Meine Herren !
Sie haben bei der diesjährigen Stiftungsfeier unserer
Hochschule gehört, wie in seiner Festrede der Rektor, Herr Edel, geklagt
hat über den Verfall der allgemeinwissenschaftlichen und namentlich der
philosophischen Studien.
In früheren Zeiten," sagt er, die zum
Theil meinem Gedächtnisse nicht entschwunden sind, war es vielfach anders."
Da waren die philosophischen Vorlesungen nicht verödet,
die Auditorien der grossen deutschen Philosophen waren auch hier fast immer
wohlgefüllt nicht bloss von Studirenden im ersten Studienjahre, sondern
auch von zahlreichen Zuhörern aus allen Fakultäten und von gebildeten
Männern im reiferen Alter."
Darum hege ich den lebhaften Wunsch für
Wiederbelebung der philosophischen Studien nicht bloss im Interesse besserer
allgemeiner Bildung, sondern auch zur geistigen Durchdringung und Verbindung des
so weit ausgedehnten und fast mit Zersplitterung bedrohten Kreises der
Specialwissenschaften."
Ich möchte gern zur Erfüllung dieses gewiss sehr
berechtigten Wunsches an meinem Platze mein Mögliches thun und werde es
desshalb versuchen, durch einige kurze einleitende Betrachtungen den
physiologischen Lehrstoff mit philosophischen Gesichtspunkten zu verknüpfen.
Die Klage über Vernachlässigung der philosophischen
Studien ist auch von anderen Seiten vielfach laut geworden. Man hat geradezu der
studirenden Jugend den Vorwurf gemacht, sie ergebe sich, [3/4] angesteckt von
dem angeblich auf die materiellen Güter ausschliesslich gerichteten Sinne
der Gegenwart, banausischem Brotstudiren unbekümmert um höhere rein
ideale Interessen. Ich glaube wir dürfen uns von diesem Vorwurfe
freisprechen und die Schuld der Missachtung in welche überall, besonders
aber in den naturwissenschaftlichen Kreisen die Philosophie gefallen ist,
lediglich dem Entwickelungsgang beimessen, welchen diese Wissenschaft selbst in
Deutschland genommen hat.
Nachdem nämlich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die
erstaunlichen Werke Kants Aller Augen auf die Philosophie gerichtet hatten,
wandten sich begreiflicherweise auch viele Talente niederer Ordnung zur
literarischen Produktion auf diesem Gebiete. Jeder suchte seinen Vorgänger
durch Kühnheit und scheinbare Tiefe der Speculation zu überbieten, bis
zuletzt in den zwanziger und dreissiger Jahren dieses Jahrhunderts die
eigentliche Scharlatanerie und Windbeutelei in der philosophischen Literatur
herrschend wurde. Das musste denn doch allmählich das gebildete Publikum
ernüchtern. Man höre beispielsweise folgende Sätze, worin sich
ein seiner Zeit im höchsten Ansehen stehender Philosoph über einen
Gegenstand ausspricht, der uns demnächst beschäftigen soll: Die
Sinne und die theoretischen Processe sind daher 1
0
der Sinn der mechanischen Sphäre, der Schwere, der Cohäsion
und ihrer Veränderung, der Wärme, das Gefühl als solches; 2
0
die Sinne des Gegensatzes, der besonderten Luftigkeit, und der
gleichfalls realisirten Neutralität des concreten Wassers und der Gegensätze
der Auflösung der konkreten Neutralität - Geruch und Geschmack; 3
0
der Sinn der Idealität ist ebenfalls ein gedoppelter, in
sofern in ihr als abstrakter Beziehung, auf sich die Besonderung, die ihr nicht
fehlen kann, in zwei gleichgültige Bestimmungen auseinanderfällt,
a
) der Sinn der Idealilität als Manifestation des
Aeusserlichen für Aeusserliches, - des Lichtes überhaupt und näher
des in der konkreten Aeusserlichkeit bestimmt werdenden Lichtes, der Farbe, und
b
) der Sinn der Manifestation der Innerlichkeit, die sich als
solche in ihrer Aeusserung kund giebt, - des Tones, - Gesicht und Gehör."
