinnung des ästhetisch-philosophischen Bildungssystems zutage, in welches noch die Entstehung dieser Philosophie vollständig eingebettet gewesen war. So gut wie mir irgend ein anderer, ist Schopenhauer der Schüler Kants und Goethes ge-[69/70]wesen, und darum bekannte er sich zu jener Selbstverständigung des ästhetischen Bewusstseins, worin Schiller die reifsten Gedanken jener beiden beherrschenden Geister vereinigt hatte. Und wie dies, so stammte auch die letzte Wendung, die Schopenhauers Denken nahm, aus derselben Bildungsatmosphäre, nur aus einer anderen unter ihren Richtungen: er überbaute seine Ethik des Mitleids und seine Lehre von der erlösenden Kraft der Wissenschaft und der Kunst schliesslich noch, getreu dem Zuge der irrationalistischen Mystik, mit den Idealen asketischer Willensverneinung und mit dem sehnsüchtigen Ausblick in die selige Ruhe des Nirvana. Wenn nun aber nachher um die Mitte des Jahrhunderts, in den Zeiten der Enttäuschung und Bedrücktheit, seine Lehre die Gemüter in weitem Umkreise gefangen nahm, so war der Glaube an den Wert von Wissenschaft und Kunst erlahmt, für die Mystik bestand höchstens in den positiv religiösen Kreisen Verständnis, die den »atheistischen Buddhismus« Schopenhauers perhorreszierten, und so wirkte aus seiner Philosophie damals doch am meisten seine düstere Predigt vom Unwert des Lebens. Die lyrische Stimmung des Weltschmerzes wollte eine wissenschaftliche Theorie geworden sein.
So ist denn schliesslich die Wirkung der drei Strömungen, die aus dem Zusammensturz des Idealismus hervorbrachen, dieselbe gewesen: die Entwertung des Lebens. Sie vollzog sich in dem mystischen Irrationalismus supranaturaler Offenbarun-[70/71]gen, die in der Welt nur den sündigen Abfall von der göttlichen Urwirklichkeit, nur das Reich des Bösen und der Entladung des unvernünftigen Willens sehen wollten. Sie vollzog sich ebenso in der Herrschaft des Materialismus, der im Wesen der Dinge nur körperliche Realität anerkennt, alle Wertbestimmungen nur als Produkte und Regungen des kleinen Menschenhirns ansieht und gerade darauf stolz ist, dass er als eine »wertfreie« Welterkenntnis überall nur den gesetzmässigen Ablauf mechanischer Bewegungen nachweisen will. Sie vollzog sich endlich in der pessimistischen Lebensansicht, die in aller Weite der Welt nur das Treiben des blinden Willens und deshalb nur ein trostloses Einerlei von Unvernunft und Elend sieht. Für das von seiner eigenen Geschichte enttäuschte Geschlecht war der historische Idealismus auf allen Seiten in sein Gegenteil umgeschlagen: in eine geschichtslose und wertlose Weltanschauung. [71/72]



IV. Positivismus, Historismus, Psychologismus.


Es ist die Aufgabe dieser Betrachtungen, in dem Zusammenhange der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung der deutschen Nation während des 19. Jahrhunderts die Weltanschauungsmotive klarzulegen, die darin mitspielen und in denen das Leben selbst sich spiegelt. Für eine solche Betrachtung versteht es sich von selbst, dass sie sich an den Durchschnitt zu halten hat. Die Stellung der einzelnen Persönlichkeiten verschiebt sich dabei mehrfach aus der Mittellinie: sie sind, wie es überall und immer in der Geschichte der Fall ist, manchmal ihrer Zeit voraus, sie bleiben manchmal hinter ihr zurück. Unser Ueberblick folgt der allgemeinen Entwicklung und sucht sie aus den führenden Persönlichkeiten zu verstehen, aus den hervorragenden Werken, die ihre Mitwelt bewegt haben. Mit dieser Betrachtung kommen wir aber nun zu Jahrzehnten, die eigentlich keine Weltanschauung haben, die eine solche fast prinzipiell ablehnen und jedenfalls überzeugt sind, sich ohne sie auch in ihrem geistigen Leben behelfen zu können und zu sollen. Dabei hat es natürlich [72/73] in diesen Zeiten den einzelnen Individuen, den grösseren und den kleineren, nicht an solcher Weltansicht gefehlt: aber das Charakteristische ist, dass im ganzen doch auf deren Besitz schon im persönlichen Leben nicht mehr soviel Gewicht gelegt wurde, wie in den früheren Zeiten, und dass man namentlich nicht mehr das Bedürfnis hatte, für ein gemeinsames geistiges Leben eine zentrale Weltansicht zum beherrschenden Mittelpunkt zu machen. Die Lebensbetätigungen konnten auseinandergehen und gingen auseinander, weil sie sich an den besonderen Aufgaben der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit entfalteten und daran mit ihrem Interesse und ihrem Denken festgehalten wurden. Sie fanden ihren Mittelpunkt in den Gesinnungen, welche sich auf die Gemeinschaft der politischen und der sozialen Arbeit konzentrierten, und sie schienen eines anderen Mittelpunkts in einer theoretischen Weltansicht zunächst nicht zu bedürfen. Dem zur Tat gereiften Geschlecht wollte die Theorie überflüssig erscheinen.
Aus jener Zeit der geschichtslosen, materialistischen und pessimistischen Stimmungen ist unser Volk emporgerissen worden durch die ungeheuren Geschicke, die sich an die Lebensarbeit einer gewaltigen historischen Persönlichkeit knüpften, an Bismarck. Es war eine jener Gottesgaben der Genialität, die den Völkern nur alle paar Jahrhunderte zuteil werden. Mit dieser politischen Wandlung aber sahen wir uns unwiderstehlich hineinge-[73/74]rissen in eine Fülle realer Arbeit, die alle Kräfte, alle Interessen und alle Tätigkeiten auf das höchste anspannte, für sich in Anspruch nahm und verbrauchte. Das ergab eine kolossale Expansion, eine extensiv und intensiv gleichmässig gesteigerte Entfaltung der Volkskräfte in politisch-sozialer, in technisch-industrieller, in ökonomischer und kommerzieller Richtung. Alle diese überraschend gesteigerte Tätigkeit mit ihrer riesigen Konsumption der Arbeitskraft ist uns über Nacht gekommen, und es ist nicht zu verwundern, dass wir dabei zunächst nicht zu Atem kamen. Der Raum und die Zeit für die Selbstbesinnung, für die theoretische Selbstverständigung war beengt, die Volkskraft so nach aussen gerissen, dass sie sich nicht sogleich nach innen sammeln konnte. Wohl brachte die neue Arbeit mit den neuen Aufgaben auch neue Ideale; an ihnen fehlte es jenen Tagen durchaus nicht, aber sie fanden noch keine anschauliche oder begriffliche Klärung und darum keine eigene Philosophie. Es bestätigte sich wieder einmal, was Hegel gesagt hat, dass die Eule der Minerva ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt. Der Tag war damals zu hell für sie. Die Höhezeit unseres politischen Lebens hat, wie keine grosse Dichtung, so auch keine adäquate Philosophie geschaffen, worin ihr Lebensinhalt zum gedanklichen Ausdruck gekommen wäre.
So brach für Deutschland ein positives Zeitalter herein, das im allgemeinen kein metaphysisches [74/75] Bedürfnis besass. Im Leben stellte sich diese Positivität als die gesteigerte Energie der nach aussen gerichteten Tätigkeiten, als starke Betonung des Könnens und Wirkens, als wachsende Gleichgültigkeit gegen die Theorie dar: für die Wissenschaft entfaltete sie sich in der emsigen Arbeit der Spezialdisziplinen, in den grossen Erfolgen der Naturforschung und der geschichtlichen Kulturwissenschaften. Daher hörte um jene Zeit die Literatur auf, das einzige oder das wesentliche Interesse der Nation zu sein, wie sie es Jahrzehnte lang in der Tat gewesen war: und darum bildete diese Literatur auch nicht mehr den intimen Ausdruck des inneren Lebens ihrer Zeit. So allein ist es zu verstehen, dass die allgemeine Literatur der 70er und 80er Jahre bei uns in so geringem Masse das bewegte Leben jener Tage zum Ausdruck gebracht hat, dass vielmehr darin die materialistischen und pessimistischen Stimmungen über jenen Höhepunkt der politisch schöpferischen Zeit hinaus eine dauernde Herrschaft ausgeübt haben.
