Weitere Volltexte zum Neukantianismus und zur Naturphilosophie unter: www.philosophiebuch.de
[unpag. I/II]
[unpag. II/III]
Seite
1. Die Geschichte des Relationsbegriffs1
2. Der Relationsbegriff in der Psychologie14
3. Der Relationsbegriff in der Erkenntnistheorie23
a) Der Relationsbegriff und die anderen Fundamentalkategorien23
b) Der Relationsbegriff und die formalen Kategorien30
a
) Reine Qualitätsreihen30
b
) Identität und Relation36
g
) Die Relationen der Negation und der Rationalität39
c) Der Relationsbegriff und die realen Kategorien41
a
) Kausalität, Realität und Relation41
b
) Die Relationen der Totalität und der Entwicklung50
d) Die Relation Subjekt-Objekt52
a
) Einleitung52
b
) Kopernikanismus57
g
) Philosophische Gesichtspunkte61
d
) Die neue Relativitätstheorie65
4. Der Relationsbegriff in der Ethik71
a) Geschichtsforschung und Relationsbegriff71
b) Die Ethik und die psychologischen Relationen74
c) Die Ethik und die historischen Relationen79
d) Die Ethik und die individuellen Relationen82
e) Kants Ethik und der Relationsbegriff84
f) Religionsphilosophie und der Relationsbegriff85
5. Der Relationsbegriff in der Kosmologie91
[unpag. III/IV]
[IV leer, unpag. IV/1]
D
iese Abhandlung ist, wie eine frühere Abhandlung Der
Totalitätsbegriff" (deutsche Übersetzung 1917), ein Versuch,
einen einzelnen Punkt in meinem Buche Der menschliche Gedanke"
(deutsche Übersetzung 1911), näher zu entwickeln. In diesem Buche war
es mein Bestreben gewesen, eine Darstellung der Hauptformen, in denen
menschliches Denken arbeitet, und im Zusammenhang damit die Hauptprobleme, mit
welchen es arbeitet, zu geben. Der Zusammenhang zwischen Gedankenformen und
Gedankenproblemen zeigt sich am deutlichsten darin, daß die Gedankenformen
allen Fragen zugrunde liegen, Fragen, die, wenn sie in scharfer und bestimmter
Form gestellt sind, Probleme werden.
Nachdem das Interesse für Erkenntnistheorie am Schlusse des
vorigen Jahrhunderts wieder erweckt war, wurden die ersten Grundsätze der
menschlichen Erkenntnis besonders diskutiert. Man untersuchte die Möglichkeit,
sie zu begründen oder abzuleiten, und die Möglichkeit ihrer vollständigen
Durchführung auf allen Gebieten. Aber solche Grundsätze enthalten
gewisse Grundbegriffe, die mehr oder minder unwillkürlich teils von dem
gesunden Menschenverstande (sens commun), dem vorwissenschaftlichen Denken,
teils von dem wissenschaftlichen Denken, wie dieses sich in der Geschichte der
Wissenschaft kundgibt, angewandt werden. Sowohl in den Fragen, die vom Denken
gestellt werden, als in den Antworten, die es anerkennt, geben sich gewisse
Formen kund, die von der Kategorienlehre, der deskriptiven Erkenntnistheorie,
hervorgezogen und geordnet werden sollen. Die zwei Hauptquellen der
Kategorienlehre sind die psychologische Analyse des gesunden
Menschenverstandes" und das historische Studium der Entwicklung der
Wissenschaft auf ihren ver-[1/2]schiedenen Stadien. Diese Quellen stehen in beständiger
Wechselwirkung miteinander, indem die Wissenschaft sich aus dem unwillkürlichen
Denken des gesunden Menschenverstandes sukzessiv entwickelt, besonders wenn ein
Zweifel sich kundgibt, und indem anderseits der Gedankengang und die Resultate
der Wissenschaft, langsam, aber fortwährend, auf die Form und den Inhalt
des gemeinen Verstandes Einfluß üben, so daß der gesunde
Menschenverstand nicht zu allen Zeiten der gleiche ist.
Während die frühere Abhandlung den Totalitätsbegriff
und die mit ihm zusammenhängenden Gedankentendenzen behandelte, soll die
hier vorliegende Abhandlung den Relationsbegriff und die mit ihm zusammenhängenden
Prinzipien der Forschung zu beleuchten versuchen. Die zwei Begriffe zeigen
gegenseitig aufeinander hin. Auf zwei verschiedenen Wegen gibt sich der Totalitätsbegriff
kund. Alle Erkenntnis besteht in Zusammenfassen, in einem unwillkürlichen
Streben, Ganzen zu bilden, wo solche nicht unmittelbar gegeben sind. Aber das
unmittelbar Gegebene, die vorliegenden Gegenstände (Erlebnisse) können
als Ganzes hervortreten (und bei näherer Untersuchung wird dies gewiß
immer so sein) und können nur verstanden werden mittels Analyse des
Zusammenhanges zwischen ihren Elementen und zwischen ihnen und andern Ganzen und
Elementen. Das menschliche Erkennen bildet Totalitäten, wo solche nicht
unmittelbar gegeben sind, und löst sie auf, wo sie unmittelbar vorliegen.
In beiden Fällen offenbart sich der Zusammenhang zwischen dem Totalitätsbegriffe
und dem Relationsbegriffe. Totalitäten können nur dadurch gebildet
werden, daß Gegenstände in bestimmte Verhältnisse zu einander
gebracht werden, und gegebene Totalitäten können nur durch Aufweisung
der für ihr Bestehen entscheidenden inneren und äußeren
Relationen verstanden werden. Relation ist daher auf allen Gebieten eine
wesentliche Gedankenform. Denken ist bestimmte Verhältnisse zu finden,
einen Gegenstand in Relation zu einem anderen zu setzen. Die allgemeinsten
Relationen sind Kontinuität und Diskontinuität, Ähnlichkeit und
Verschiedenheit; ich [2/3] nenne sie fundamentale Kategorien. Sie nehmen in den
formalen Kategorien (Identität, Analogie, Negation, Rationalität), in
den realen Kategorien (Kausalität, Totalität, Entwicklung) und in den
idealen Kategorien (den Wertbegriffen) speziellere Formen an. Die nähere
Darlegung hiervon ist in Der menschliche Gedanke" gegeben.
Im folgenden wird der Relationsbegriff durch Untersuchung der
Art, in welcher er sich in der Aufstellung und der Behandlung der
philosophischen Hauptprobleme kundgibt, beleuchtet werden. In Philosophische
Probleme" (deutsche Übersetzung 1903) und in Der menschliche
Gedanke" (S. 269-278) habe ich behauptet, daß es vier solche
Probleme gibt: das psychologische, das erkenntnistheoretische, das ethische und
das metaphysische (oder, wie es ich lieber nenne: das kosmologische), und ich
habe die Analogien zwischen ihnen hervorgehoben. -
Ein Überblick über die Geschichte der Kategorienlehre
(siehe Der menschliche Gedanke" S. 147-168) zeigt eine
entschiedene Tendenz dazu, den Relationsbegriff in erste Linie zu stellen.