Es ist hier die Art angegeben, wie die Dreiheit der
Begriffsmomente in eine Fünfheit der Zahl nach übergeht; der
allgemeinere Grund, dass dieser Uebergang hier stattfindet, ist, dass der
thierische Organismus die Reduktion der auseinandergefallenen unorganischen
Natur in die unendliche Einheit der Subjek-[4/5]tivität, aber in dieser
zugleich ihre entwickelte Totalität ist, deren Momente, weil sie noch natürliche
Subjectivität ist, besonders existiren." *)
Wenn derartiger höherer Blödsinn in den
philosophischen Hörsälen vorgetragen wurde, dann findet man
begreiflich, dass sie sich allmählich leerten und dass sich namentlich alle
diejenigen daraus zurückzogen, welche durch Beschäftigung mit
Naturwissenschaften an ein folgerichtiges Denken gewöhnt sind.
Es konnte nicht fehlen, dass dadurch ein grosser Theil der
Gebildeten von allem Philosophiren zurückgeschreckt und dem rohen
Materialismus in die Arme getrieben wurde. Bei dieser naiven Weltanschauung, die
eben im einfachen Mangel philosophischen Besinnens besteht, kann sich aber ein
Denkender nicht lange beruhigen. So sehen wir denn gegenwärtig das
philosophische Bedürfniss allgemein wieder erwachen, und mit Recht wird überall
wieder zurückgegangen auf unseren grossen Geistesheroen Kant. In der That,
seine Kritik der reinen Vernunft, die ich unbedenklich für die grösste
Leistung des denkenden Menschengeistes erkläre, gewährt noch heute dem
philosophischen Bedürfniss mehr Befriedigung als irgend ein später
geschaffenes Werk.
Die Grundlagen des Kantischen philosophischen Standpunktes
sollen denn auch den Gegenstand dieser einleitenden Betrachtungen bilden. Die
Beziehung dieses Gegenstandes zu der Wissenschaft, welche wir hier zu behandeln
haben, und namentlich zu dem Theile derselben, mit welchem ich diesmal unsern
Kurs zu beginnen gedenke, ist die allerunmittelbarste und engste. Man könnte
geradezu sagen der Kantische Standpunkt in der Philosophie ist ein
physiologischer. Sehen wir nunmehr, wie wir zu demselben gelangen.
Für den unbefangenen Menschen stellt die materielle Welt da
draussen vollkommen fest. Die Existenz einer hellleuchtenden, heissen Sonne,
einer starren Erde, eines kühlen Wassers, ausserhalb und unabhängig
von seinem Bewusstsein hat für ihn die unumstösslichste Gewissheit. Es
braucht aber nur wenig Besinnen, um zu bemerken, dass es doch noch etwas
Gewisseres giebt, nämlich die Existenz meines eigenen Bewusstseins; denn wäre
dieses nicht, so würde ich ja von
*) Hegel Encyclopädie.
[5/6]
der Existenz der Körperwelt auch gar Nichts wissen. Dieser
Satz braucht nur ausgesprochen zu werden, um einzuleuchten und man sieht auch
sofort, dass das eigene Bewusstsein der einzig richtige und einzig mögliche
Ausgangspunkt des Philosophirens ist. Wie wunderbar, dass es Jahrtausende
gedauert hat, bis man zu dieser Einsicht kam! Erst Cartesius nämlich hat
mit seinem berühmten Cogito ergo sum" das Bewusstsein des
denkenden Subjectes zum Ausgangspunkte der Philosophie gemacht.
Suchen wir unser eigenes Bewusstsein uns zu vergegenwärtigen
in dem Zustande, in welchem es sich bei seinem ersten Erwachen befunden haben
mag. Der erste Inhalt desselben kann offenbar nichts anderes gewesen sein als
Empfindung und zwar Empfindung verschiedener Art: Lichtempfindung, Gefühlsempfindung,
Schallempfindung, Schmerz, Lust u. s. w.
Die Empfindungen kommen, gehen, wechseln ohne unser Zuthun. Aber
sie sind auch der einzige Inhalt unseres Bewusstseins, welcher sich so verhält
und sich demgemäss ankündigt als Etwas nicht durch das Bewusstsein
selbst Geschaffenes, sondern ihm Aufgedrungenes. Das Bewusstsein setzt daher ein
äusseres Objekt oder einen äusseren Gegenstand, dessen Gegenwart oder
besser Einwirkung auf das Subjekt die Empfindungen bedinge. Wenn auch diese Thätigkeit
gewöhnlich ohne eigentliche Ueberlegung vollzogen wird, so kann man sie
doch als ein logisches Schliessen bezeichnen, und wir nennen die Fähigkeit
des Subjektes, diese Thätigkeit zu vollziehen Verstand". Ohne
ihn würden wir offenbar gar nie zur Annahme einer äussern Welt der
Objekte kommen. Die Empfindungen würden eben nur als Zustände des
Subjektes selbst im Bewusstsein auftreten.