In der Flut der populären Schriften jener Jahrzehnte tritt am stärksten und verwunderlichsten der Pessimismus hervor. Zweifellos lag darin eine Nachwirkung Schopenhauers; aber ein grosser Teil des vorwiegenden Interesses am Pessimismus knüpfte sich an die glänzende Erscheinung der »Philosophie des Unbewussten« von Eduard von Hartmann. Das metaphysiklose Geschlecht liess sich durch die mit Schopenhauer an schriftstellerischem Reiz wett-[75/76]eifernde Darstellung eines neuen Systems blenden und fesseln, das im Grunde genommen nichts anderes war, als ein verspäteter Sprössling an dem sonst schon verdorrenden Stamm des deutschen Idealismus. In seiner ersten Gestalt konnte dieses System gewissermassen als das letzte Wort des Irrationalismus gelten. Hartmann hatte zwar ausdrücklich die Absicht, die beiden Zweige der idealistischen Entwicklung, die rationale und die irrationale, Hegel und Schopenhauer, zusammenzubiegen, und er fand die Möglichkeit dazu mit glücklichem Blicke in der Schelling'schen Freiheitslehre: aber es überwog dabei doch der irrationalistische Voluntarismus und die Schopenhauersche Prägung, wonach das Alogische das wahrhafte und ursprüngliche Wesen, das Logische dagegen das Prinzip seiner Erscheinung bildete. Aehnlich stand es bei Hartmann ursprünglich hinsichtlich der Fragen nach dem Wert von Welt und Leben. Er fand zwar die witzige Synthesis, wonach diese Welt allerdings durchaus mit Leibniz als die beste unter den möglichen betrachtet werden dürfe, aber darum noch lange nicht die gute, sondern vielmehr mit so vielen Uebeln behaftet sei, dass auch ihre Existenz als ein Werk des unvernünftigen Willens anzusehen und deshalb rückgängig zu machen sei: eben damit aber fiel die Bewertung des wirklichen Daseins doch schliesslich ganz im Sinne des Pessimismus aus, und in seiner packenden Darstellung der Illusionen des menschlichen Lebens häufte Hartmann die Argumente für [76/77] den Versuch, den düstern Stimmungen den wissenschaftlichen Beweis ihrer unentfliehbaren Notwendigkeit unterzuschieben. Erst als der Philosoph mit der Aufnahme des Evolutionismus, den er in der Gestalt der Descendenztheorie in den naturwissenschaftlichen Teil seines Werks hineinarbeitete, begrifflich eine neue Stärkung des Hegelschen Momentes seiner Gedanken gewann, sah er sich imstande, das Logische zur vollen Ebenbürtigkeit mit dem Alogischen zu erheben und den fortschreitenden Prozess des geschichtlichen Lebens als eine im Wesen der Wirklichkeit selbst begründete Vernünftigkeit zu erfassen, die dann ein Bejahen des in der Entwicklung begriffenen Lebens und eine freudige Mitarbeit an seiner Bewegung gestattete. Aber freilich, in letzter Instanz galt auch diese vernünftige Entwicklung des Logischen als nur darauf gerichtet, dass die Unvernunft des Willens völlig durchschaut und vernichtet werde. Auch das religiöse Leben erschien nur als die Mitarbeit des Menschen daran, dass das Weltwesen sich von seiner eigenen Unseligkeit erlöse. Während aber bei Hartmann die durch die Rückkehr zu Hegel bestimmte wissenschaftliche Arbeit immer ernster, gediegener und deshalb unpopulärer wurde, ergoss sich der Pessimismus, gereimt und ungereimt, in mächtigen Wellen über unsere Literatur. Heutzutage allerdings ist auch diese Literatur schon fast ebenso vergessen, wie die Philosophie des Unbewussten, die vielleicht noch hie und da von begeisterten Anhängern gepriesen [77/78] wird, aber im Ganzen schon durchaus der Geschichte angehört.
Ein Teil ihrer damaligen Wirkung beruhte zweifellos auch darauf, dass es, wie Hartmann selbst, so auch vielen seiner Zeitgenossen schien, als seien die spekulativen Resultate nach induktiv naturwissenschaftlicher Methode gewonnen. Damit bekam diese Philosophie einen durchaus zeitgemässen Anstrich. Denn den Löwenanteil an dem Interesse, das der idealistischen Philosophie entzogen wurde, fiel zweifellos zunächst der Naturforschung zu. Ihre gewaltige Entwicklung in der Mechanik, in der Chemie, in der Elektrizitätslehre und ihre glückliche und tatkräftige Anwendung in der Technik brachten uns in jenen Jahrzehnten die rapide Umgestaltung aller äusseren Lebensverhältnisse, die sich auch heute noch in ungeahnte Entwicklungen der Zukunft fortsetzt, und damit gewann die Naturwissenschaft das innere Interesse der Zeit umso mehr für sich, als sie in grossartiger Weise auch das intellektuelle Bedürfnis zu befriedigen vermochte. Es war deshalb nicht bloss ihre handgreifliche Verwertbarkeit, sondern auch die Bedeutsamkeit der Theorie, womit sie die Geister gefangen nahm. Sie konzentrierte damals die gesamte Auffassungsweise der äusseren Natur für die begriffliche Wissenschaft auf zwei grosse einander ergänzende Prinzipien: das der Erhaltung der Energie, wie es in Deutschland von Robert Mayer und Helmholtz formuliert wurde, und das der Entwicklung, das nach Darwins [78/79] Vorgange die Rätsel der organischen Welt zu lösen versprach. Erschien nach dem ersten dieser Prinzipien das ewig gleiche Wesen der physischen Welt begriffen, so galt das zweite als Erklärung für die aufsteigende Gestaltung des Neuen auf dem immer gleichen Grunde des Lebens. Diese Prinzipien genügten den grossen Forschern als die regulativen Ideen für ihre empirischen Untersuchungen, als die umfassenden methodischen Mittel für die Erkenntnis des Besonderen in der Erfahrung: aber gerade der Ernst und die Gewissenhaftigkeit dieser exakten Forschung bewahrte sie davor, daraus eine philosophische Weltanschauung machen zu wollen. In ihrer Abneigung gegen alle Metaphysik lehnten gerade die bedeutenden Naturforscher auch den Materialismus ab, dessen populäre Vertreter sich natürlich den Anschluss an jene grossen allgemeinen Prinzipien nicht entgehen liessen und bis auf den heutigen Tag in den populären, für die grossen Massen bestimmten Büchern nicht entgehen lassen: es braucht in dieser Beziehung für heute nur an Häckels Schriften erinnert zu werden.
Diese Abneigung der positiven Wissenschaft gegen jeden Versuch der Begründung einer philosophischen Weltanschauung fand nun um jene Zeit ihren Ausdruck in der von den verschiedensten Seiten verlangten und versuchten »Rückkehr zu Kant«, und in ihr sprach sich damals das Bedürfnis eines Bundes zwischen Philosophie und Naturwissenschaft aus, eines Bundes, der natürlich eine [79/80] gänzlich veränderte Stellung der Philosophie zu ihren eigenen Aufgaben und zu den Arbeiten der Naturforschung voraussetzte. Die idealistischen Systeme der nachkantischen Entwicklung, die sich zum Teil als eine Vergewaltigung der empirischen Naturforschung dargestellt hatten, waren in Vergessenheit und Verachtung gefallen; für ihre Terminologie schon war das Verständnis verloren gegangen; ihre wunderliche Sprache, die sie mit ihren Gedanken der gebildeten Welt eine Zeitlang aufgezwungen hatten, verstand man jetzt sowenig mehr, als man sie noch redete. Dazu kamen die dem allgemeinen Bewusstsein leicht eingehenden Schmähungen, welche der vielgelesene Schopenhauer gegen jene Systeme richtete, während er ihnen gegenüber immer nachdrücklich auf Kant als den wahren Philosophen hinwies. So hatten denn Männer[,] wie Eduard Zeller und Otto Liebmann den Ruf nach Rückkehr zu Kant erhoben, und zu gleicher Zeit brachte Kuno Fischers glänzende Darstellung die kritische Philosophie mit ihrer ganzen imponierenden Klarheit und Sicherheit dem Bewusstsein der Zeit entgegen. Aber die Sympathie, welche die grossen Naturforscher jener Tage, Helmholtz an der Spitze, der Lehre Kants entgegenbrachten, beruhte doch im wesentlichen darauf, dass in seiner Philosophie die Beschränkung der wissenschaftlichen Erkenntnis auf die Erfahrung und die Unmöglichkeit aller Metaphysik, die er erwiesen hatte, als das Bedeutsamste angesehen wurde. Dadurch [80/81] war dann auch die Auffassung bestimmt, welche in dem beginnenden Neukantianismus die herrschende war. Man kann sagen, dass die Grösse der Kantischen Philosophie gerade in ihrer Vieldeutigkeit besteht. In dem umfassenden Geiste des Königsberger Philosophen sind in gewissem Sinne alle Motive des menschlichen Denkens über Welt und Leben vertreten, alle Saiten gleichmässig angeschlagen, und so kommt es, dass, wie schon gleich nach ihm aus seiner Lehre eine Fülle verschiedener philosophischer Systeme erwuchs, von denen jedes sich als die folgerichtige Entwicklung seiner Prinzipien betrachten durfte, so auch weiterhin die verschieden gestimmten Zeiten verschiedene Seiten seiner Lehre als die für sie bedeutsamen hervorzukehren vermocht haben. Damals war die den positiven Neigungen der Zeit entsprechende Auffassung die, dass die kritische Philosophie nicht etwa nur hauptsächlich, sondern ausschliesslich Erkenntnistheorie sei und sein solle, und zwar eine Erkenntnistheorie des Empirismus, die jede Metaphysik als unwissenschaftlich verdamme. Dass für Kant dabei die Begründung der rationalen Theorie die Hauptsache gewesen war, dass für ihn die Widerlegung der wissenschaftlichen Metaphysik den Weg zu der Metaphysik des Glaubens gebahnt hatte und dass er für die vernunftnotwendige Betrachtung eine Weltanschauung in grossen Linien ausgeführt hatte, davon wusste man nichts oder wollte man nichts wissen, - wie ja schon Schopenhauer alle Verbin-[81/82]dungslinien zwischen Kants theoretischer und praktischer Philosophie schroff abgeschnitten hatte. Für jene Zeit galt Kant wesentlich als der Riese, der den Dogmatismus zermalmt und sich und die Philosophie auf den fruchtbaren Boden der Erfahrung gestellt habe. Will man die Grundstimmung, aus der damals Kant aufgefasst wurde, in ihren wesentlichen Momenten sich vorführen, so muss man Friedrich Albert Langes »Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung für die Gegenwart« zur Hand nehmen. Es ist das Buch, welches vom wissenschaftlichen Standpunkte wohl am meisten dem Vordringen des Materialismus Abbruch getan hat. Es vermochte dies gerade durch die Objektivität, mit der darin die wissenschaftlichen Motive des materialistischen Denkens in ihrer Bedeutsamkeit gewürdigt und die landläufigen Verunglimpfungen der vermeintlichen unmoralischen Konsequenzen des Materialismus zurückgewiesen wurden: Langes Ueberwindung des Materialismus bestand eben darin, dass er in ihm die Metaphysik nachwies und diese vom Standpunkt der kritischen Philosophie aus als unmöglich darlegte. Aber gerade seine Fassung der Kantischen Lehre ist eine durchaus empiristische Ausdeutung, sogar mit einem stark anthropologischen Einschlag, als ob die allgemeingiltigen Formen aller Erfahrungswissenschaft im spezifischen Wesen des Menschen begründet wären. Diese Erkenntnistheorie war einer Zeit sympathisch, welche die Möglichkeit einer philo-[82/83]sophischen Weltanschauung bestritt, weil sie ihrer für ihre realen Arbeiten nicht zu bedürfen meinte. Hatte doch auch Kuno Fischer in den Mittelpunkt seiner Darstellung der Kantischen Lehre die Unerkennbarkeit des Ding an sich gestellt, daraufhin Kants Entwicklung konstruiert, daraus sein System abgeleitet und danach die Wirkung Kants auf seine Zeit und die Bewegung der ersten Nachfolger begriffen. Andere, die sich nun diesen Kantischen Empirismus zu eigen machten, gingen viel weiter. Die Ansätze zu einer umfassenden Weltanschauung traten zurück, so sehr sie in Kants Ethik und Teleologie vorhanden waren. Das System der Kritik der Urteilskraft, das Reifste und Höchste, was Kant gedacht hat, blieb damals unverstanden und ist es in manchen vielgelesenen Darstellungen seiner Lehre bis auf den heutigen Tag geblieben, in denen man wohl gar das Systematische, das darin mit seinen glänzenden Erfolgen zu Tage tritt, als einen persönlichen Fehler des grossen Philosophen anzusehen geneigt ist.