Aristoteles, der erste, der eine Kategorienlehre aufgestellt hat, faßt
freilich die Relation (
p
r
o
V
t
i
) nur als eine unter zehn Kategorien auf, aber eine nähere
Untersuchung zeigt, daß die meisten (im Grunde alle) anderen
aristotelischen Kategorien besondere Arten von Relation ausdrücken. Als
Beispiele der Relation nennt Aristoteles selbst: Gleichheit und Ungleichheit der
Größe, Ursache und Wirkung, Erkanntes und Erkenntnis. Aber in späterem
griechischen Denken spielte die Relation eine ganz entscheidende Rolle. (Hier
bedarf die in Der menschliche Gedanke" gegebene Übersicht einer
wichtigen Supplierung.) Charakteristisch für dieses spätere
griechische Denken, ehe die Mystik ihren Einfluß geltend machte, war die
kritisch-skeptische Richtung. Platon steht, trotz seines spekulativen Strebens,
als der Vorgänger dieser Richtung da, teils durch die Einwendungen, die er
in Parmenides" gegen die Ideenlehre darstellt, teils in dem Gewichte,
das in späteren Dialogen darauf gelegt wird, daß [3/4] die Erkenntnis
im Urteilen, also in Bestimmung der gegenseitigen Relationen der Begriffe,
Ausdruck findet
1
). Während aber Platon trotzdem doch immer davon überzeugt
war, daß die Wahrheit gefunden ist und in einer Welt ewiger Ideen
hervortritt, kam die spätere akademische Schule zu dem Resultat, daß
die Wahrheit nicht nur nicht gefunden war, sondern daß sie auch nicht
gefunden werden konnte; was man finden konnte, war nur Wahrscheinlichkeit. Der
bedeutendste Mann dieser Schule ist Karneades (2. Jahrh. v. Chr.), der
mit Recht der mächtigste Geist in Griechenland in diesen Jahrhunderten
genannt worden ist. Von entscheidender Bedeutung für den Relationsbegriff
war es, daß er die Frage entwarf, worin eigentlich unser Kriterium der
Wahrheit und der Wirklichkeit bestehe. Den Stoikern gegenüber, die sich
dadurch beruhigten, daß es Vorstellungen gäbe, in welchen die
Wahrheit ganz unmittelbar ergriffen werden könnte (
j
a
n
t
a
s
i
a
i
k
a
t
a
l
h
p
t
i
k
a
i
)
2
), behauptet er, daß, weil mehrere einander
widersprechende Vorstellungen mit diesem Gepräge auftreten können, man
zu keiner einzelnen Vorstellung Zuversicht haben könne. Die Gültigkeit
einer Vorstellung könne nur auf ihrer Übereinstimmung mit anderen
Vorstellungen beruhen. Sie soll nicht nur
a
p
e
r
i
s
t
a
t
o
V
, von anderen Vorstellungen nicht widersprochen sein, sondern müsse
durch Zusammenhang mit anderen Vorstellungen Bestätigung finden, wie die Ärzte
sich in ihren Diagnosen an keine einzelnen Kennzeichen, sondern an den
Zusammenhang aller Kennzeichen (
s
u
n
d
r
o
m
h
t
o
n
s
h
m
e
i
w
n
) halten. Ferner müsse in allen wichtigen Fällen ein
analysierendes Durchgehen aller den Vorstellungsinhalt betreffenden Verhältnisse
stattfinden (so daß die Vorstellung eine
f
a
n
t
a
s
i
a
d
i
e
x
w
d
e
u
m
e
n
h
werde)
3
).
Es wäre unrichtig, Karneades Skeptiker zu nennen. Er
1
) Vgl. meine
Bemerkungen über den platonischen Dialog Parmenides.
(Deutsche Übersetzung in Bibliothek für Philosophie.
Herausg. von Ludwig Stein. 1921.)
2
) Über die Bedeutung dieses Ausdruckes vgl. Paul Barth:
Die Stoa.
S. 66 f.
3
)
Sextus Empiricus
. ed. Bekker. S. 225-232. [4/5]
glaubt zwar nicht, daß eine Vorstellung, abgesehen von
ihrem Verhältnisse zu anderen Vorstellungen, Gültigkeit behaupten
kann, aber hierdurch zeigt er eigentlich nur auf den Weg hin, den der gesunde
Menschenverstand unwillkürlich geht, wenn ein Zweifel sich regt, und er
formuliert die Methode der Erfahrungswissenschaft. In seiner Darstellung der
Lehre des Karneades vergleicht Sextus seine Methode mit der von den empirischen"
Ärzten angewandten, und man hat sogar vermutet
1
), daß diese Ärzteschule ihn beeinflußt hat. In
dem von Karneades behaupteten Wahrheitskriterium gibt sich der Relationsbegriff
deutlich kund, und zwar in einer Weise, die schon von Platon (Staat X 602 B-603
A) angedeutet wird, wie wir späterhin wieder erwähnen wollen.
Wenn nun das Wahrheitskriterium das widerspruchsfreie Verhältnis
geprüfter und durchgedachter Vorstellungen ist, wird dadurch eine Aufgabe
gestellt, die nimmer absolut gelöst werden kann. Es gibt keine Grenze dafür,
in wie vielen Verhältnissen eine Vorstellung untersucht werden soll, damit
sie ihre Probe vollständig bestehen könne. Es zeigt sich hier, was
sich im folgenden immer wieder zeigen wird, daß der Relationsbegriff auf
einmal eine Grenze und eine Aufgabe bedingt. Wegen der vorherrschenden Bedeutung
dieses Begriffs in unserer Erkenntnis drückt jedes erreichte Verständnis
gewisse bestimmte Verhältnisse aus und gilt nur für diese, ist also
insoweit relativ". Anderseits aber führt uns die Relation als
Kategorie immer über jedes erreichte Verständnis hinaus, indem sie die
Wichtigkeit oder die Notwendigkeit, neue Relationen zu suchen, einschärft,
damit die Bestimmung des verstandenen Gegenstandes tiefer werden könne. Was
dem Gedanken Widerstand macht, was ihn hemmt oder begrenzt, stellt ihm aber
dadurch neue Aufgaben und gibt ihm neue Anregungen. Charles Renouvier hat daher
mit Recht von der Relation als Methode (la méthode des relations)
gesprochen. In der Geschichte des Relationsbegriffes bis in die neueste
1
) Victor Brochard:
Les Sceptiques Grecs (1889).
p. 183. [5/6]
Zeit treten immer wieder die beiden Tendenzen Begrenzung und
Aufgabe (Widerstand und Arbeit, Abschluß und Erweiterung) auf. Und sie
haben beide in der Relation als Kategorie ihren Ursprung.
Schon im Altertum tritt diese doppelte Seite des
Relationsbegriffs hervor. Nach der Zeit des Karneades waren die Akademiker am
meisten vor dem Drange nach Abschluß beherrscht und näherten sich den
Stoikern mit ihrem Glauben an eine einmal für alle gegebene Wahrheit. Die
Skeptiker dagegen meinten, daß, wenn man nimmer die volle Wahrheit
gewinnen kann, hat man kein Recht, an sie zu glauben. Außerdem könne
man ja wieder fragen, durch welches Kriterium wir die Gültigkeit des von
Karneades behaupteten Kriteriums entscheiden können. - Während
die Dogmatiker den Relationsbegriff verwerfen und sich an gewisse Vorstellungen
als definitive halten, schließen die Skeptiker kraft des
Relationsbegriffes, daß es keine Wahrheit gibt: relative Wahrheit sei
keine Wahrheit!