Diese einfache Ueberlegung entscheidet auf´s
allerunwiderleglichste eine Frage, die von bedeutenden Denkern in verschiedenem
Sinne beantwortet wird, die Frage nämlich, ob die Ueberzeugung von einer
ursächlichen Verknüpfung der Veränderungen in der Natur des
Verstandes selbst begründet ist, ob, wie man sich in philosophischer
Redeweise auszudrücken pflegt, die Kenntniss vom ursächlichen
Zusammenhange eine Erkenntniss a priori ist.
Die grossen englischen Denker Locke und Hume waren der Meinung,
die Ueberzeugung von einem überall nothwendigen Zusammenhang der Ursache
und Wirkung werde erst allmählich [6/7] durch Beobachtung des Ablaufes der äusseren
Erscheinungen gewonnen und dieser Meinung schliesst sich auch der noch jetzt
lebende berühmte englische Philosoph J. St. Mill an. Dahingegen hat Kant
die Apriorität des Causalgesetzes verfochten. Merkwürdigerweise ist
ihm das einfachste und schlagendste Argument entgangen, das in der soeben
angedeuteten Ueberlegung besteht. Erst Schopenhauer und nach ihm aber unabhängig
von ihm, Helmholtz, haben es hervorgehoben. Es ist klar" sind die
Worte des letzteren, dass wir aus der Welt unserer Empfindungen zu der
Vorstellung von einer Aussenwelt niemals kommen können, als durch einen
Schluss von der wechselnden Empfindung auf äussere Objekte als die Ursachen
dieses Wechsels, wenn wir auch, nachdem die Vorstellung der äusseren
Objekte einmal gebildet ist, nicht mehr beachten, wie wir zu dieser Vorstellung
gekommen sind, besonders darum, weil der Schluss so selbstverständlich
erscheint, dass wir uns seiner als eines neuen Resultates gar nicht bewusst
werden. Demgemäss müssen wir das Gesetz der Causalität, vermöge
dessen wir von der Wirkung auf die Ursache schliessen, auch als ein aller
Erfahrung vorausgehendes Gesetz unseres Denkens anerkennen."
Der vorhin angeführten Ansicht englischer Philosophen gegenüber
bemerkt Helmholtz ferner, dass es mit dem empirischen Beweise des Gesetzes
vom zureichenden Grunde äusserst misslich aussieht. Denn die Zahl der Fälle,
wo wir den causalen Zusammenhang von Naturprocessen vollständig glauben
nachweisen zu können, ist verhältnissmässig gering gegen die Zahl
derjenigen, wo wir dazu durchaus noch nicht im Stande sind."
Endlich - heisst es im weiteren Verlaufe der zitirten
Stelle - trägt das Causalgesetz den Charakter eines rein logischen Gesetzes
auch wesentlich darin an sich, dass die aus ihm gezogenen Folgerungen nicht die
wirkliche Erfahrung betreffen, sondern deren Verständniss, und dass es
desshalb durch keine mögliche Erfahrung je widerlegt werden kann. Denn wenn
wir irgendwo in der Anwendung des Causalgesetzes scheitern, so schliessen wir
daraus nicht, dass es falsch sei, sondern nur, dass wir den Complex, der bei der
betreffenden Erscheinung mitwirkenden Ursachen noch nicht vollständig
kennen."
Den äusseren Objekten nun, welche der Verstand vermöge
des Causalgesetzes als Ursachen der Empfindungen setzt, legt er zunächst
[7/8] ganz naiv die Qualitäten der Empfindungen selbst bei. Er nennt ein
Objekt, das eine Licht- oder Helligkeitsempfindung veranlasst, ein helles",
ein Objekt, das eine bestimmte Geschmacksempfindung verursacht, z. B. ein süsses.
Wenn ein besonderer Komplex von Gefühlsempfindungen in der Haut entsteht,
sprechen wir von der Gegenwart eines harten Gegenstands u. s. w. fort. Indem
unter gewissen Umständen auf den verschiedenen Sinnesgebieten gleichzeitig
oder in gewisser gesetzlicher Reihenfolge Empfindungen entstehen, legen wir ihre
Natur ein und demselben Objekte als seine verschiedenen Eigenschaften bei. So würde
z. B. Einer, der einen gewissen Komplex von Licht-, Geschmacks- und Gefühlsempfindungen
bat, sagen: ich habe einen rothen, süssen, kalten Apfel in der Hand.