Jener agnostische Neukantianismus im achten und neunten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts hatte, je mehr er das rationale Moment der kritischen Philosophie vernachlässigte, einen entschiedenen Zug zum Positivismus. Die empiristische Erkenntnistheorie, die man aus Kant herauslas, bekam mehr und mehr die Neigung, die »Kritik« durch eine psychologische und genetische Analyse zu ersetzen; sie wurde ideologisch, und indem sie die [83/84] Kantische Apriorität mit psychischer Priorität verwechselte, neigte sie bald auf der einen Seite wieder zu David Hume, auf der andern zu Auguste Comte. Aber in der bunten Mannigfaltigkeit der Schattierungen, in denen sich dieser Empirismus bewegte, war das gemeinsame Ergebnis nur die restlose Auflösung aller Philosophie in Erkenntnistheorie. Das war in Wahrheit niemals die Absicht von Kant selbst gewesen: er sah immer sein »kritisches Geschäft« als das propädeutische an, nach dessen Erledigung er zum »doktrinalen« fortschreiten wollte. Jene Erkenntnistheorie dagegen, die sich zum Teil mit seinem Namen deckte, war im Grunde genommen nur der bewusste Verzicht auf wissenschaftliche Weltanschauung, und dabei spielte dann wohl gelegentlich in diesem Empirismus auch etwas naiver Materialismus eine ungeklärte und unzugestandene Rolle. Jedenfalls gefiel man sich darin, alle metaphysischen Systeme als »Begriffsdichtungen« anzusehen und ihnen, ähnlich wie den Mythen des religiösen Vorstellens, in der Weise, wie es vorbildlich Albert Lange getan hatte, nur die praktische Bedeutung auf dem »Standpunkt des Ideals« zuzubilligen.
Das war die Zeit der Verachtung der Philosophie, wo man als unklug und rückständig galt, wenn man sich mit ihr selbst beschäftigen wollte und in ihr mehr sah, als ein phantasievolles und durch Gemütsbedürfnisse bestimmtes Spiel der Vorstellungen, worin jedes Volk und jede Zeit sich er-[84/85]gangen habe und worin wissenschaftlich Allgemeingiltiges zu suchen ein törichtes und erfolgloses Unternehmen sei. Immerhin galt damals wenigstens die historische Beschäftigung mit diesen Bestrebungen des menschlichen Geistes als ein würdiger Gegenstand wissenschaftlicher Arbeit. Je unfruchtbarer die Philosophie selbst war, umsomehr blühte ihre Geschichte. In dem akademischen, wie in dem literarischen Betriebe jener Zeit, nahm die Geschichte der Philosophie einen ungewöhnlich breiten Baum ein. Zahllose Einzelarbeiten begannen sich mit ihr zu beschäftigen, und aus der Fülle dieses Stoffes wuchsen die monumentalen Werke von Johann Eduard Erdmann, Eduard Zeller und Kuno Fischer hervor. Für die Gesamtdarstellung blieb dabei in den grossen Linien die Hegelsche Auffassung mit ihren Kategorien massgebend, aber in der Ausführung des Einzelnen machte sich die empirische Tendenz der Zeit in der methodischen Sorgfalt und der exakten Kritik bei der Verwendung und dem Verständnis des Tatsächlichen geltend. Wie für die antike Philosophie die Ergebnisse der klassischen Philologie ihre genaue Berücksichtigung verlangten, so wurden dieselben Methoden auch auf die mittlere und neuere Zeit angewendet. Die Geschichte der Philosophie war bald nicht mehr eine philosophische Wissenschaft, wozu sie Hegel hatte machen wollen, sondern eine empirische Wissenschaft, wie jede andere historische Disziplin, und damit stellte sich die philosophiegeschichtliche Ar-[85/86]beit mitten in den grossen Zusammenhang der glänzenden Leistungen der historischen Wissenschaft überhaupt, die jenes positive Zeitalter ebenso zeitigte, wie die mächtige Entwicklung der Naturforschung. Weniger palpabel, weniger bedeutsam für die nächsten Aufgaben und Zustände des praktischen Lebens und deshalb der populären Schätzung etwas fernerstehend, ist doch diese Entwicklung der Kulturwissenschaft in ihrem inneren Wert und in ihrer scientifischen Bedeutsamkeit während des 19. Jahrhunderts gerade so hervorragend und gerade so erfolgreich gewesen, wie in ihrer Weise die Entfaltung der Naturwissenschaften. Die Andacht zum Kleinen, die Sorgfalt in der kritischen Feststellung des Tatsächlichen, die Ausbildung des methodischen Apparates, alles dies entspricht auch hier den Bedürfnissen des realistischen und empiristischen Zeitalters: aber wo man von dem einzelnen aus sich zu geschlossenen Gesamtdarstellungen erheben wollte, da begegnen uns immer wieder, ungewusst und ungewollt, die grossen Linien der Hegelschen Gesamtauffassung der Geschichte. Und wenn sich alle ihre einzelnen Zweige, die von der Entwicklung der Staaten und der wirtschaftlichen Verhältnisse, der Literatur, der Kunst, der Religion zu handeln haben, schliesslich zu einer »Kulturgeschichte« zusammenzufassen suchten, so erscheint die wissenschaftliche Gestaltung des historischen Kosmos, worin sich alle Arbeit der Kulturwissenschaften zusammenschliesst, als ein ebenbürtiges Gegenstück zu dem physischen Kosmos, zu [86/87] dessen Bilde sich alle Ergebnisse der Naturforschung vereinigen sollen.
Aber für die Philosophie selbst war diese intensive Beschäftigung mit ihrer Geschichte zunächst nur ein Symptom der Schwäche und der Ermattung. Denn diese Auflösung der Philosophie in ihre Geschichte gestaltete sich hier ganz anders als bei Hegel. Die einzelnen Systeme galten nicht mehr als die Momente der Wahrheit, sondern als solche der Unwahrheit. Ihre gegensätzliche und widerspruchsvolle Man[n]igfaltigkeit galt als die Widerlegung ihres Bestrebens. Für die allgemeine Meinung ergab sich aus der ganzen mühevollen Denkarbeit der Geschichte nur wieder die Relativität aller Weltansichten, die Verzweiflung an einer wissenschaftlich begründeten und dauernden Befriedigung des metaphysischen Bedürfnisses. »Es gibt keine Philosophie, sondern nur eine Geschichte der Philosophie« - in diesem Schlagwort ist die Stimmung der wissenschaftlichen Kreise jener Zeit vielleicht am schärfsten und prägnantesten zum Ausdruck gekommen. Und in der Tat, von der Philosophie selbst war damals herzlich wenig übrig geblieben. Was wir erkennen können, hiess es, das lehren die einzelnen Wissenschaften: all dies zu einem Ragout zusammenzulesen, wie das wohl während dieser empiristischen Zeit als Aufgabe der Philosophie bezeichnet wurde, war doch ein recht müssiges Geschäft. Die Welt noch einmal erkennen, nachdem die besonderen Wissenschaften allen ihren einzelnen [87/88] Teilen gerecht geworden waren, konnte nur entweder zu unnützen oder zu falschen Ergebnissen führen; auf jeden Fall war es unnötig und für eine eigene Wissenschaft kein würdiger Gegenstand. Selbst die Erkenntnistheorie, der man wenigstens noch eine kritische Stellung gegenüber der sonstigen wissenschaftlichen Arbeit zugewiesen hatte, war, abgelöst von allgemeineren und tieferen philosophischen Prinzipien, schliesslich wieder eine Lehre vom Ursprung und von der Entwicklung der Vorstellungen geworden. Namentlich wurde das dadurch begünstigt, dass die Physiologie der Sinnesorgane, wie schon bei Schopenhauer, so in der ganzen Entwicklung des Neukantianismus eine hervorragende Bedeutung für diese naturwissenschaftlich gestimmte Erkenntnistheorie gewonnen hatte. Die alte Lehre von der Subjektivität der Sinnesqualitäten schien durch Kants Lehre von der Idealität von Raum und Zeit zu einer allgemeinen Theorie erweitert zu sein, welche nach Art der antiken und mittelalterlichen Semeiotik alle menschlichen Vorstellungen von der Aussenwelt nur als praktisch verwertbare Zeichen, aber nicht als Erkenntnis vom Wesen der Dinge aufzufassen lehrte. Das war eines der Hauptmotive für jene allmähliche Umwandlung der Erkenntnistheorie in Psychologie. Und auf der andern Seite verlangte der historische Relativismus bei der Auffassung der verschiedenen geschichtlichen Gebilde des metaphysischen Denkens hauptsächlich ihre psychologische Erklärung aus den persönlichen [88/89] und allgemeinen Motiven der historischen Zuständlichkeit, der jedes solche System den adäquaten Ausdruck gegeben haben sollte. Diesem Relativismus verschlug es nichts, ja es war ihm vielmehr durchaus sympathisch, dass die Psychologie als eine kausale Erklärung des Tatsächlichen normative Kriterien des Wahren ebensowenig gewähren oder gewährleisten kann als des Guten: der Psychologismus erwies sich gerade als eine behagliche Grundlage für die Beruhigung bei den wechselnden Tatsachen der Geschichte. So blieb auf allen Linien als das eigentlich Philosophische schliesslich nur die Psychologie übrig.