Der hervorragendste dieser Skeptiker, Ainesidemos
(wahrscheinlich im ersten Jahrhundert v. Chr.), hat eine systematische
Darstellung der verschiedenen Verhältnisse, die seiner Meinung nach wahre
Erkenntnis unmöglich machen, gegeben. Er weist auf die Verschiedenheiten
der organischen Wesen, besonders der Menschen, hin, auf die Verschiedenheiten
unserer Sinne, mittels welcher dasselbe Ding" sich für
verschiedene Sinne verschieden zeigt, auf die Bedingtheit unserer Auffassung
durch Raum- und Zeitverhältnisse, besonders durch unseren Abstand vom
Gegenstande, auf den Einfluß von Gewohnheiten und Überlieferungen. Es
gibt überhaupt zehn Arten von Verhältnissen, die unsere Erkenntnis
unsicher machen. Sextus Empirikus (ed. Becker [Bekker] S. 10) zeigt, daß
die zehn Arten (
t
r
o
p
o
i
) auf drei zurückgeführt werden können, indem die
Auffassung entweder durch das auffassende und urteilende Subjekt (
o
k
r
i
n
w
n
) oder durch das aufgefaßte Objekt (
t
o
k
r
i
n
o
m
e
n
o
n
) oder durch beides auf einmal bestimmt werden kann. Und diese drei
Tropen" führt er dann zuletzt auf den allgemeinen Relationsbegriff (
o
p
r
o
V
t
i
t
r
o
p
o
V
) zurück. [6/7] Hier wird zum erstenmal die Relation als
allgemeine Kategorie aufgestellt.
Mit Unrecht hat man in der Rolle, welche die Erörterungen über
das Wirklichkeitskriterium in den späteren Zeiten des Altertums spielen,
ein Zeichen der Abschwächung des Forschungsdranges gesehen
1
). Es sind eben neue und bedeutungsvolle Gedanken, die in der
akademischen und skeptischen Schule hervortreten, Gesichtspunkte, die Platon und
Aristoteles in ihrer intellektuellen Begeisterung nicht recht gewürdigt
hatten. Die Einsicht, daß die Entwicklung darüber, was als
Wirklichkeit anerkannt werden soll, teils durch das Verhältnis zwischen
Gegenständen untereinander, teils durch das Verhältnis zwischen den
Gegenständen und dem auffassenden und denkenden Subjekt bestimmt wird, ist
von der akademischen und skeptischen Schule zur Philosophie und Wissenschaft der
neueren Zeit übergegangen
2
), wie es sich im folgenden zeigen wird. Im Altertum selbst
bildete die Erörterung dieser Frage eine Einleitung zu einer rein
empirischen Wissenschaft, besonders in den ärztlichen Schulen, und eine
wissenschaftliche Bewegung in dieser Richtung war vielleicht, wie schon bemerkt,
mitwirkend bei der prinzipiellen Entstehung der Frage. -
In neuerer Zeit haben besonders Kritizismus und Positivismus auf
den Relationsbegriff Gewicht gelegt. Kant, dessen Kategorienlehre die
bedeutendste seit Aristoteles ist, kam zu seiner Philosophie mittels der
Einsicht, daß die Kategorie der Relation die wichtigste von allem ist,
indem unsere Erkenntnis überall darauf ausgeht, Gegenstände mittels
Bestimmung ihrer gegenseitigen Verhältnisse zu verbinden. Zwei Arten von
Verhältnissen sind von besonderer Bedeutung, Abhängigkeit und Ähnlichkeit,
und in der Arbeit, solche Verhältnisse zu denken, offenbart sich die
Erkenntnis als Synthese
3
). Auch bei Kant machten sich die zwei obenerwähnten
1
) Deussen,
Die Philosophie der Griechen.
S. 410.
2
)
Der menschliche Gedanke.
S. 113.
3
) Vgl. meine Abhandlung
Die Kontinuität im philosophischen
[7/8]
verschiedenen Gesichtspunkte dem Relationsbegriff gegenüber
geltend. Er hat eine gewisse Neigung, es als eine Unvollkommenheit an unserer
Erkenntnis zu betrachten, daß alles in Relationen gestellt wird, und er
setzt daher ein Ding an sich" als über alle Relationen hinaus
liegend voraus. Einige Kantianer, besonders William Hamilton, haben dies noch stärker
betont und es als eine durchgehende Begrenzung unserer Erkenntnis betrachtet, daß
ihre Arbeit immer darin besteht, das eine ins Verhältnis zu einem anderen
zu setzen. In ähnlicher Weise erklärte Herbart, daß unser
Beziehen uns nur eine zufällige Ansicht der Dinge geben könne, und daß
wahre Realität gar nicht in Beziehung stehe. Für Kant war doch der
wesentliche Gesichtspunkt der, daß alle Wissenschaft durch die in
bestimmten Gesetzen ausgedrückten Verhältnisse zwischen den Gegenständen
charakterisiert ist. Und von diesem Gesichtspunkt aus ist die Notwendigkeit der
Relation eben eine Quelle der Fülle und des Reichtums für unsere
Erkenntnis. Je mehr Relationen wir finden und bestimmen können, um so größere
Einheit und um so größere Mannigfaltigkeit wird es gleichzeitig in
unserer Erkenntnis geben.
Für die spekulativen Nachfolger Kant's wurde die Relation
mehr und mehr eine Schranke, über die man hinaus strebt, um eine höchste,
allumfassende Einheit zu suchen, innerhalb welcher alle Relationen, besonders
alle Gegensätze als einseitige und unvollkommene Auffassungen stehen
sollten. Fichte steht hier als ein charakteristischer Übergangstypus. Er
hat einen klaren Blick dafür, daß, wenn wir Verhältnisse finden
und bestimmen wollen, sich darin eine geistige Aktivität kundgibt. Ohne
geistige Wirksamkeit kein Setzen von Relationen: Die reine Tätigkeit
ist Bedingung des Beziehens" (Wissenschaftslehre
2
S. 244). Relation ist nicht ein Empfangenes oder
Aufgezwungenes, sondern setzt einen Gedankenakt voraus. Und wenn durch einen
solchen Akt eine Schranke gesetzt wird, bedeutet dies bloß, daß eine
Aktivität notwendig
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 7]
Entwicklungsgang Kant's.
(Deutsche Übers. in Archiv für die Gesch. d. Pilos.
[Philos.] VII.) § 27. [8/9]
ist. Geistige Arbeit, theoretischer oder praktischer Art, führt
dazu, Schranken zu überwinden, und die vollkommene Schrankenfreiheit steht
als das erhabene Ideal, das in keinem geistigen Zustande verwirklicht werden
kann. In seiner späteren Philosophie wurde das Problem Fichtes doch ein
anderes. Es war nicht mehr die Frage, wie wir durch Setzen von Relationen und
durch Kampf mit den so gesetzten Schranken eine immer reichere Wahrheit gewinnen
können, sondern es wird jetzt in neuplatonischer Weise gefragt, wie ein
Streben nach Wahrheit überhaupt möglich sei, wenn ein absolutes Sein
der Grund von allem sei.
Die Philosophie Hegels ging in ihrer historischen Orientierung
von einem Stadium aus, auf welchem die menschlichen Gedanken friedlich
beieinander wohnten, ohne daß sich ein Bedürfnis regte, ihre
gegenseitigen Verhältnisse zu bestimmen. Das Entstehen eines solchen Bedürfnisses
ist für Hegel ein Auflösungsphänomen. Dann entstehe ein unglückliches
Bewußtsein", in welchem die Harmonie der Gedanken zerbrochen sei, und
strenge geistige Arbeit sei erfordert, damit die einzelnen Gedanken, trotz oder
eben mittels ihrer Gegensätze, als die Glieder eines großen Ganzen
stehen können. Dies wird durch die dialektische Methode, die eigentlich
eine Systematisierung von Relationsbegriffen bedeutet, möglich. Der
einzelne Gedanke wird über sich selbst zu anderen Gedanken geführt,
indem seine Begrenzung eingesehen wird. Dadurch werden die Widersprüche,
die durch die Isolation der Gedanken hervorgerufen wurden, aufgehoben. -
Doch wird eine kritische Untersuchung zeigen, daß Hegel eigentlich selbst
die Begriffe isoliert, um dann hinterher die höhere Einheit siegreich
aufweisen zu können. So z. B., wenn er gleich am Anfange seiner Logik Sein"
als etwas für sich und Nichts" als etwas für sich
aufstellt, um dann zu zeigen, daß sie einander nicht entbehren können.