Es braucht nicht viel Kopfzerbrechen, um einzusehen, dass die in
Rede stehenden Prädikate als Süssigkeit, Härte, Röthe u. s.
w. nicht Prädikate von realen Existenzen sein können, dass sie
vielmehr nur den Vorstellungsbildern innerhalb eines wahrnehmenden Subjektes
zukommen. Wem dies nicht selbstverständlich erscheint, der erinnere sich
nur daran, dass derselbe Apfel, welcher jetzt vorwiegend süss schmeckt, ein
anderesmal, wenn man unmittelbar vorher Zucker gegessen hat, mehr säuerlich
scheint. Ein sonst roth genannter Körper kann auch, wenn das Auge durch
lebhafteres Purpurroth ermüdet ist, blass-gelblich erscheinen. Derselbe Körper
erscheint oft, mit der einen Hand angefühlt, warm, mit der anderen kalt. Es
ist wohl nicht nöthig, noch weitere Beispiele anzuführen. Man bemerkt
im Allgemeinen leicht, dass die den Objekten zugeschriebenen Qualitäten
wesentlich bedingt sind durch den Zustand des wahrnehmenden Subjektes, so dass
es durchaus nichts Widersinniges hätte anzunehmen, dass dieselben Objekte
einem anderen Subjekte ganz anders erschienen. Sollte in der That die Qualität
der Sinnesempfindung andererseits auch durch die Beschaffenheit einer ausserhalb
seienden Realität bedingt sein, so wäre diese doch jedesfalls unserer
Erkenntniss unzugänglich, da uns bloss die Wechselwirkung des Anderen und
unseres Sinnes, eben die Empfindung gegeben ist.
Es ist - wie gesagt, - leicht einzusehen, dass die
Eigenschaften, von denen wir bis jetzt gesprochen haben, als Farbe, Geschmack
und dergleichen unmöglich Eigenschaften der Dinge in sich sein können.
Schwierig aber ist es, sich vollständig klar zu machen, dass auch die räumlichen
und zeitlichen Beziehungen und Alles was damit zusammen-[8/9]hängt, wie
Bewegung, Starrheit u. s. w. nicht den Dingen, unabhängig von unserm Denken
an sich zukommen, dass vielmehr Raum und Zeit nur die durch die Beschaffenheit
unseres Intellektes bedingten nothwendigen allgemeinsten Formen des Vorstellens
sind. Dies ist zwar schon von dem tiefsinnigen Berkeley geahnt worden, aber es
ist eine von den geistigen Grossthaten Kant's mit einer der mathematischen
nichts nachgebenden Evidenz den Beweis geliefert zu haben.
Der erste Beweisgrund ist eigentlich schon in der Betrachtung
enthalten, welche wir an die Spitze gestellt haben. Wir sahen, dass unser
Intellekt, getrieben durch das ihm innewohnende Causalgesetz, für jede
Empfindung ein Objekt als Ursache setzt. Diesem Objekte wird nun in diesem Akte
selbst sogleich auch eine Stelle in Raum und Zeit gegeben; ebenso wie die Idee
vom Causalgesetz müssen also in unserem Intellekt die Ideen von Raum und
Zeit schon vor der Erfahrung da sein, denn sonst könnte man eben die
Objekte nicht hineinsetzen. Am deutlichsten wird dies einleuchten, wenn man
daran denkt, dass schon bei der allerersten Empfindung, welche im Bewusstsein
des neugeborenen oder vielmehr des ungeborenen Kindes auftaucht, ohne Zweifel
ein Objekt im Raume gesetzt wird, dass also da schon die Idee des Raumes
gewissermaassen als ein Bestandtheil in der Idee der Causalität vorhanden
sein muss. In der That sagt ja das Gesetz der Causalität, dass in dem einem
Dinge keine Veränderung stattfinden könne, ohne dass ein zweites, von
jenem getrenntes, vorhanden ist, welches eben darauf wirkt. Somit liegt in der
Idee der Causalität schon die Vorstellung des Aussereinander, d. h. des
Raumes und da jene, wie schon gezeigt wurde, a priori ist, so muss es auch diese
sein. Die Behauptung, dass die Anschauung des Raumes a priori gegeben ist, muss
man aber nicht dahin missverstehen, als ob das eben erwachende Bewusstsein in
diesem Raume schon orientirt und im Stande wäre, jeder Vorstellung ihren
richtigen Ort darin genau anzuweisen. Nur die Idee des Raumes überhaupt ist
schon da, insofern das Objekt eben als ein äusseres vorgestellt wird.