Diese Psychologie konnte aber, der ganzen wissenschaftlichen Zeitlage gemäss, selbstverständlich nur eine empirische sein, und sie war für die Lösung dieser Aufgaben in keiner der begrifflichen Formen brauchbar, in denen sie von den metaphysischen Systemen ausgeführt worden war; selbst die Herbartische schien hier zu versagen. Die neue empirische Psychologie hatte vielmehr ihren gegebenen Halt an der Naturforschung; Physik und Physiologie wurden für sie nicht nur methodische Vorbilder, sondern zum grossen Teil auch Fundstätten der Tatsachen, auf denen sie sich aufbaute. Damit vollzog sich die Ablösung dieser Psychologie von der Philosophie, sofern man unter letzterer die metaphysische Begriffswissenschaft verstand, und die Psychologie konstituierte sich mit vollem Bewusstsein als eine eigene selbständige Disziplin. Sie [89/90] musste dazu freilich nun andererseits ihre Anleihen bei der Naturforschung machen. Sie war wesentlich physiologische Psychologie. Als solche war sie ja schon nicht nur von den Materialisten, sondern auch von einem Manne wie Lotze betrieben worden, der mit der vollständigen Beherrschung des naturwissenschaftlichen Stoffs auch die volle Klarheit über die in den Aufgaben begründete methodische Verschiedenheit der einzelnen Wissenschaften besass. Zu diesen Voraussetzungen kam dann noch als eine besondere Anregung die von Fechner begründete Psychophysik hinzu. Mit einem Nachklang naturphilosophischer Gedanken hatte Fechner die durchgängige Koordination leiblicher und seelischer Zustände als einen besonderen Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung ins Auge gefasst. Diese Zusammenhänge zwischen physischen und psychischen Funktionen und die gesetzmässigen Verhältnisse ihrer Abwandlungen sollten experimentell untersucht werden, und da die seelischen Zustände eine unmittelbare Messung nicht in der Art wie die körperlichen zulassen, so entwarf Fechner feinsinnige Methoden zu ihrer indirekten Bestimmung. Der Zweck dieser Messungen aber bestand zuletzt immer darin, das Verhältnis des seelischen Geschehens zum leiblichen in der Erkenntnisform naturwissenschaftlicher Gesetzmässigkeiten, d. h. in mathematischen Formeln auszusprechen. Das alles war an sich sehr begründet und gerechtfertigt. Es war die Ausführung und die [90/91] methodisch gereifte Gestaltung der Aufgaben, welche sich bereits die psychologischen Forscher des 18. Jahrhunderts gesetzt hatten. Freilich kann darin nicht die ganze Psychologie bestehen, aber diese physiologischen Forschungen bilden in der Tat eine ihrer unerlässlichen Grundlagen: und so ist auf der Basis dieser alsbald in grossem Umfange und mit eifriger Vielgeschäftigkeit geführten Untersuchungen in der Tat die Psychologie eine neue und eigene Wissenschaft geworden. Es ist für sie damit geleistet worden, was in den früheren Jahrhunderten der Physik, der Chemie, der Nationalökonomie geschehen ist und was sich in unseren Tagen für die Soziologie angebahnt hat. An sich also ist diese empirische Psychologie zweifellos eine wertvolle Errungenschaft der Zeit, Sie wird die so gewonnene Stellung ausserhalb der Philosophie dauernd bewahren. Sie bleibt allerdings unter allen Spezialwissenschaften diejenige, welche die breitesten und zugleich die intimsten Beziehungen zur Philosophie hat. Denn diese handelt, wenn auch in völlig verschiedenem Sinn, mit ganz anderer Aufgabe und ganz anderer Methode, zum grossen Teil von denselben seelischen Funktionen, deren Erkenntnis und Verständnis das höchste Ziel für die genetische Erklärung in der Psychologie ausmacht. Umsomehr aber muss anerkannt werden, dass diese empirische Psychologie ausserhalb der Philosophie als eine besondere Erfahrungswissenschaft steht, die nicht selber Philosophie ist und nicht damit verwechselt werden darf. [91/92]
Und doch geschah gerade dies während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts bei uns in umfangreichem Masse. Während auf der einen Seite die Philosophie in den Relativismus der Geschichte der Philosophie aufgelöst wurde, ging andererseits der Rest, den man von ihr etwa noch in der Aufgabe der Erkenntnistheorie übrig behalten und aufrechterhalten hatte, in empirische Psychologie auf. Statt der Philosophie hatte man nun zwei Surrogate: ihre Geschichte und die Psychologie. Und hinsichtlich der letzteren wurde der Zustand um so enger und einseitiger, je mehr zeitweilig in ihr durchaus das experimentell-psychophysische Moment überwog und alles zu sein beanspruchte. Es war eine zeitlang in Deutschland beinahe so, dass der Befähigungsnachweis zum Besteigen eines philosophischen Katheders schon als erbracht galt, wenn jemand methodisch auf elektrischen Knöpfen zu tippen gelernt hatte und in langen, tabellarisch wohlgeordneten Versuchsreihen zahlenmässig beweisen konnte, dass manchen Menschen langsamer etwas einfällt, als anderen. Das war ein wenig erfreuliches Blatt in der Geschichte der deutschen Philosophie. Diesem psychologistischen Ersatz der Philosophie mochte es unter Umständen bei gewissen Instanzen zur Empfehlung dienen, dass solche empirische Psychologie, ihrer ganzen methodischen und sachlichen Struktur nach, von den grossen Problemen des Lebens, den politischen, religiösen und sozialen Fragen, sich in vorsichtiger [92/93] Entfernung zu halten wusste und zu ihnen noch weniger Stellung zu nehmen brauchte, als die historische Reproduktion der philosophischen Lehren der Vergangenheit. Gerade deshalb aber war die Philosophie, als welche diese Psychologie sich ausgab, auch völlig unzulänglich gegenüber den drängenden Anforderungen einer mit sich selbst und ihren grossen Aufgaben ringenden Zeit: und die Gleichgültigkeit dieser Zeit gegen eine Philosophie, die ihr nichts Besseres zu bieten wusste, ist im höchsten Grade begreiflich.
Trotz alledem muss auch diese zeitweilige Vorherrschaft des Psychologismus als symptomatisch in einem allgemeineren Zusammenhange gewürdigt werden. Er gehört nicht nur zu den Zeichen der Zeit, welche ihre Prägung durch den Rückschlag eines nüchternen Wirklichkeitssinnes und eines verstandesmässigen, schwunglosen Denkens erhielt, und er fügt sich damit nicht nur als bezeichnender Zug der gesamten technisch-naturwissenschaftlichen Tendenz in der grossen Breite des zeitgenössischen Lebens ein: sondern er hat, wie diese ganze Richtung, während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch noch seine spezifische Bedeutung und seinen unverkennbaren Wert gehabt. Fassen wir nämlich alles zusammen, was darin sich verbunden hat, die Gleichgültigkeit gegen metaphysische Grübeleien, der Sinn für das Tatsächliche und Praktische, die Vorliebe für das empirisch-psychologische Studium des Menschen im Rahmen naturwissenschaftlicher Denk-[93/94]weise überhaupt, - so haben wir darin alle Züge der Aufklärung vor uns. Es steckte darin eine Art von Erneuerung von Grundgedanken des grossen 18. Jahrhunderts; mit diesem Psychologismus trat der breite Strom der aufklärerischen Prinzipien wieder an die Oberfläche, und so wenig er jetzt originell war und im eigensten Sinne Neues schaffen konnte, so heilsam und bedeutsam war vom Materialismus an bis zu diesen seinen Nachwirkungen doch die darin liegende vernünftige Ernüchterung im Gegensatz zu mancherlei romantischen Auswüchsen, zu denen im öffentlichen Leben, in den politischen und religiösen Fragen die Herrschaft des Idealismus Anlass gegeben hatte. So berechtigt und segensreich, so nötig und unerlässlich dereinst die Ueberwindung der Einseitigkeiten der Aufklärung durch die klassische Entwicklung der deutschen Dichtung und Philosophie gewesen ist, so unberechtigt und bedenklich war der vornehmtuerische Hochmut, womit in den romantischen Ausklängen der klassischen Zeit auf die Aufklärung heruntergeblickt und der unvergängliche Wert ihrer grossen Leistungen verkannt wurde. In vielen Dingen sind wir heutzutage in der Lage, für die Errungenschaften der Aufklärung an Klarheit und Freiheit des geistigen Lebens noch einmal in den Kampf, vielleicht in einen schwereren Kampf treten zu müssen, als sie ihn siegreich bestanden hat. Und wenn in einem solchen Kampfe um hohe Güter jede Bundesgenossenschaft willkommen sein muss, so wird man [94/95] von diesem Gesichtspunkte aus auch jenen Psychologismus, vielleicht mehr seiner negativen als seiner positiven Leistungen wegen, doch in seiner Wirkung auf das allgemeine Bewusstsein als etwas Berechtigtes und Erfreuliches einzuschätzen haben. [95/96]



V. Die neuen Wertprobleme und die Rückkehr

zum Idealismus.