Jedes Sein hat ja seine Grenze, über die hinaus es nichts gibt, wenn eine
neue Form des Seins nicht gefunden werden kann, - und Nichts"
bedeutet eben nur eine solche Grenze des Seins. Es ist die Erfahrung von einem
begrenzten Sein, die von Hegel in zwei einander widersprechende [9/10] Begriffe
aufgelöst wird
1
). - Obgleich aber Hegel die Widersprüche, die seine
Dialektik überwinden soll, oft selbst erschafft, und obgleich es ihm
allzuleicht gelingt, von Relation zu Relation zu kommen, ist seine Philosophie
doch ein großer Ausdruck für die Wahrheit, daß man die Welt nur
dadurch denken kann, daß man sich von Relation zu Relation fortarbeitet,
und sie zeigt zugleich, daß in dieser Arbeit das Höchste, was gedacht
werden kann, als vorwärts führende Kraft zugegen ist. -
Mit vollem Bewußtsein hat der französische
Neukantianer Charles Renouvier den Relationsbegriff an die Spitze seiner
Kategorienlehre gestellt. Daß alles relativ ist - sagt er ,
dieses starke Wort des Skeptizismus, war das letzte Wort der kritischen
Philosophie des Altertums und muß das erste Wort der modernen Methode
sein. Er findet in dieser Kategorie eine ganze Methode enthalten: es gilt unsere
Gegenstände durch so viele Relationen als möglich zu bestimmen. -
Der Kritizismus begegnet hier dem Positivismus. Für Comte liegt der
Relationsbegriff in dem Begriffe von positiver" Wissenschaft
enthalten, indem diese überall bestimmte, in Gesetzen ausgedrückte
Relationen statt der absoluten, aber unbestimmten Wesen oder Kräfte der
Theologie und der Metaphysik zu setzen sucht. Von diesem Gesichtspunkte
betrachtet Comte ausdrücklich Kant als seinen Vorgänger, wie er auch
darin mit ihm einig ist, daß die Erkenntnisarbeit in einer Verbindung der
Gegenstände besteht (tout se réduit toujours à lier), - einer
Verbindung, die teils durch Klassifikation (par similitude), teils durch
Ableitung (par filiation) geschähe
2
). - Wie Dauriac gezeigt hat
3
), ist Comte's Klassifikation der Wissenschaften nach
1)
Wissenschaft der Logik
. 1812. I. S. 22-26. - Neuere Hegelianer stellen sich
hier dem Meister kritisch gegenüber. So B. Croce:
Cio che è vivo e cio che è morto della
filosofia di Hegel.
(1907). S. 21-33. Mc Taggart:
A Commentary on Hegels Logic.
(1910). S. 17.
2)
Discours sur l'esprit positif.
(1844.) S. 20.
3)
Contingence et catégorie
. (Revue de Métaphysique et de Morale. 1916.) S. 499.
[10/11]
demselben Prinzip angelegt wie Renouvier's Ordnung der
Kategorien, nämlich so, daß von dem Einfachen und Fundamentalen zum
Komplexen und Abgeleiteten fortgeschritten wird.
Goblot
1
) wendet gegen jeden Versuch einer Kategorienlehre ein, daß
unser Wissen noch zu provisorisch ist, sowohl was die letzten Schlüsse als
was die fundamentalen Prinzipien betrifft, um ein System der Grundbegriffe
aufstellen zu können. Diese Einwendung trifft aber nicht Renouvier, der
klar eingesehen hat, daß kein rationeller Beweis für die Gültigkeit
der Kategorien oder für die Vollständigkeit der Kategorienliste geführt
werden kann. Die Kategorien werden durch Analyse der Erfahrung gefunden; sie
werden probeweise aufgestellt und müssen immer wieder durch Erfahrung bestätigt
werden
2
). Renouvier macht daher Kant den Vorwurf, daß er eine
deduktive Begründung der Kategorienlehre versucht hat. In eigentümlichem
Gegensatz hierzu hat der Schüler Renouvier's Hamelin
3
), obgleich er die Kategorientafel seines Vorgängers festhält,
eine dialektische Ableitung geben wollen, indem er meint, daß jede
Kategorie in ihren Gegensatz hinüberführt. Er verwechselt aber, wie
Hegel, Korrelation von Begriffen mit einem Verhältnisse des Widerspruchs
oder des Gegensatzes. Ein solches Verhältnis entsteht nur, wenn die
einzelnen Begriffe durch isolierende Abstraktion aus ihrer Korrelation heraus
genommen werden; die Wiederaufhebung dieser Isolation kann dann einen Schein der
Dialektik hervorbringen. Hamelin's dialektische Übergänge sind auch
sehr künstlich. - Man kommt, wie Renouvier richtig gesehen hat, in der
Kategorienlehre nicht über eine analytische Methode hinaus.
Die Kategorien werden durch Analyse der faktischen Arbeit, die
von unserem Gedanken geübt wird, wenn ihm bestimmte Fragen gestellt werden,
gesucht und gefunden. Jede Kategorientafel kann daher nur einen vorläufigen
Charakter
1
)
Traité de Logique.
(1918.) S. 138.
2
) Vgl. Séailles:
La philosophie de Renouvier
S. 91 f.
3
)
Essai sur les éléments principaux de la représentation.
(1907.) [11/12]
haben, und die spezielleren Kategorien können nicht aus den
allgemeineren und mehr umfassenden abgeleitet werden, obgleich sie sich bei näherer
Untersuchung als spezielle Formen von diesen zeigen können. Wie überall,
wo wir mit Begriffen zu tun haben, die aus der Erfahrung (in diesem Fall aus der
faktischen Gedankenarbeit) gezogen sind, besteht hier ein umgekehrtes Verhältnis
zwischen Inhalt und Umfang. Je mehr Elemente ein Begriff enthält, um so
enger ist der Kreis von Gegenständen, für den der Begriff gilt. In der
Kategorienlehre ist dies von besonderer Wichtigkeit durch das Verhältnis
zwischen den Wertbegriffen und den mehr universalen (fundamentalen, formalen und
realen) Kategorien. Weil aber, wie ich in meiner Abhandlung über den
Totalitätsbegriff zu zeigen versucht habe, aller Wert in Relation zu einem
Ganzen und seinen Existenzbedingungen steht, gibt es doch einen inneren
Zusammenhang zwischen den Wertbegriffen und den anderen Kategorien.