Der zweite Beweisgrund, den Kant besonders ausführt, liegt
darin, dass wir die Eigenschaften des Raumes und der Zeit a priori, d. h. unabhängig
von aller Erfahrung, erkennen, was doch unmöglich wäre, wenn Raum und
Zeit etwas ausser unserem Anschauungsvermögen vorhandenes wären. Dass
es noch heutzutage ernste Denker giebt, welche die Wissenschaft von Raum und
Zeit, d. h. die Mathematik für Erfahrungswissenschaft erklären, zeigt,
wie schwer es ist, [9/10] von dem Vorurtheile loszukommen, dass Raum und Zeit
Attribute der Dinge an sich wären.
Es ist wiederum J. St. Mill, welcher in seinem mit Recht so berühmt
gewordenen System der deduktiven und induktiven Logik zu beweisen sucht, dass
die Axiome der Geometrie Erfahrungssätze seien. Sieht man sich aber seine
Beweisgründe genauer an, so wird man in ihnen selbst das Zugeständniss
versteckt finden, dass die Raumanschauung doch a priori ist. Im 5. Paragraphen
des 5. Kapitels heisst es:
Das Fundament der Geometrie würde daher auch dann auf
der direkten Erfahrung beruhen, wenn die Experimente (welche in diesem Falle
bloss in dem aufmerksamen Anschauen bestehen) bloss mit dem Statt fänden,
was wir unsere Ideen nennen, d. h. mit den Figuren in unserem Geiste nicht und
mit äusseren Gegenständen. In allen Systemen des Experimentirens
nehmen wir einige Gegenstände, um sie als Repräsentanten aller
derjenigen dienen zu lassen, welche ihnen gleichen; und in dem vorliegenden
Falle sind die Bedingungen, welche einen realen Gegenstand zum Repräsentanten
seiner Klasse befähigen, durch einen Gegenstand, der nur in unserer
Phantasie existirt, vollständig (!) erfüllt. Ohne daher die Möglichkeit
zu leugnen, dass wir durch blosses Denken zweier gerader Linien und ohne sie zu
sehen, glauben können, dass sie keinen Raum einschliessen können,
behaupte ich, dass wir diese Wahrheit nicht bloss auf Grund unserer imaginären
Anschauung hin glauben, sondern weil wir wissen, dass die eingebildeten Linien
den wirklichen genau gleich sehen und dass wir von ihnen auf wirkliche Linien
ganz mit derselben Sicherheit schliessen können als von einer wirklichen
Linie auf eine andere wirkliche."
Ist nicht mit diesen Worten Alles zugestanden? In der That der
krasseste Materialist, der in aller Einfalt unsere Vorstellungen für
getreue Abbilder der Dinge an sich nimmt, wird doch niemals von einer eigentlich
empirischen Vorstellung behaupten, dass sie ihren objektiven Gegenstand ganz
vollständig decke, so dass man ohne den Gegenstand ferner auf die Sinne
wirken zu lassen aus der blossen Vorstellung etwas Neues von ihm lernen könnte.
Eine Vorstellung, welche irgendwie einen eigentlich empirischen d. h. durch
Empfindungen gegebenen Inhalt hat, kann gar nie [10/11] fertig sein und wäre
es die Vorstellung des einfachsten Wassertropfens. Die genauere Untersuchung
mittels der Sinne wird uns daran immer Neues und wieder Neues kennen lehren, was
wir aus der vorher gewonnenen Vorstellung niemals hätten folgern können.
Ganz anders ist es - wie Mill in den angeführten Sätzen zugiebt - mit
den Vorstellungen von räumlichen Gebilden als solchen. Sie stehen fix und
fertig in unserem Bewusstsein und das Betasten, Besehen oder Behorchen eines
entsprechenden materiellen Gegenstandes kann uns von den räumlichen
Beziehungen nichts lehren, was wir nicht ohnedies aus der Vorstellung hätten
folgern können.