Die Tatsachensammlungen und die Theorien der empirischen Psychologie drangen mit ihrer nüchternen Forschung allerdings in die intimen Lebenszusammenhänge und die wahren Probleme ihrer Zeit nicht ein: aber sie konnten sich doch deren Einfluss nicht völlig entziehen, und so lassen auch sie in ihrer allgemeinen Struktur deutlich erkennen, was sich in der Bewegung des Volksgeistes vollzogen hatte und weiter vollzog: die Abwendung vom Intellektualismus und die immer entschiedener hervortretende Neigung zum Voluntarismus. Diese Wendung war zwar von vornherein mit dem Vorwiegen des praktischen Momentes seit Kant und Fichte schon in den allgemeinen Prinzipien der Philosophie angelegt. Aber wie sie metaphysisch fast nur von Schopenhauer verfolgt, dagegen in der Schelling-Hegelschen Lehre wieder mehr zu Gunsten des logischen Momentes zurückgedrängt worden war, so hatte sie in der Psychologie selbst sich nicht eigentlich zur Geltung gebracht. In den mittleren Jahrzehnten war die deutsche Psychologie [96/97] und ihrzufolge auch die Pädagogik in der Hauptsache von Herbart beherrscht gewesen. Dessen allgemeines philosophisches System war freilich viel zu abstrakt und trocken, viel zu sehr von begrifflichen Künsteleien bestimmt, als dass es zu dem inneren Leben der Zeit in irgendwie wirkungsvolle Beziehungen hätte treten können. Auch den besonderen Wissenschaften, namentlich der Naturforschung, blieb es fremd: im Gegensatz zu dem logischen Idealismus trat es dazu in kein feindliches, aber auch in kein freundliches oder förderliches Verhältnis. In der Psychologie dagegen fand Herbarts eigenartige und mit grosser Sorgfalt von seinen Schülern, wie von ihm selbst durchgeführte Behandlung, welche diese Wissenschaft zwar auch auf Metaphysik, aber daneben doch auf Erfahrung und Mathematik begründen wollte, einen verhältnismässig günstigen Anklang bei dem naturwissenschaftlich gerichteten Denken der Zeit. Es schien, als sollte es nun vom seelischen Leben eine ebenso exakt entworfene Theorie geben, wie von den Bewegungen der Körper. Die prinzipielle Verfehltheit dieses Programms hat sich freilich mit der Zeit durch die unfruchtbare Stagnation herausgestellt, in der auch die Schule über das von dem Meister im ersten Anlauf Gewonnene nicht wesentlich hinauskam. Aber solange diese Herbartsche Psychologie in Geltung stand, durfte sie in gewissem Sinne als der charakteristische Ausdruck für die in der deutschen Lebensauffassung noch immer bestehende [97/98] Vorherrschaft des theoretischen Bewusstseins angesehen werden. Herbart erklärte die Vorstellungen für das Ursprüngliche und Wesentliche im Leben der Seele, in den Tätigkeiten, mit denen sie sich gegen die Einwirkung anderer Realen behaupten sollte. Gefühle und Willenstätigkeiten sollten nur Hemmungen, Spannungen und Strebevorgänge an den Vorstellungen und zwischen ihnen sein. Der Mechanismus dieser Entwicklungen, auf welche sich damit nach dem Vorgange der älteren Assoziationspsychologie das Seelenleben beschränkte, bildete gerade den Gegenstand der mathematischen Theorie, die Herbart entwerfen wollte. Es ist leicht zu verstehen, weshalb diese Psychologie sich nach naturwissenschaftlich-technischer Analogie günstig für die Gestaltung einer wissenschaftlichen Pädagogik erwies: und wenn auch Herbart nach seiner persönlichen Gesinnung und nach der Bedeutung, die er der Ethik als der die Ziele der Pädagogik bestimmenden Disziplin zuerkannte, den entschiedensten Wert auf die Willensbildung in der Erziehung legte, so war doch die psychologische Struktur, die er seiner Theorie der Erziehungsmittel geben musste, durchgängig von seiner intellektualistischen Auffassung des Wesens der Seele und ihrer Funktionen bestimmt.
Solange nun auch und so energisch die Herrschaft der Herbartschen Pädagogik im praktischen Schulleben Deutschlands aufrecht erhalten worden ist, so wenig konnte die ihr zu Grunde liegende [98/99] Psychologie dauernd als ein Ausdruck unserer geistigen Zustände und ihrer bedeutsamsten Tendenzen angesehen werden, und es ist nicht zu verwundern, dass diese theoretische Psychologie des Intellektualismus durch die neuere Entwicklung der im eigentlichsten Sinne empirischen Forschung durchaus überwunden, ja in ihr Gegenteil verkehrt worden ist. Denn als eines der wichtigsten und bedeutsamsten Ergebnisse jener empirischen Psychologie, von deren Entwicklung aus dem realistischen Denken wir an anderer Stelle gehandelt haben, dürfte wohl der auf den verschiedensten Linien gewonnene Nachweis anzusehen sein, dass in den Vorstellungsbildungen und Vorstellungsverläufen von der einfachsten Empfindung an bis zu den verwickelten Tätigkeiten der Begriffsbildung überall das Entscheidende und Bestimmende die Triebzustände, d. h. die verschiedenen Formen des Willens sind. Es ist nicht unmöglich, dass bei der Hervorkehrung dieser Momente hie und da Schopenhauersche Motive aus der Willensmetaphysik mit im Spiele gewesen sind. Die vermittelnde Stellung der Physiologie der Sinnesorgane, deren Bedeutsamkeit in den gedanklichen Zusammenhängen jener Zeit schon hervorgehoben wurde, konnte mannigfache Anlässe dazu bieten. Freilich, in Wilhelm Wundts physiologischer Psychologie, die den Mittelpunkt jener gesamten Bewegung gebildet hat, ist die für die voluntaristische Wendung entscheidende Theorie der Apperzeption lediglich aus tatsächlicher Forschung [99/100] herausgearbeitet und hat ihre grosse Bedeutung gerade dadurch gewonnen, dass sie in ihrer wissenschaftlichen Begründung von jenen metaphysischen Motiven völlig unabhängig ist. Aber es war doch charakteristisch und für die Gesamtrichtung des zeitgenössischen Denkens durchaus bezeichnend, dass jene Motive sofort hervorbrachen, sobald Wundt versuchte, sich aus der Psychologie, deren letztliche Unzulänglichkeit er wohl selbst am besten empfunden hat, zu einem allgemeinen philosophischen System durchzuringen. Die metaphysischen Vorstellungen, die er darin entwarf, bezeichneten als den innersten Gehalt und Sinn der Welt ein Reich von Willensaktualitäten, deren Manifestation die Gesamtheit der Erscheinungen ausmachen sollte und über deren evolutionistischen Zusammenhängen sich als letzter, für die wissenschaftliche Erkenntnis nicht mehr erfassbarer Abschluss die regulative Idee eines universellen Weltwillens erhob. Auch bei Münsterberg, der neben Wundt die selbstständigste Stellung in der modernen Psychologie einnimmt, tritt uns als das Wesentlichste seiner psychophysischen Analyse die Aufdeckung der universellen Bedeutsamkeit der Willenszustände entgegen: und auch er hat sich von diesen psychologischen Voraussetzungen her zu einer philosophischen Lehre entwickelt, welche nicht im Sinne einer dogmatischen, aus den Ergebnissen der besonderen Wissenschaften zusammengefügten Metaphysik, sondern im Geiste des Kritizismus Fichtescher Färbung zu einer Philoso-[100/101]phie der Werte geworden und damit den innersten Bedürfnissen der Gegenwart sehr viel näher gerückt ist.
Denn mit jener voluntaristischen Wendung war in der Tat die empirische Psychologie schliesslich nur dem Zuge ihrer Zeit gefolgt, deren schaffensfreudiger, auf das Tatsächliche gerichteter Realismus überall durch ein starkes Willensleben, durch eine fieberhafte Steigerung der Aktivität und durch ein mächtiges Walten der Leidenschaft charakterisiert war. Ein genialer, urgewaltiger Wille hatte uns das Reich geschaffen, indem er seine eigene Leidenschaft mit der Sehnsucht des Volkes verband und beide zusammen damit zur Tat sich entladen liess. Bismarcks Ruf nach Realpolitik fand in seinem Zeitalter die breiteste Resonanz, und in allen Lebenssphären entfaltete sich mit ungeahnter Mächtigkeit der Drang zum Handeln und zum Schaffen. Allem Pessimismus zum Trotz, der sich in der Literatur breit machte, ging damals durch unsere Nation überall ein gesteigertes Lebensgefühl, das nach allen Richtungen urwüchsige Schöpferkraft erwies. In diesem Ringen um neue hohe Aufgaben zerbrachen und zerfielen uns zum grossen Teil die alten Lebensformen die einfach stillen Lebenskreise der Väter waren zu eng geworden. In unaufhaltsamer Entwicklung begannen wir uns zum Industriestaate zu wandeln, der die Grenzen der bisherigen Wirksamkeit in seinem schnellen Wachstum sprengte: in der gesteigerten Teilnahme am Welthandel, in [101/102] dem Beginn kolonialer Ausbreitung schuf sich die erstarkte Volkskraft ihren erweiterten Wirkungskreis. So sah sich die Nation aus ihren ehemaligen begrenzten und bedrängten Lebensverhältnissen in die Bedürfnisse einer Weltpolitik hineingezogen, in deren weiten Linien sie sich mit jugendlichem Ungestüm zurechtzufinden suchen musste. Zu allen solchen Neuentwickelungen bedurfte es der äussersten Anspannung aller Kräfte, und überall kam es dabei auf energisches Handeln, auf ein praktisches Schaffen, auf tätige Arbeit in gegebenen Verhältnissen an. Wenn es nun dabei auch noch immer als selbstverständlich galt, dass zur Erfüllung solcher Aufgaben intellektuelle Schulung, dass zum Können unerlässlich das Wissen gehört, so war doch das, was in diesem neuen Leben des Volks als das Beste verlangt und geschätzt werden musste, immer der Wille, der tätig sein und schaffen soll. Der Intellekt sank zu dessen Mittel herab, seine Betätigung galt nur noch so weit, als sie den Willen zu stärken und erfolgreich zu machen vermochte. Da verblassten uns die Ideale des theoretischen Lebens, in deren Schätzung wir aufgewachsen und gross geworden waren; der Eigenwert des Schauens und Denkens, der die Freude und den Trost der Väter ausgemacht hatte, trat zurück und ging für Viele gänzlich verloren. Bezeichnend für diese Wandlung war es, wie man in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts vielfach beobachten konnte, dass bei uns gerade die hervorragenden Intelligenzen [102/103] gern in den Dienst des praktischen Lebens traten. Wer Naturwissenschaft trieb, hatte tausend Anlässe, sein Wissen in den Dienst der Technik und der Industrie zu stellen. Den Juristen mochten die grossen Aufgaben der kommunalen und staatlichen Verwaltung oder die interessanten Funktionen industrieller Institute mehr locken als seine Wissenschaft. So absorbierte das praktische Leben mit seiner riesenhaften Ausweitung eine wachsende Menge gerade der besten geistigen Kraft. Diese tiefgreifende Veränderung aller Lebensverhältnisse konnte nicht anders als sich auch in den Gesinnungen und Wertungen geltend machen. Man verlor bei uns in diesen Zeiten viel von der alten Freude am geistigen Schaffen, viel von der Hochachtung vor der Theorie und von der Schätzung des Wissens um seiner selbst willen. Es erschien unrecht, die Wissenschaft sich selbst zu überlassen, wie sie sonst ihren eigenen Motiven nachgegangen war, unbekümmert darum, ob und wann das was sie erforschte würde verwendet werden können. Die Zeit verlangte eilige Früchte: alles Wissen sollte sich legitimieren durch das was es kann. Und wenn es das nicht unmittelbar aufzuweisen vermochte, so erschien es als unnötig, als lästig, als hemmend und verderblich.