Es ist nun die Aufgabe gegenwärtiger Abhandlung, den
Relationsbegriff dadurch zu beleuchten, daß er in seiner Bedeutung für
die verschiedenen philosophischen Probleme betrachtet wird. Es wird hierbei
zweckmäßig sein, nicht nur den Begriff der Relation, sondern auch das
ihm entsprechende Prinzip der Relation zu untersuchen. In Der menschliche
Gedanke" (S. 279) habe ich dieses Prinzip in folgender Weise
formuliert: Jeder Gegenstand (Erlebnis oder Element) soll in so vielen
Beziehungen wie möglich betrachtet, mit so vielen anderen Gegenständen
zusammengestellt werden, daß er möglichst vollkommen bestimmt werden
kann. Wo wir keine Relationen finden können, gewinnen wir auch keine
Erkenntnis. Das Verhältnislose ist daher mit Recht von Kant als außer
aller Wissenschaft liegend erklärt; es kann nur ein rein negativer Begriff
sein. Unser Denken wirkt wie ein Zirkel: beide Beine sollen eine Stellung
finden, und unsere Erkenntnis beruht auf dem Verhältnisse zwischen diesen
zwei Stellungen. -
Wenn die Abhandlung von Relation", nicht von Relativität"
handelt, so geschieht dies, weil der Ausdruck Rela-[12/13]tivität"
oft mißverstanden wird, indem man (wie in ihrer Weise die alten Skeptiker)
meint, daß, wenn etwas relativ" sei, es dann ungültig oder
gleichgültig, sei, keine objektive Bedeutung habe. Ganz im Gegensatz zu
einer solchen Auffassung muß behauptet werden, daß jede Wahrheit in
ganz bestimmten Relationen ihren Ausdruck findet und nur innerhalb solcher
Relationen gilt, aber dann absolut gilt (wenn die Relationen richtig bestimmt
sind). Daß alle Notwendigkeit, wie schon Kant lehrte, hypothetisch ist,
also nur in Relation zu ihren Voraussetzungen gilt, bedeutet nicht, daß
eine solche Notwendigkeit keine wirkliche Notwendigkeit wäre. Bei jeder
Notwendigkeit muß nach den Voraussetzungen gefragt werden, denn
Notwendigkeit besteht eben in einem Verhältnisse von Grund und Folge. Nur
durch Gedankenwirksamkeit wird ein solches Verhältnis gefunden. Und auch
von diesem Gesichtspunkte aus ist der Ausdruck Relativität"
unzweckmäßig, indem er die Vorstellung von einer ruhenden Eigenschaft
oder von einem abgeschlossenen Zustande erwecken kann. Relation besteht aber in
einem Referieren, in einer beziehenden Aktivität, einem bestimmten
Einstellen der zwei Zirkelbeine des Gedankens. In dem Begriff der Relation liegt
eine Anweisung zur Gedankenarbeit. [13/14]
B
ei jedem Versuch, eine, wenn auch nur vorläufige Erklärung
davon zu geben, was man unter Bewußtseinsleben" oder Seelenleben"
versteht, muß man besonderes Gewicht auf die Tatsache legen, daß
alles, was empfunden, vorgestellt, gefühlt und gewollt wird, gewisse
bestimmte Verhältnisse darbietet, ohne welche es nicht gedacht werden kann.
Man hat freilich versucht, das Seelenleben als ein Chaos relationsloser Elemente
aufzufassen; aber solche Versuche haben, trotz der Energie, mit welcher sie
bisweilen gemacht waren, zu keiner verständlichen Psychologie führen können.
Die Sache ist nämlich, daß jedes seelische Element von seiner ersten
Entstehung an in einen Zusammenhang hineingewoben ist, durch welchen es bestimmt
wird, und mittels welchem es einen bestimmenden Einfluß auf das
Seelenleben üben kann. Dadurch macht das Seelenleben ein Ganzes aus und ist
ein Beispiel der oben erwähnten Verbindung der Begriffe Totalität und
Relation. In Erscheinungen wie Erinnerung, Vergleichung, Verwunderung und
Vorziehen offenbart sich die Eigentümlichkeit des Bewußtseinslebens
in besonders klarer Weise, und in ihnen ist eben mehr als ein Chaos gegeben,
indem die verschiedenen Elemente, die durch psychologische Analyse gefunden
werden können, ganz und gar durch ihre gegenseitigen Relationen in ihrer
Eigentümlichkeit bestimmt sind. Und alle Erfahrungen deuten darauf hin, daß
auch die mehr primitiven und einfachen seelischen Erscheinungen in Analogie mit
ihnen aufgefaßt werden müssen; jedenfalls hat die Sprache keine
Bezeichnungen, die den Unterschied ausdrücken könnten, gebildet. Es
wird sich im folgenden zeigen, daß dies mit dem Grade der Bewußtheit
von den Verhältnissen des Seelenlebens zusammenhängt. [14/15]
Durch die durchgehende Bedeutung des Relationsbegriffes
innerhalb des Bewußtseinslebens ist es berechtigt, wie besonders Leibniz
und Kant eingeschärft haben, das Bewußtsein als eine Synthese zu
charakterisieren. Eine Relation kann sich nur geltend machen, wenn ihre Glieder
zusammengefaßt werden; Relation bedeutet ja eben, daß gewisse
Erscheinungen Glieder eines Ganzen sind und dadurch bestimmt werden.
Der schon erwähnte doppelte Charakter der Relation, als
begrenzend und als weiterführend, gibt sich in der Psychologie deutlich
kund. Die Eigentümlichkeit jedes seelischen Elements beruht auf seinem Verhältnisse
zu anderen seelischen Elementen und ist insoweit begrenzt; aber eben durch diese
Relationsbestimmtheit zeigt jedes Element, wenn es plötzlich und ohne
deutlichen Zusammenhang mit anderen Elementen, auftritt, über sich selbst
hinaus und ruft ein Bedürfnis der Supplierung hervor
1
). -
Einzelheiten betreffend, muß ich hier auf meine
Darstellung der Psychologie hinweisen, die eben auf dem Grundgedanken aufgebaut
ist, daß die Gültigkeit des Verhältnisgesetzes für alle
seelischen Erscheinungen den Charakter des Bewußtseins als Synthese
bezeugt. Nur einzelne Hauptzüge sollen hier hervorgezogen werden.
In betreff der Sinnesempfindungen war man lange nicht darüber
klar, daß der Relationsbegriff, und mit ihm der Synthesebegriff, für
sie Gültigkeit hatte. Hobbes hatte zwar energisch behauptet, daß eine
einzige unveränderliche Empfindung dasselbe wie gar keine Empfindung wäre.
Man war
1
) In meiner Abhandlung über Platons Parmenides"
(Bibliothek für Philosophie. Herausg. von Ludwig Stein) Kapitel 3 habe ich
darauf aufmerksam gemacht, daß, während Platon den logischem Übergang
von einem Begriffe (Idee) zu einem anderen sehr schwierig fand, hatte er als
Psychologe keinem Zweifel darüber, daß selbst ein plötzlich
auftauchendes und höchst wertvolles Erlebnis seinen bestimmten Platz in der
Reihe der Erlebnisse hatte und dadurch bedingt war, daß eine ganze Reihe
Bestrebungen und Erfahrungen in einer bestimmten Ordnung vorausgegangen war.
[15/16]
aber immer geneigt, die Empfindungen als ein Chaos, das erst von
dem Verstande" geordnet werden sollte, aufzufassen. Im Laufe des
neunzehnten Jahrhunderts kam man zu einer anderen Auffassung. Die Entdeckung der
Kontrastwirkung durch Chevreul zeigte, daß die Qualität der
Empfindungen durch das Verhältnis zur Qualität vorhergehender und
gleichzeitiger Empfindungen bedingt war, und Fechner fand ein analoges Verhältnis
für die Intensität, mit welcher die einzelnen Empfindungen sich
geltend machen. - Man ist geneigt gewesen, es als eine Unvollkommenheit zu
betrachten, daß wir keine absoluten" Empfindungen besitzen, und
selbst Helmholtz betrachtete sukzessive Kontrastwirkung als eine Illusion. Man
kann aber keine Normalempfindung" aufzeigen, dessen Qualität die
richtige" sein sollte, und jedenfalls würde auch eine solche
durch gewisse Empfindungsrelationen bedingt sein. - Wir sehen schon hier,
bei diesen elementaren Erscheinungen, etwas, das auch bei den höchsten
intellektuellen Funktionen hervortreten wird. -
Gehen wir von den Empfindungen zu den Vorstellungen (die in
ihrer einfachsten Form reproduzierte Empfindungen sind), so sehen wir, daß
das Auftauchen einer bestimmten Vorstellung in einem bestimmten Augenblicke
durch das Verhältnis dieser Vorstellung zu anderen Vorstellungen bedingt
ist. Man hat zwar versucht, jeder Vorstellung eine Art Selbsterhaltungsdrang
zuzuschreiben, so daß sie wie von selbst" in dem Bewußtsein
auftauchen sollte, sobald andere Vorstellungen (oder Empfindungen) die
psychische Energie nicht in Anspruch nehmen. Auch dann aber hängt ja das
Auftreten der Vorstellung von bestimmten Verhältnissen (Hemmung oder
Nichthemmung) ab. Die Selbständigkeit, mit der sich die einzelne
Vorstellung geltend macht, ist, wie die Erfahrung zeigt, durch ihr Verhältnis
zum ganzen übrigen Bewußtseinsleben bedingt und ist nur dadurch verständlich.