Ich dächte es wäre hieraus klar ersichtlich, dass
unsere Kenntniss von den Eigenschaften des Raumes und der Begrenzungen seiner
Theile nicht empirisch erworben ist, dass sich dieselbe vielmehr gründet
auf die ursprüngliche Natur unseres Intellekts. Selbstverständlich
soll hiermit nicht behauptet sein, dass bei der Entwickelung der bewussten
Erkenntniss von den Eigenschaften des Raumes die Erfahrung keine Rolle spiele.
Die Erfahrung d. h. zunächst die wechselnden Empfindungen geben die
Gelegenheit und machen dem Bewusstsein das Bedürfniss fühlbar, sich über
das klar zu werden, was gleichsam schlummernd darin vorhanden ist.
Endlich lässt sich ein gewichtiges Argument noch mit
wenigen Worten aussprechen. Alle Gegenstände der Welt kann man wegdenken,
nur nicht Raum und Zeit. Daraus geht klar hervor, dass sie nicht Dingen ausser
uns entsprechen, denn was ich absolut nicht wegdenken kann, muss zum denkenden
Subjekte selbst gehören.
Sowie man einmal klar eingesehen hat, dass Raum und Zeit nur die
nothwendigen Formen sind unter welchen für unser Anschauungsvermögen
Dinge als Objekte erscheinen können, dann ist auch klar, dass alle übrigen
Prädikate, welche wir den Dingen und ihren Beziehungen beilegen, als
Entfernung, Kraft, Trägheit, Masse, Bewegung ebenfalls subjektiv durch die
Beschaffenheit unseres Verstandes bedingt sind, denn allen diesen Prädikaten
liegen die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit zu Grunde.
Mir scheint, man kann zu derselben Erkenntniss auch auf einem
andern Wege kommen, der vielleicht noch gangbarer ist, weil er nicht gleich beim
ersten Schritte ein Aufgeben eingewurzelter Täuschungen fordert. In der
That, stellen wir uns auf den naiven [11/12] Standpunkt des Materialismus, der
die vom Verstande konstruirte Sinnenwelt so zu sagen für baare Münze
nimmt, gehen wir aber dieser Sinnenwelt mit unserem Verstande näher zu
Leibe, um sie zu zergliedern wie es die Naturwissenschaft thut. Da belehrt uns
denn bald die Physik, dass es zum Beispiel mit den Farben doch nicht so voller
Ernst ist, dass ein Körper so oder so gefärbt erscheint, je nachdem er
diese oder jene Art von Schwingungen eines feinen Mediums besser reflektirt.
Dieselbe Wissenschaft zeigt uns, dass die Undurchdringlichkeit auf abstossenden
Kräften beruht, die Wärme auf kleinen sehr raschen Bewegungen der
kleinsten Theilchen gegeneinander. Die Chemie zeigt uns gar, dass der homogenste
Körper aus unzähligen heterogenen Theilen zusammengesetzt ist, die
durch Kräfte im Gleichgewicht in bestimmten Lagen erhalten werden. Gehen
wir der Naturforschung bis in ihre letzten Konsequenzen nach, so zerstäubt
vor unsern Augen die Materie in Atome, d. h. in absolut ausdehnungslose wirksame
Punkte, die im Raume zerstreut sind, und die durch ihre Bewegungen und
gegenseitigen Einwirkungen aufeinander alle Erscheinungen hervorbringen.
Die Einwirkungen der Atome aufeinander oder ihre Kräfte
sind durchaus nur Bewegungskräfte, anziehende oder abstossende, d. h. zwei
Atome haben entweder die Tendenz sich einander zu nähern oder sich
voneinander zu entfernen. Damit ist auch eigentlich das ganze Wesen des Atomes
vollständig erschöpft. Das Atom ist im Grunde genommen weiter nichts
als ein System von unendlich vielen Richtungen, die sich, wie die Richtungen
eines Strahlenbündels sämmtlich in einem Punkte schneiden und die
Einwirkung zweier solcher Systeme hat eben auch nur einen geometrischen Sinn, nämlich
den, dass der gemeinsame Schnittpunkt des einen Systemes sich dem Schnittpunkt
des andern zu nähern oder sich von ihm zu entfernen strebt.