Damals war es, und aus diesen Motiven geschah es, dass unser Volk an seinem Bildungs- und Erziehungswesen irre zu werden begann, - dass es fragte, ob es damit auch den neuen Aufgaben ge-[103/104]wachsen sein würde, die von allen Seiten hereinstürmten. Am stärksten richtete sich dieser Zweifel gegen den historischen Charakter unserer bisherigen Bildung, gegen die ganze Art, wie sich früher alles höhere geistige Leben aus den grossen inneren Lebensformen der geschichtlichen Menschheit herausgebildet halte. Das war ja das Geheimnis der humanistischen Gestaltung in dem ästhetisch-philosophischen Bildungssystem, dass jeder Einzelne an der Hand des historischen Denkens seine Selbsterziehung zu lernen hatte, dass er mit seiner Individualität organisch aus der Tradition herauswuchs und dass er damit eine Eigenheit, Freiheit und Selbständigkeit seines inneren Lebens gewann, einen Reichtum und eine Feinheit persönlicher Gestaltung, die sich im lebendigsten Zusammenhange mit der historischen Gesamtheit des Geschlechts wusste. Für diese Art der Bildung hatte das neue Geschlecht keine Zeit. Für jene Selbstzucht der Persönlichkeit im Aufbau des inneren Lebens und einer Welt geistiger Werte schwand der Sinn und, das Verständnis. Diese Generation fing an, die Tradition, den grossen historischen Schulsack der modernen Menschheit, als eine Last zu fühlen, und im Pochen auf die Ursprünglichkeit ihres eigenen Tuns glaubte sie ihn leicht abwerfen zu können. Es ging ihr wie dereinst der Renaissance, mit der diese Zeit sich wohl gern verglich: sie wollte heraus aus der Tradition, los von der Tradition, und sie musste doch unausweichlich in ihr hängen bleiben. Es [104/105] war ihr, als müsste diese Belastung auf die Strebekräfte drücken, die sie mächtig in sich selber fühlte, und sie wusste nicht, dass eben diese Kräfte mit ihrem Besten in der historischen Entwicklung selbst wurzelten. Gerade jetzt, in dem Momente, wo wir Deutschen eben begonnen hatten, selbst Geschichte zu machen, wollten wir von der Geschichte nichts wissen.
Mit Staunen sah das Ausland dieser Bewegung zu. Wenn uns die übrigen Völker um etwas beneidet hatten, so war es unser Bildungssystem gewesen. Sie fühlten recht gut, dass dadurch bei uns aus der breiten Schicht des Bürgertums die geistigen Kräfte entwickelt worden waren, die uns die Führerschaft auf vielen Gebieten der Wissenschaft erworben hatten. Während anderwärts die Neigung und Fähigkeit zu rein theoretischer Arbeit meist eine Sache bevorzugter Lebensstellung gewesen war, hatte bei uns in Deutschland, wo wir dazu im allgemeinen nicht reich genug waren, jenes Bildungssystem eine Fülle geistiger Kraft für die wissenschaftliche Tätigkeit entwickelt: und je mehr wir ihr an Ansehen bei den übrigen Völkern verdanken, umsomehr sollten wir bedenken, ob wir bei einer Verschiebung dieser Verhältnisse unsere Stellung zu bewahren imstande sein werden. An manchen Punkten will es einsichtigen Beobachtern heute schon scheinen, als ob sie einigermassen durch die Unsicherheit erschüttert sei, in die wir durch die Wirkungen jener Bewegung versetzt worden sind. [105/106] Denn damals begann bei uns das aufgeregte Reformieren an unserem Erziehungswesen, und darin stehen wir zweifellos noch heute, wenn es auch von Zeit zu Zeit scheint, als sei ein Ruhepunkt und eine gewisse Ausgleichung darin erzielt worden: den Eiferern gilt das immer nur als eine vorläufige Etappe auf ihrem Wege zu einer totalen Umgestaltung. Aus jenen Motiven des Zeitlebens heraus haben in den letzten Jahrzehnten Berufene und Unberufene an unserm, wie sie meinten, kranken Bildungssystem herumgedoktert. Rat auf Rat, Versuch auf Versuch sind sich gefolgt. Eine der ersten Brandraketen war jenes unbedeutende Buch, das uns »Rembrandt als Erzieher« auftischte, das in kürzester Zeit seine 37 Auflagen erlebte und von dem heute kaum jemand mehr redet. Denn wie viel andere Erzieher sind uns seitdem empfohlen, wie viel bessere und fruchtbarere Systeme aufgedrängt worden! Aber immer ist dabei die Predigt auf denselben Grundton gestimmt: wir wissen zu viel, wir wollen zu wenig. Man sagt uns immer wieder, dass wir zu intellektualistisch gebildet worden sind und noch immer gebildet werden. Aus dem Lernvolk soll ein Tatvolk werden. Jetzt soll der Wille erzogen, die Kraft gestählt, die Aktivität entwickelt werden. Und gegenüber dem Uebermass des geistigen Lebens erschallt, wie dereinst im Philanthropismus, der Ruf nach körperlicher Ausbildung. Jedermann weiss, welche Bedeutung heutzutage im Unterricht das Turnen und in allen Lebensverhält-[106/107]nissen der Sport bei uns gewonnen hat. Das alles hängt innerlich miteinander und mit dem ganzen Zuge unserer Zeit zusammen. Auch das nicht zum Schweigen zu bringende Gerede von der Ueberbürdung, die unsere intellektualistische Erziehung der Jugend auflaste, stammt aus derselben Quelle. Was die frühere Jugend, die still in den Bahnen ihrer geistigen Entwicklung gehalten wurde, was noch jene Generation, die uns das Reich erkämpft hat, spielend bewältigte, das scheint von dem neuen Geschlecht nicht mehr ertragen zu werden, dessen Nervensystem schon früh von der Unruhe und Leidenschaft unseres gesamten Lebens ergriffen und angegriffen wurde.
Es ist nicht dieses Orts, über Recht und Unrecht in dieser Bewegung abzusprechen [!], und es ist überhaupt noch nicht die Zeit dazu. Die schweren Fragen, in denen tiefgreifende Motive unseres ganzen Volkslebens und unserer eigenartigen Entwicklung gegensätzlich aufeinanderstossen und die ebensoviele Zukunftsfragen unserer nationalen Existenz bedeuten, sie sind noch nicht spruchreif, noch nicht zum Abschluss gediehen. Hier soll uns diese ganze bedeutsame Bewegung nur als das eindrucksvolle Symptom für die grosse Wandlung gelten, die in der ganzen Richtung unseres nationalen Gesamtlebens sich vollzogen hat. Es geht zweifellos ein starker Zug durch unsere Zeit, der zur Missachtung der Theorie, zur Entwertung der intellektuellen Tätigkeiten drängt. Man sagt wohl nicht ohne Recht, [107/108] dass heutzutage unsere Schule auf allen Stufen, von der Volksschule bis zur Hochschule, in der allgemeinen Meinung nicht mehr die unbestrittene Wertschätzung besitze, die ihr früher zuteil wurde. Man bemängelt sie in allen ihren Einrichtungen und Betätigungen, sobald man darin die unmittelbare Wirkung vermisst, die man von ihr verlangt und erwartet, die Stärkung des Willens und die praktische Kraft. Mit dem realistischen Voluntarismus hat sich bei uns in der Tat schnell eine Umwertung der Werte vollzogen. Die dianoetischen Ideale aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts sind verblichen, die Tüchtigkeiten des Willens sind an ihre Stelle getreten. Wirken und Schaffen, Besitz und Macht, grosse tätige Lebensführung, Mittun am sausenden Webstuhl der Zeit - das sind die Werte unseres Geschlechts. Damit verbindet sich dann ein energischer Wirklichkeitssinn, ein heisses Bedürfnis nach Realität, ein kräftiges Fussfassen in den Tatsachen und ein leidenschaftlicher Trieb, die eigene Kraft darin zur Geltung zu bringen. Das sind charakteristische Züge im Wesen des modernen Deutschen. Das Leben selbst als Wollen und Wirken ist der höchste Wert geworden, und wie es schon Feuerbach und Dühring ausgesprochen haben, wie es in Frankreich Guyau begeistert und begeisternd verkündet hat, so ist die Freude am Dasein, die Bejahung des Lebens, das beherrschende Prinzip für die Ethik der Wirklichkeit unserer Zeit geworden. Es ist merkwürdig genug, wie sich dies im Leben [108/109] durchgesetzt hat, während noch in der Theorie die Nachklänge pessimistischer Willensverneinung walteten. Und in der geschäftigen Hingabe an die reichen und vielgestaltigen Interessen dieser Wirklichkeit scheint für viele unserer Zeitgenossen der Flug wie die Flucht in das Reich der Ideale nicht mehr nötig, nicht mehr nützlich, nicht mehr erlaubt zu sein. Das Pathos der Voreltern ist ihnen töricht und komisch geworden, und die Zeit, welche ihre Briefe im Depeschen- und Postkartenstil schreibt, lächelt über den Ernst, mit dem frühere Generationen von den Bewegungen ihres inneren Lebens erzählt haben.