Es wird immer unnatürlich, zuletzt unmöglich sein, eine Vorstellung
von dem übrigen Inhalt des Bewußtseins isoliert zu halten. Jede
einzelne Vorstellung hat eine Tendenz, andere Vorstellungen nach bestimmten
Gesetzen hervorgerufen. Auch hier offenbart [16/17] sich der synthetische
Charakter des Seelenlebens. Die meisten Psychologen sind denn auch darin einig,
daß die sogenannten Assoziationsgesetze verschiedene Formen der Totalitätsassoziation
sind, verschiedene Formen, in welchen sich der Drang nach Wiederhervorrufung des
ganzen Bewußtseinszustandes, dessen Glied die einzelne Vorstellung einmal
gewesen ist, äußert.
Auf dem Gebiete des Gefühlslebens ist das Verhältnisgesetz
früh bemerkt worden. Am deutlichsten tritt es in der Verwunderung hervor,
diese sei nun ein selbständiges Gefühl oder ein Glied eines
komplizierten Gefühls. Aber in aller Lust und Unlust, in Freude und Leid
ist das Verhältnis zwischen dem vorhandenen Zustande und vorausgehenden
Zuständen von entscheidendem Einfluß. Das Glück, das gefühlt
wird, hängt nicht nur von der absoluten" Größe des
erfahrenen Gewinnes oder Fortschritts, sondern auch von dem Verhältnisse zu
dem schon voraus vorhandenen Gefühlsniveau ab. Je mehr verschiedene
Relationen sich bei dem Entstehen eines Gefühls geltend machen, um so
eigentümlicher und reicher wird dieses Gefühl sein. Bei jedem solcher
reich ausgeformten Gefühle wird es die Frage sein, ob es den neuen
Relationen, denen das Seelenleben unterliegen wird, gegenüber bestehen
kann. So z. B., wenn der Humorist tragischen Schicksalen begegnet
1
).
Wollen ist vorziehen, ist daher in ganz einförmigen inneren
und äußeren Zuständen ebenso unmöglich wie Empfindung,
Vorstellung und Gefühl. Es müssen innere oder äußere
Unterschiede gegeben sein, damit ein Wollen möglich sei. Schon
Reflexbewegung und Instinkt setzen Änderungen im inneren, organischen
Zustande oder in den äußeren Verhältnissen voraus. Reaktion
setzt Aktion voraus. Dies gilt sowohl für das unwillkürliche als für
das willkürliche Wollen. Es gibt viele Grade des Wählens, aber immer
ist eine Verschiedenheitsrelation eine Voraussetzung. Alle Überlegung, die
unwillkürliche sowohl als die willkürliche, geht nur darauf aus,
1
)
Der große Humor.
(Deutsche Übers.) S. 118-121. [17/18]
solche Verschiedenheitsrelationen so deutlich wie möglich
hervortreten zu lassen. Die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten werden
nach ihrem Verhältnisse zum jetzigen oder bisherigen Zustande des
Seelenlebens gemessen. Hier kann ein Kampf entstehen, dessen Ausgang auf der
Relation zum Charakter und zur Geschichte des Individuums beruhen wird. Man hat
bisweilen die Motive als absolut selbständige, vom Willen unabhängige
Elemente betrachtet. Jedes Motiv ist aber selbst ein Wollen, ein Vorziehen. Was
für ein Individuum Motiv werden kann, beruht auf dem Charakter und der
Vorgeschichte des Individuums. Motive sind nimmer relationslos. Es ist von
entscheidender Wichtigkeit, auf welchem Punkte der Entwicklung eines Individuums
eine Handlungsmöglichkeit auftritt; davon hängt es ab, ob ein gewisses
Motiv überhaupt entstehen kann, und ob es siegen können wird. -
Es ist eine besondere Frage, ob das Bewußtsein selbst auf
die entscheidenden Relationen aufmerksam wird. Viele psychologische Probleme
entstehen dadurch, daß die Relationen nicht entdeckt werden, indem sie nur
durch eine objektive, historische Untersuchung dargetan werden können, eine
Untersuchung, die vom Individuum selbst, jedenfalls in der Zeit des
unmittelbaren Erlebnisses, nicht unternommen werden kann.
Kontrastrelationen machen sich, sowohl was Qualitäten als
was Intimitäten betrifft, von Anfang an geltend, ohne daß wir es
merken. Wir sind von dem Leben und der Stärke des neuen, eben durch den
Kontrast hervorgehobenen Elements aufgenommen. So vergessen wir, wenn eine Farbe
gesättigt" dasteht, sehr leicht die Relation, durch welche die Sättigung
bedingt ist. Wir wenden uns einem neuen Gefühl, das nach einem Gefühle
entgegengesetzter Art mit Leben und Fülle auftritt, entgegen und vergessen
den Besiegten über dem Sieger. Ein Vorsatz oder ein entscheidender Beschluß
kann sich wie ein Schlag auf den Kopf" (um Dostojewkis Ausdruck in Raskolnikow"
zu gebrauchen) melden, indem wir die unwillkürliche oder willkürliche Überlegung
vergessen, die mittels eines Zusammenspiels von Erinnerungen, Gefühlen
[18/19] und Trieben den Weg gebahnt haben. Wir merken nicht immer den
Assoziationsverlauf, dem eine Vorstellung ihr Entstehen verdankt, und sie kann
dann als eine plötzliche, unmotivierte Eingebung stehen.
Wir haben überhaupt die Neigung, bei gewissen
hervorspringenden Punkten unseres Seelenlebens zu verweilen und die Relationen
zu übersehen, die die Übergänge zwischen solchen Punkten
bedingen. William James, der diese Eigentümlichkeit des Seelenlebens
trefflich beleuchtet hat, machte einen Unterschied zwischen Ruheplätzen und
Flugplätzen innerhalb des Stromes des Bewußtseins und meinte, daß
wir geneigt sind, uns an den Ruheplätzen zu halten. Noch deutlicher hat er
sich ausgedrückt, wenn er von substantivischen und transitiven Teilen
unseres inneren Lebens spricht, und zeigt, daß wir geneigt sind, jenen ein
absolutes, unabhängiges Bestehen zuzuschreiben, weil die Übergänge
oft nicht direkt wahrgenommen, nur geschlossen werden können
1
). Solche substantivische Elemente haben wir eben in
kontrastbestimmten Qualitäten oder Intensitäten, in unmittelbarem
Wiedererkennen (Bekanntheitsqualität), in einer plötzlich
auftauchenden Vorstellung, einem ausgeprägten Gefühl, einem überraschenden
Beschluß.
James hat ferner darauf aufmerksam gemacht, daß Relationen
bisweilen als Qualitäten gemerkt werden, so in den seelischen Zuständen,
die in der Sprache durch auch", aber", trotz"
u. a. ausgedrückt werden. Es ist dies eine Art Empfindung (oder Gefühl)
von Verbindung oder von Gegensätzlichkeit, die ebenso unmittelbar sein kann
wie die gewöhnlich so genannten Empfindungen.