Ist denn aber nicht eben in dem Schnittpunkte noch etwas
besonderes? Er ist ja doch eigentlich der Ort, wo nach der gewöhnlichen
Auffassung sich das Atom selbst befindet. Richtiger wäre es freilich, das
ganze System von Kraftrichtungen als das Atom aufzufassen und es mithin überall
im Raume gegenwärtig zu denken. In der That, müssen wir nicht sagen,
dass irgend ein Atom der Sonne auch hier auf der Erde gegenwärtig ist? übt
es doch hier eine gegen die Sonne gerichtete anziehende Wirkung aus. [12/13]
Die Frage nun, ob in dem gemeinsamen Durchschnittspunkt der
Kraftrichtungen des Atoms, in dem Anziehungs- oder Abstossungscentrum nicht doch
noch etwas von anderer als bloss geometrischer Natur zu finden sei, wird wohl
von Manchem dahin beantwortet, dass hier die Masse des Atomes ihren Sitz habe.
Sehen wir uns aber den Begriff der Masse etwas näher an, so löst auch
er sich sofort auf in rein geometrische Relationen. Wir schreiben dem einen von
zwei Kraftcentren soviel mal mehr Masse als dem andern zu, um wievielmal weniger
Geschwindigkeit an ihm durch die gegenseitige Einwirkung erzeugt wird, als am
andern. Wir schreiben beispielsweise der Sonne 319000 mal mehr Masse zu, als der
Erde, weil durch die gegenseitige Anziehung dieser beiden Wirkungscentra der
Sonne in einer Sekunde 319000 mal weniger Geschwindigkeit mitgetheilt wird, als
der Erde. Was von der Gesammtmasse der grössten Atomkomplexe gilt, das gilt
selbstverständlich auch von der Masse des einzelnen Atomes.
So sehen wir also, wenn wir vom materialistischen Standpunkt
ausgehend den Weg der Naturforschung bis in seine letzte Konsequenz verfolgen,
wie sich die auf den ersten Anblick so massive materielle Welt verflüchtigt
in ein System von absolut rein geometrischen Linien die im Laufe der Zeit nach
unverbrüchlichen Gesetzen ihre gegenseitige Lage ändern. Von einer
qualitativen Bestimmtheit, die für sich selbst irgend welche Bedeutung hätte,
bleibt gar nichts übrig. Jedes hat nur Sinn in einer Beziehung auf ein
anderes, in letzter Linie auf das wahrnehmende Subjekt. In der That sind ja alle
übrig bleibenden Bestimmungen nur gegenseitige Entfernungen von Punkten,
die sich gesetzmässig ändern, denn auch die Bestimmung von Kraft und
Masse läuft auf die Bestimmung der Geschwindigkeit hinaus, mit welcher sich
eben jene Entfernungen ändern.
Das ist wohl einleuchtend, dass die so erkannte materielle Welt
nicht mehr für das genommen werden kann, wofür man sie anfänglich
nimmt, nämlich für das getreue Abbild vom Zusammensein wirklicher
Existenzen, die gerade so weiter existirten, wenn auch das Bewusstein aufhörte,
worin das Bild angeschaut wird. So bis auf den Grund durchschaut verräth
sich die materielle Welt als das was sie wirklich ist, als das Gespinnst unseres
eigenen Intellektes, gesponnen in den ihm eigenthümlichen Formen Causalität,
Raum und Zeit. [13/14]
Das schliessliche Ergebniss unserer von zwei Seiten
zusammentreffenden Betrachtungen, dass nämlich die ganze materielle Welt
Nichts ist als unsere Vorstellung, ist nie klarer und anschaulicher
ausgesprochen, als von Helmholtz in der Einleitung zum dritten Abschnitte seiner
physiologischen Optik. Er sagt:
Unsere Anschauungen und Vorstellungen sind Wirkungen
welche die angeschauten und vorgestellten Objekte auf unser Nervensystem und
unser Bewusstsein hervorgebracht haben. Jede Wirkung hängt ihrer Natur nach
ganz nothwendig ab sowohl von der Natur des Wirkenden als von der desjenigen,
auf welches gewirkt wird. Eine Vorstellung verlangen, welche unverändert
die Natur[,] des Vorgestellten wiedergäbe, also im absoluten Sinne wahr wäre,
würde heissen eine Wirkung verlangen, welche vollkommen unabhängig wäre
von der Natur desjenigen Objekts auf welches eingewirkt wird, was ein
handgreiflicher Widerspruch wäre. So sind also unsere menschlichen
Vorstellungen, und so werden alle Vorstellungen eines intelligenten Wesens,
welches wir uns denken können, Bilder der Objekte sein, deren Art
wesentlich mit abhängt von der Natur des vorstellenden Bewusstseins und von
deren Eigenthümlichkeit mitbedingt ist.