Die Auflösung alter Lebensformen und das Emporstreben neuer Wertmotive ergibt einen aufgeregten Zustand des Suchens und Tastens, eine vielfältige Gärung, die zur Gestaltung drängt. Aber dazu kommt nun noch ein anderes Moment, das bedeutsamste vielleicht von allen. Es entspringt der sozialen Bewegung, welche bei uns, wie bei allen Kulturvölkern während des neunzehnten Jahrhunderts dem gesamten Leben eine völlig veränderte Struktur gegeben hat. Jener unruhige Drang hat in gleicher Weise alle Schichten der Gesellschaft ausnahmslos ergriffen. Hegels Wort ist zur Wahrheit geworden: die Massen avancieren. Sie sind in die historische Bewegung eingetreten, die sich früher in der Hauptsache über ihnen in einer dünnen Oberschicht abgespielt hatte. Nicht nur in der politischen Entwicklung, sondern auch auf allen [109/110] Gebieten der geistigen Geschichte macht sich der Anspruch der Massen in demselben Grade geltend, wie auf dem ökonomischen Gebiete. Alle Schichten des sozialen Körpers verlangen mit allem Ernst und aller Energie ihren vollen Anteil an allen Gütern der Gesellschaft, den geistigen wie den materiellen, und treten in jeder Richtung des gemeinsamen Lebens mit dem Anspruch hervor, darin mitzuwirken und ihre Interessen zur Geltung zu bringen. Damit hat unser ganzes Leben eine völlig veränderte Prägung erhalten, und diese soziale Ausweitung bildet den bedeutsamsten Grund für die extensive und intensive Steigerung des Lebens, welche die Menschheit des neunzehnten Jahrhunderts erfahren hat. Daraus erwachsen überall in der Breite des Kulturlebens die schweren Probleme der politischen, der sozialen, der intellektuellen Bewegung. Das gibt auch für das Wertleben völlig neue Momente und tiefgreifende Veränderungen von einer früher ungeahnten Mächtigkeit. In dem Aufringen neuer Lebensformen gegen die bestehenden Ueberzeugungen und Verhältnisse stossen die Extreme des Alten und des Neuen mit heftiger Leidenschaft aufeinander. Darum ist gerade in diesen Verhältnissen alles im Fluss, der Ausgleich noch lange nicht gefunden, und niemals ist der Boden der Ueberzeugungen, auf denen sich die soziale Gemeinschaft aufbauen soll, so tief unterwühlt, so schwankend und unsicher gewesen, wie in unseren Tagen.
Kein früheres Zeitalter hat das Individuum in [110/111] dem Grade in das Gesamtleben eingestellt, wie das heutige. Jeder Einzelne sieht sich mit seinen Interessen, mit seiner Arbeit, mit seinem Schicksal unvermeidlich in ein übergreifendes Kollektivleben gezwungen; es ist der Typus des industriellen Daseins, der sich auf alle Sphären äusserer und innerer Betätigung unwiderstehlich ausbreitet. Die Fabrik verschlingt das Handwerk, der Grosshandel den Kaufmann: überall bleiben zuletzt nur die Genossenschaften übrig, die dem Einzelnen nur die Wahl lassen, sich einzuordnen und zu unterwerfen oder verdrängt und vernichtet zu werden. Es gibt wenige, bald keine Berufsarten mehr, in denen das Individuum seine Tätigkeit von sich selbst aus zu bestimmen vermag. Selbst für das wissenschaftliche Leben ist heutzutage die Einstellung der Sonderarbeit in Schulzusammenhänge das Charakteristische. Der Jünger der Naturforschung und nicht minder der einer kulturwissenschaftlichen Disziplin findet eine fein ausgearbeitete und mehrfach bewährte Methode vor: wer sich einer solchen bemächtigt und sie regelrecht auf einen bisher nicht behandelten Gegenstand anwendet, ist ziemlich sicher, durch die Analogiearbeit zum mindesten einen kleinen Erfolg zu erreichen und einen Baustein zur Gesamterkenntnis wohlbehauen beizutragen. Derjenigen, die selbständig eigene Wege gehen und gehen können, werden der Natur der Sache nach immer weniger. Massenarbeit ist auch hierin für absehbare Zeit die Signatur des Lebens geworden. [111/112]
Es ist nicht minder charakteristisch, dass, dieser Wendung entsprechend, auch manche sachliche Neuerungen der jetzigen Wissenschaft in der intensiveren Beschäftigung mit dem Massenleben ihren gemeinsamen Ausdruck finden. Die mächtige Ausbreitung, welche die nationalökonomischen Studien im Laufe des vorigen Jahrhunderts gewonnen haben, die Ausbildung und Verfeinerung, welche die statistischen Methoden namentlich in ihrer Anwendung auf die Demographie, d. h. auf die Untersuchung der gesellschaftlichen Zustände und Zustandsbewegungen gefunden haben, lassen diese neue Richtung der wissenschaftlichen Interessen deutlich erkennen. Dasselbe zeigt die stetig fortschreitende und mehr und mehr sich methodisch gestaltende Entwicklung der Soziologie. Sie ist, mit diesem Namen zuerst von Auguste Comte bezeichnet, als eine eigene Disziplin ursprünglich aus dem Interesse entworfen worden, die industrialistische Gesellschaftsordnung wissenschaftlich zu begründen. Nach St. Simon und Comte sollten Naturwissenschaft und Technik die Grundlage für die Lebensordnung der Zukunft bilden, diese selbst aber hatte für sie bekanntlich eine durchaus sozialistische Struktur. Auf Grund aller dieser Auffassungen konnte es schliesslich nicht ausbleiben, dass man die Massenbewegung, welche für die gegenwärtigen sozialen und politischen Zustände so überaus bedeutsam geworden ist, auch für das Bedeutsamste und Wesentlichste in der gesamten geschichtlichen Entwicklung der Menschheit [112/113] anzusehen begann. Die sogenannte materialistische Geschichtsphilosophie des Marxismus hatte schliesslich keinen anderen Sinn: seit Thomas Buckle gewöhnte man sich an die Meinung, die chronikhafte Darstellung eindrucksvoller Ereignisse und individueller Taten als eine veraltete Methode der Historik zu betrachten und dafür eine der induktiven Naturforschung anzunähernde Methode des Studiums der Massenzustände einzuführen, aus der die Erkenntnis historischer Gesetze sich ergeben sollte. Diese kollektivistische Geschichtsauffassung, die von gewissen Seiten mit aller Leidenschaft der Einseitigkeit gepriesen und verfochten wird, gehört durchaus in den Zusammenhang der Zeichen der Zeit, welche im Massenleben ihr eigentümliches Gepräge besitzt. Und damit hängen nun auch endlich alle die Bestrebungen zusammen, welche von den verschiedensten Seiten her auf die Uniformierung der geistigen Bildung ausgehen. Die gesellschaftliche Gliederung, welche für die verschiedenen Berufe, Stände und Klassen sachgemäss auch eine Verschiedenheit des geistigen Besitzes und der geistigen Interessen herbeiführte, scheint am wirksamsten dadurch bekämpft zu werden, dass alle diese Schranken niedergerissen und eine durchgängige Gemeinsamkeit der Bildung gewonnen wird. Es ist nicht zu verkennen, dass auch die Reformen unseres höheren Schulwesens schon jetzt diesem Zuge der Zeit in ausgesprochenem Masse folgen, obwohl sich vielleicht diejenigen, die daran mitwirkten und mitwir-[113/114]ken, dieses Ergebnisses keineswegs bewusst sind. Unzweifelhaft aber wirkt in dieser Richtung die enorme Ausbreitung der sogenannten allgemeinen Bildung, an der wir alle in gewissem Masse tätigen Anteil haben. Auch hier liegt im Grunde bestimmend die soziale Tendenz vor, einen der bedeutendsten der geschichtlichen Unterschiede in der gesellschaftlichen Gliederung, den Unterschied der Gebildeten und der Ungebildeten, auszugleichen, und während zum Teil die oberen Schichten sich in dem voluntaristischen Sinne bildungsmüde zeigen, wie es oben in Betracht gezogen wurde, bricht in unsern Tagen aus den unteren Schichten der Gesellschaft ein mächtiges Bildungsbedürfnis hervor. Auch hier avancieren die Massen, auch sie haben begriffen, dass Wissen Macht ist, und sie wollen an dieser Macht Anteil haben, wie an jeder anderen.