Hierhin gehört auch die merkliche Empfindung von einer
Richtung in unserem Seelenleben, die wir haben können. Um den Vergleich mit
dem Zirkel zu gebrauchen, können wir sagen, daß wir, während das
eine Zirkelbein feststeht (durch unsere Vorgeschichte und ihre Folgen bestimmt),
merken, daß das andere Zirkelbein in eine gewisse Richtung ausgespannt
1
)
Principles of psychology
. I. p. 243 ff. [19/20]
ist, ohne daß wir darüber klar werden können, an
welchem bestimmten Orte es sich stellen wird. Hier tritt bald mehr eine
unbestimmte Erwartung, bald mehr ein unbestimmtes Streben hervor. -
Auf dem Übergange zwischen Psychologie und
Erkenntnistheorie liegt die Frage, ob und wie eine Relation, deren man sich mehr
oder minder klar bewußt geworden ist, auf andere Glieder als die ursprünglichen
überführt werden kann. Eine wichtige Art, in welcher dies geschehen
kann, ist folgende. Wir ordnen unwillkürlich die Gegenstände nach Ähnlichkeit
und Verschiedenheit. Dadurch werden Reihen gebildet, und es kann sich dann
zeigen, daß ein Glied einer solchen Reihe ausgeschoben werden kann, und daß
das Verhältnis doch immer zwischen seinem früheren Vorgänger und
seinem früheren Nachfolger bestehen kann. In der Reihe ABC kann vielleicht
B ausgeschoben werden und das Verhältnis zwischen A und C das gleiche sein
wie das zwischen A und B
1
). Es ist ein solcher Fall, der in der formellen Logik als ein
Verhältnis zwischen Prämissen und Konklusion konstruiert wird. Die Prämisse
sind z. B. A = B und B = C, und die Konklusion wird A = B
[A = C]. Überhaupt macht sich die Relation (die eben darum zu den
fundamentalen Kategorien gehört) früher als alles Begriffsbilden,
Urteilen und Schließen geltend. Schon innerhalb der Sinnes-, Erinnerungs-
und Phantasieanschauung werden Elemente wegen ihres gegenseitigen Verhältnisses
geordnet und umgeordnet, ohne daß ein Denken im engeren Sinne des Wortes
stattfindet. Ich verweise hier auf meine Untersuchungen über das Verhältnis
zwischen Anschauen und Urteilen in Der menschliche Gedanke" S. 39-76
(vgl. schon meine Abhandlung Le fondement psychologique du jugement"
in Revue Philosophique" 1901). Von besonderem Interesse ist die Art,
in welcher eine Anschauung ganz unwillkürlich und unbewußt
artikuliert werden kann, ohne daß ein Urteil gebildet . wird. Wir streben,
so lange als möglich im Anschauen zu verweilen, ohne Begriffe und Urteile
zu bilden und ohne Schlüsse zu ziehen.
1
) Vgl.
Der menschliche Gedanke.
S. 177 f. [20/21]
In der Reihe ABC blieb oben A stehen, aber C konnte in dieselbe
Relation zu A treten wie, früher B. Die Frage entsteht nun, ob man nicht
beide Zirkelbeine anderswohin stellen kann, so daß das Verhältnis
zwischen ihnen in der neuen Stellung dasselbe bleibt. In einem einfachen
Beispiele geschieht dies, wenn eine Relation zwischen zwei neuen Gliedern (X und
Y) vorliegt und diese Relation dann als dieselbe, die schon zwischen zwei früheren
Gliedern (A und B) wiedererkannt wird. Solches Wiedererkennen kann - wie das
Wiedererkennen von Qualitäten - entweder unmittelbar oder mittelbar sein;
im letztern Falle setzt es ausdrückliche Ausmessung voraus, oder auch
wirken mehrere Relationen als Mittelglieder zwischen den beiden Relationen, die
identifiziert werden. Die Intuition, in welcher es, der Sage zufolge, für
Newton aufging, daß das Verhältnis des fallenden Apfels zur Erde
dasselbe war wie das Verhältnis der Planeten zur Sonne, ist zuerst
unmittelbar gewesen, wurde aber mittelbar mittels der Messungen und Rechnungen,
die zur definitiven Aufstellung seiner Gravitationslehre führten. Überhaupt
entstehen viele Fragen und Probleme eben dadurch, daß die Möglichkeit
von identischen Relationen auf dem einen oder dem andern Wege für das Bewußtsein
auftritt. Sowohl Bestimmungsfragen, die fehlenden Relationen zu verdanken sind,
als Entscheidungsfragen, die durch Streit zwischen verschiedenen möglichen
Relationen entstehen, können das Denken weiterführen. Schon innerhalb
des gemeinen Bewußtseins (sens commun) können solche Fragen mit
Versuchen der Beantwortung auftreten, und was wir Wissenschaft nennen, beruht
nur auf strenger Begründung und Formulierung der Fragen und scharfer
Untersuchung der Gültigkeit der Antworten.
Ein steigender Grad des ausdrücklichen Bewußtseins
von Relationen führt vom unwillkürlichen Denken zum logischen und
mathematischen Denken, das mit Relationen wie mit einfachen Qualitäten
operiert, Reihen von Relationen und wieder Reihen von solchen Reihen bildet. Ein
Beispiel dieses Überganges gibt die Entwicklung des Zahlbegriffes von
Zahl-[21/22]qualität durch Laufnummer zur Anzahl und weiter zu den
verschiedenen Funktionsbegriffen
1
).
Eine bestimmte Grenze des Denkens würde vorliegen, wenn es
Reihen geben sollte, deren Glieder ohne weiteres vertauscht werden könnten,
weil das Ähnlichkeits- oder Verschiedenheitsverhältnis absolut das
gleiche zwischen allen Gliedern wäre. Solche Reihen würden entweder
chaotische Verschiedenheitsreihen oder absolute Identitätsreihen sein. Ob
sie im Dasein vorkommen, kann von vornherein nicht entschieden werden. Aber vom
Standpunkt der Psychologie muß gesagt werden, daß sie im faktischen
Seelenleben nicht vorkommen; höchstens Annäherungen finden sich. Es
ist ein Grundgesetz in der Psychologie, daß die Ordnung der Addende nicht
gleichgültig ist. Wo Chaos oder absolute Identität zwischen
psychischen Elemten [Elementen] vorzuliegen scheinen, wird es die Aufgabe der
Psychologie sein, im ersten Falle Ähnlichkeiten oder bestimmte Abhängigkeitsverhältnisse
zwischen den anscheinend absolut verschiedenen Elementen im zweiten Falle
Verschiedenheiten und damit zusammenhängende Abhängigkeitsverhältnisse
zwischen den anscheinend identischen Elementen zu finden. Von Chaos oder von
absoluter Identität kann man nur von bestimmten Gesichtspunkten und in
Relation zu diesen sprechen
2
). Das Relationsprinzip macht sich also auch hier geltend. Die
Gedankenarbeit setzt ein beständiges Wechselverhältnis oder eine beständige
Brechung zwischen Kontinuität und Diskontinuität, Ähnlichkeit und
Verschiedenheit voraus; nur durch solche Brechung werden dem Gedanken bestimmte
Aufgaben gestellt, so daß seine Arbeit anfangen kann. Humes Behauptung, daß
chaotische Elemente das eigentlich Gegebene wären, machte jeden Anfang
einer Gedankenarbeit unmöglich. Spinoza's Aufstellung ewiger Attribute als
absoluter Identitäten setzte einen Abschluß aller Gedankenarbeit
voraus. Die zwei Denker endeten, jeder in seiner Weise, in Relationen, die
eigentlich keine Relationen mehr waren.
1
)
Der menschliche Gedanke.
S. 207-211.
2
)
Der menschliche Gedanke.