Ich meine daher, dass es gar keinen möglichen Sinn haben
kann, von einer andern Wahrheit unserer Vorstellungen zu sprechen, als von einer
praktischen. Unsere Vorstellungen von den Dingen können gar nichts anderes
sein als Symbole, natürlich gegebene Zeichen für die Dinge, welche wir
zur Regelung unserer Bewegungen und Handlungen benutzen lernen. Wenn wir jene
Symbole richtig zu lesen gelernt haben, so sind wir im Stande mit ihrer Hilfe
unsere Handlungen so einzurichten, dass dieselben den gewünschten Erfolg
haben, d. h. dass die erwarteten neuen Sinnesempfindungen eintreten. Eine andere
Vergleichung zwischen den Vorstellungen und den Dingen giebt es nicht nur in
Wirklichkeit nicht - darüber sind alle Schulen einig - sondern eine andere
Art der Vergleichung ist gar nicht denkbar und hat gar keinen Sinn. Dies
letztere ist der Punkt, auf den es ankommt, und den man einsehen muss, um aus
dem Labyrinthe widerstreitender Meinungen heraus zukommen. Zu fragen, ob die
Vorstellung, welche ich von einem Tische, seiner Gestalt, Festigkeit, Farbe,
Schwere u. s. w. habe, an und für sich, abgesehen von dem praktischen
Gebrauche, den ich von dieser Vor-[14/15]stellung machen kann, wahr sei und mit
dem wirklichen Dinge übereinstimme, oder ob sie falsch sei und auf einer Täuschung
beruhe, hat gerade soviel Sinn als zu fragen, ob ein gewisser Ton roth, gelb
oder blau sei. Vorstellung und Vorgestelltes sind offenbar zwei ganz
verschiedenen Welten angehörig, welche ebensowenig eine Vergleichung unter
einander zulassen als Farben und Töne oder als die Buchstaben eines Buches
mit dem Klang des Wortes, welches sie bezeichnen".
Von dieser anderen Welt, welche der materiellen oder der Welt
der sinnlichen Anschauung als eine transcendente oder metaphys[is]che, nicht in
den Formen von Raum, Zeit und Causalität begriffene, gegenübersteht, können
wir absolut nie etwas durch unsern Verstand erfahren, aber von ihrer Existenz können
wir überzeugt sein, denn sie liegt ja eben der am Faden der Causalität
sich abwickelnden Welt der Vorstellung zu Grunde.
Da die Dinge an sich vollkommen unzugänglich sind, so können
wir auch nicht einmal ihren Einfluss auf das anschauende Subjekt, welcher eben
die Empfindungen zur Folge hat, in seinem wahren Wesen erkennen. Wohl aber können
wir eine andere hierauf bezügliche Untersuchung in Angriff nehmen. In der
anschaulichen Welt der Körper finden wir nämlich solche, welche für
die Erscheinunsformen bewusster Subjekte zu nehmen wir allen Grund haben. Vor
allen andern gilt dies vom eigenen Leibe sofern er räumlich angeschautes
Objekt ist, sodann auch von den übrigen Organismen, welche mit dem eigenen
Liebe[Leibe] eine durchgreifende Aehnlichkeit zeigen. An diesen angeschauten
Objekten können wir nun füglich nach denjenigen Vorgängen
forschen, von denen wir berechtigt sind anzunehmen, dass ihnen im zugehörigen
Subjekte das Entstehen von Empfindungen und Vorstellungen entspricht.
Mit dieser Untersuchung befinden wir uns ganz auf dem Boden, auf
welchem die Hülfsmittel unseres Verstandes, Raum, Zeit, Causalität
anwendbar sind, denn hier ist nicht die Rede von dem zu Grunde liegenden übersinnlichen
Ding an sich, sondern lediglich von Erscheinungen und ihren gesetzlichen
Beziehungen aufeinander - von einem organischen Leibe nämlich und von den Körpern,
welche darauf wirken. [15/16]
Wir befinden uns, genauer gesprochen, mit der in Rede Stehenden
Untersuchung auf dem Boden der Wissenschaft, welche wir in diesen Stunden mit
einander zu behandeln haben - auf dem Boden der Physiologie.
In der That, die Erforschung derjenigen materiellen Vorgänge,
welchen vom subjektiven Standpunkte betrachtet das Entstehen der Empfindungen
und Vorstellungen entspricht, ist die Aufgabe der Physiologie der Sinne, mit
welcher ich diesmal unseren Cursus zu beginnen gedenke.
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