So erleben wir eine Nivellierung der historischen Unterschiede und eine Uniformität des Daseins, wie sie kein früheres Zeitalter der menschlichen Geschichte auch nur geahnt hat. Daraus aber entspringt nun die grosse Gefahr, dass wir damit das Höchste einbüssen, was eigentlich erst Kultur und Geschichte ausmacht und zu allen Zeiten ausgemacht hat: Persönlichkeitsleben. Das Gefühl dieser Gefahr geht in der Tiefe durch das ganze geistige Leben der letzten Jahrzehnte hindurch und bricht von Zeit zu Zeit mit leidenschaftlicher Energie hervor. Neben jener glänzend nach aussen sich ent-[114/115]faltenden materiellen Kultur entwickelt sich ein heisses Bedürfnis nach innerem Eigenleben, und neben jenem demokratisierenden und sozialisierenden Massendasein erwächst eine heftige Opposition der Individuen, ihr Aufstreben gegen die Erdrückung durch die Masse, ihr urwüchsiger Trieb zur Entladung des eigenen Wesens. Einen solchen durch den Gegensatz gesteigerten Individualismus hat zuerst die Kunst zum Ausdruck gebracht. Ihrem innersten Wesen nach fügt ja sie sich am wenigsten der Menge, sie ist der natürliche Zufluchtsort des Persönlichen. Das ist wieder in dem Aesthetentum unserer Tage mit allen seinen berechtigten Betätigungen und allen seinen Auswüchsen deutlich geworden. Zuerst führte es sich noch in der Nachwirkung der weltschmerzlichen Stimmungen des Pessimismus als ein müdes, verscheuchtes, in sich selber wühlendes Dekadententum ein. Dann färbte es sich mit dem Lebensblute der ringenden Zeit, und so wurde daraus die frohe Bejahung der Wirklichkeit und das übermütige Spiel der Selbstgestaltung. Es schritt fort bis zur Willkür und zum Trotz des Eigensinns, der nur zeigen wollte: so bin ich, ich bin anders als die andern, ich gebe die Welt, wie ich sie erlebe, wie ich sie sehe, wie ich sie fühle. Bis zum wertlosen Spiel gleichgültiger Singularität hat sich dieser Impressionalismus in redender und bildender Kunst entfaltet: und doch stecken hinter seinen Wunderlichkeiten und seinem oft kindischen Gebaren im letzten Grunde trieb-[115/116]kräftige und gesunde Instinkte der Selbstbejahung der Persönlichkeit.
Dies ganze Ringen des Individuums gegen den Druck des Massenlebens ist nun verkörpert in dem Dichter Friedrich Nietzsche, und darin liegt die Erklärung für die grosse Wirkung, die er auf das geistige Leben der letzten Jahrzehnte ausgeübt hat. Er ist von diesem innersten Widerspruch der Zeit in seinem eigenen Wesen erfüllt und durchwühlt, und er hat diesen Kampf mit der plastischen Kraft seiner künstlerischen Anschauung in der berückendsten Weise gestaltet: aber er steckt selbst so tief in diesem Ringen und ist mit seiner ganzen Persönlichkeit so sehr darin verstrickt, dass er sich nicht als Philosoph zu einer begrifflichen Gestaltung darüber erhoben hat. Nur der energische Trieb zur Welt- und Lebensanschauung ist das Philosophische an ihm, nicht die Fähigkeit, diesen Trieb in der wissenschaftlichen Form des begrifflichen Denkens zu befriedigen. Seine Entwicklung zeigt in typischer Weise den Streit zwischen Intellektualismus und Voluntarismus, zwischen Rationalismus und Irrationalismus. Weit hinter ihm liegt die Schopenhauersche Lösung, dass interesseloses Schauen und Denken befreien soll von dem Elend des Willens, - weit auch die Hartmannsche, dass die Vernunft der historischen Entwicklung den Weltwillen von seiner eigenen Unvernunft erlösen soll. Bei Nietzsche spricht der elementare Wille des Einzelnen, der aus seiner Ur-[116/117]kraft heraus mit heisser Leidenschaft das Leben bejaht als das Reich seiner Selbstbehauptung und Selbstentfaltung, der schöpferische Individualwille, der mit seiner Urwüchsigkeit die Last der Geschichte von sich werfen will, um in froher und freier Entfaltung zu höherem Menschentum fortzuschreiten. Aber die Dichterpersönlichkeit, die dieses Ideal verkündete, war selbst getränkt mit dem ganzen Reichtum humaner Bildung, in ihrem geistigen Leben zu feinster Kristallisation des geschichtlichen Gedankenstoffes ausgeschmiedet und dadurch zu der ästhetischen Vollkommenheit des Stils und der Gestaltungskraft ausgereift, durch die Nietzsche auf seine Zeitgenossen wirkte. In dieser apollinischen Abklärung kam es wohl über ihn, - in einer kurzen Spanne, der glücklichsten, die er durchgemacht, - dass er jenes höhere Menschenleben in der intellektuellen Genialität suchte, in der freien Kunst und der fröhlichen Wissenschaft. Dann aber brach siegreich bei ihm der dionysische Willensrausch durch, die brutale Sucht der Selbstbehauptung gegen die Viel-zu-vielen, das rücksichtslose Bekenntnis zur Durchsetzung des Willens zur Macht. Damit fielen ihm alle Schranken der historischen Wertentwicklung, alle Formen gemeinsamer Lebensbestimmung dahin. Das grosse Individuum sollte ihm alle diese Fesseln abstreifen, für den Uebermenschen galt keine andere Wahrheit, als die er für sich als nützlich, als hilfreich, als stärkend und stählend erfand; mit seiner Machtbehauptung durchbrach er, jenseits [117/118] von Gut und Böse, die herrschenden Regeln philiströser Sklavenmoral. Alles Allgemeine und Allgemeingültige ist Schranke und Fessel, ist Niedergang und Tod: nur der Triumph der selbstherrlichen Persönlichkeit ist wahres Leben. Nur eine metaphysische Spiegelung dieser Herrenmoral war es schliesslich, wenn Nietzsche sich die alte, wunderliche Lehre von der Wiederkehr aller Dinge als eine neue, tiefsinnige Offenbarung zu eigen machen wollte. Es war nicht, wie es Simmel fein ausgedeutet hat, das Verantwortlichkeitsgefühl, so zu leben, als ob ich in ewiger Wiederholung immer ebenso leben müsste, sondern es war das Urgefühl: ich gehöre zu dem immer wiederkehrenden Wesen der Welt; so wie ich bin, bin ich dabei, was auch immer sonst geschehe. In diesem Mythos, wie in der ganzen Dichtung Zarathustras, - in dieser ganzen wuchtigen Darstellung des Personalismus hören wir durch alle tanzende Fröhlichkeit der Lebensbejahung hindurch doch nur den erschütternden Notschrei des Individuums, das es selber bleiben, das von der Masse nicht erdrückt und erstickt werden will.
Nietzsches »Umwertung aller Werte« ist nicht umsonst zu einem Schlagwort unserer Tage geworden. In der gewaltigen Umwälzung aller Lebensverhältnisse ist in der Tat die überkommene Substanz unserer Wertungen in Fluss geraten, und die Bedrängnis der Zweifel, in die uns der Streit zwischen alten und neuen Lebensformen stürzt, macht [118/119] sich als ein tiefes Gefühl der Unruhe und als die Sehnsucht nach einer neuen Festigung der Ueberzeugung allüberall geltend. Aus diesem Zustande heraus ist das neue Bedürfnis nach einer philosophischen Weltanschauung erwachsen, das unsere Generation ergriffen hat und das an vielen Erscheinungen des literarischen und des akademischen Lebens zu beobachten ist. Und aus diesen Verhältnissen erklärt sich auch die Richtung, welche das neue philosophische Bedürfnis mit instinktiver Sicherheit einschlägt. Wir suchen weniger und erwarten von der Philosophie weniger, was sie früher bieten sollte, ein theoretisches Weltbild, das aus den Ergebnissen der einzelnen Wissenschaften zusammengefasst oder darüber hinaus in eigenen Linien gestaltet und harmonisch in sich geschlossen werden soll: was wir heute von der Philosophie erwarten, ist die Besinnung auf die bleibenden Werte, die über den wechselnden Interessen der Zeiten in einer höheren geistigen Wirklichkeit begründet sind. Im Gegendruck gegen die Massenherrschaft, die dem Aussenleben unserer Tage ihr Gepräge aufdrückt, ist das starke und gesteigerte Personenleben erwachsen, das seine geistige Innerlichkeit wiedergewinnen und retten will.
Aus solchen Bedürfnissen heraus haben wir uns in Deutschland zu den grossen Systemen des Idealismus zurückgefunden, welche diesen Glauben an das geistige Grundwesen aller Wirklichkeit verkündet haben. Wir schätzen an diesen grossen [119/120] Systemen nicht mehr die vergängliche Form ihrer logischen Konstruktion und nicht mehr die abstrakten Formeln ihrer Metaphysik: aber wir haben wieder Verständnis gewonnen für die überzeugungsvolle Energie, mit der sie, und vor allem Hegel, aus der Gesamtheit der historischen Entwicklung den bleibenden Bestand der Kulturwerte herausgearbeitet und ihre überempirische Geltung zum Bewusstsein gebracht haben. Die Stellung des selbstbewussten und selbstgestalteten Individuums zu diesen grossen Gebilden der Gemeinsamkeit ist unser eigenstes Problem geworden, und aus jenen Gegensätzen, welche unsere Entwicklung bedingt haben, folgt es, dass sich für diese philosophische Besinnung überall die Fragen einstellen, wie sich uns die Persönlichkeitswerte des Innenlebens und die Massenwerte des Aussenlebens zu widerspruchsloser Vereinigung versöhnen können. So erleben wir mit vollem Bewusstsein das grösste Problem der geschichtlichen Bewegung überhaupt: das Verhältnis zwischen Person und Masse. Und in diesem Sinne hat die Frage nach der Allgemeingültigkeit der Werte ihre kulturphilosophische Bedeutung. Von ihrer Lösung wird es abhängen, ob die deutsche Philosophie die Aufgabe erfüllen kann, welche die gegenwärtige Lage unseres Volkslebens an sie stellt.


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