S. 179 f.; 185-187. [22/23]
D
ie Analyse, die zur Auffindung der Formen und Voraussetzungen
der Erkenntnis führen soll, muß nicht nur gegen die in strengerem
Sinne wissenschaftliche Arbeit gerichtet werden, sondern auch gegen das unwillkürliche
Denken, das wir alle im täglichen Leben anwenden, und das für den
sogenannten gesunden Menschenverstand charakteristisch ist. Aus diesem unwillkürlichen
Denken hat sich das wissenschaftliche Denken, das von bestimmten Begriffen
ausgeht und genaue Begründung sucht, Schritt für Schritt entwickelt,
und beim Übergange zur Wissenschaft kann, so groß und auffallend der
Gegensatz auch sei, keine vollständige Änderung in der Art des Denkens
eintreten. Kant hat dies eingesehen, wenn er sagt, daß auch der
gemeine Verstand" gewisse apriorische Erkenntnisse" hat (Kritik
der reinen Vernunft
2
S. 3), und er zeigt es noch bestimmter in seiner Lehre von
der Synthese als der Grundform des Bewußtseins, Wirkung einer
Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden,
der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind" (Kritik der reinen
Vernunft
1
[)] S. 78). Wir haben gesehen, welche Bedeutung dieser
Begriff für die Psychologie hat. Wie die anderen fundamentalen Kategorien,
ist er ein solcher, in welchem sich Psychologie und Erkenntnistheorie begegnen.
Neulich hat Meyerson
1
) mit Nachdruck und in sehr lehrreicher Weise hervorgehoben, daß
ganz dasselbe Denken in Naturwissenschaft, Philosophie und gesundem
Menschenverstand (sens commun) geübt wird.
1
)
De l'Explication dans les Sciences.
(1921). I. S. IX-XIV. [23/24]
Doch geht er auf die Stufen und Wege, auf welchen sich das
gemeine Denken sukzessiv der Wissenschaft nähert, nicht näher ein. So
betont er nicht die Bedeutung des Zweifels als eines Störenfriedes. Die
praktische Orientierung in der Welt ist nicht immer hinlänglich, oder sie führt
zu widersprechenden Möglichkeiten, denen gegenüber man ratlos steht.
In der Schule des Zweifels kommt der Gedanke dazu, strengere Forderungen in sich
selbst zu stellen.
Wenn man das Wort Vernunft" so definieren wollte, daß
es von dem vorwissenschaftlichen sowohl als von dem wissenschaftlichen Denken
gebraucht werden könnte, könnte man sagen, daß sie ein Inbegriff
von Kategorien sei, besonders von fundamentalen Kategorien, das heißt
solchen, die auf allen Stufen angewandt werden müssen. Zu diesen
fundamentalen Kategorien gehören die drei Begriffspaare Synthese -
Relation, Kontinuität - Diskontinuität, Ähnlichkeit -
Unterschied.
Relation ist (wie ihr Korrelat Synthese) eine Grundform, die
sich in allen speziellen Gedankenformen, auch in den oben genannten
Begriffspaaren kundgibt. So besteht Relation zwischen Synthese und Relation.
Diese zwei Begriffe können nämlich, trotz der Korrelation, in
Gegensatz zueinander treten, so daß Zusammenfassen und Einheit auf Kosten
der Verhältnisbestimmtheit vorherrscht, oder umgekehrt, die Glieder der
Relation können sich so selbständig geltend machen, daß sie
nicht Glieder desselben Ganzen zu sein scheinen. Anderseits wird der Drang zur
Synthese stärker, je stärker die gegenseitige Spannung der Glieder
ist. Wenn Kant sagt, daß wir uns selten der Funktion, die der Synthese
zugrunde liegt, bewußt werden, dann ist es eben, weil die Relation den
Charakter von Gegensatz, Streit und Spannung annehmen muß, damit wir uns
der zusammenfassenden Arbeit oder doch des Dranges dazu, bewußt werden können.
Hier liegt eben die Bedeutung des Zweifels. Und die beständige Korrelation
zwischen Synthese und Relation zeigt sich darin, daß Zweifel und Probleme
nur so lange existieren, als verschiedene Gegenstände, trotz alles
Gegensatzes und Widerspruches, in ausdrück-[24/25]licher Relation
zueinander festgehalten werden. Ein Problem. fällt weg, wenn das eine der
streitenden Glieder wegfällt, oder wenn der Gegensatz zwischen den Gliedern
abgeschwächt wird.
Es kann sich eine Furcht vor der Mannigfaltigkeit und der Schärfe
der Relationen regen im Gegensatz zur zuversichtlichen Ruhe in einer unwillkürlichen
Synthese. Dadurch wird eine solche Reaktion hervorgerufen, wie sie Hamann,
Herder und Jacobi Kants kritischer Philosophie gegenüber, James und Bergson
der Wissenschaft unserer Zeit gegenüber repräsentieren. Und wenn
Tagore die Westeuropäer auffordert, indische Gedanken aufzunehmen, dann
liegt darin eine Aufforderung, von allen scharfen und spannenden Relationen, die
in der europäischen Zivilisation ausgeprägt worden sind, wegzugehen
und zu einem relationslosen Zustande zurückzukehren. Aber so groß und
tief das Einheitssuchen der Vedantalehre, deren moderner Prophet Tagore ist,
auch sei, es gibt für uns keinen Weg zurück. Entweder sind die
Relationen, die sich geltend machen, künstlich und unbegründet, und
dann wird die Kritik sie fällen, oder sie sind in Tatsachen gegründet,
und dann können sie nur durch geistige Arbeit beherrscht werden. Ein
Zweifel wird nur aufgehoben entweder durch Aufweisung seiner Unbegründetheit,
oder durch Problemlösung, oder dadurch, daß eine unlösbare
Grenzfrage dargetan wird. Wenn Descartes eben aus der Möglichkeit des
Zweifels die Existenz des Denkens schließt, dann liegt hierin eine
Erkenntnis des genauen Zusammenhanges der Kategorien der Synthese und der
Relation.
Das Verhältnis zwischen Kontinuität und Diskontinuität
ist dem zwischen Synthese und Relation analog oder ist eine speziellere Form
davon. Die Synthese geht um so leichter, je weniger Unterbrechungen es gibt.
Wenn möglich, werden solche Unterbrechungen selbst in die Anschauung (die
dann artikuliert wird) oder in das Urteil (dessen Glieder dann begrenzt oder
erweitert werden) einbezogen. Unter der Herrschaft der Kontinuität haben
Anschauen und Nachdenken den Charakter eines gleichmäßig
hingleitenden Stromes ohne Strudel und ohne Wasserfälle. Man fragt nicht.
Keine Stockung und keine [25/26] Verwunderung motiviert ein Fragen. Oder wenn
man fragt, lautet die Frage: Warum nicht? Warum nicht fortsetzen wie bisher,
wenn nur hinlängliche Energie zur Fortsetzung der Expansion zugegen ist? -
Aber sowohl im Leben als in der Wissenschaft werden sich mehr oder minder
scharfe Arbeitsteilungen geltend machen und dadurch auch Widerstände und
Gegensätze, an denen man nicht ohne weiteres vorbeigehen können wird.
Man muß dann Mittelglieder zwischen den vorläufig isolierten Gliedern
suchen, oder man muß eine Kontinuität suchen, die tiefer als die
vorliegende Diskontinuität liegt, und innerhalb welcher die vorliegenden
Sprünge oder Brüche als abgeleitet stehen können. Von rein
pschologischer [psychologischer] Seite ist dies schon oben erwähnt; es ist überhaupt
die Aufgabe der Psychologie zwischen den oft so scharfen Gegensätzen und
Katastrophen, die sich innerhalb des Seelenlebens der unmittelbaren Wahrnehmung
darstellen können, zu unterscheiden. Besonders ist hier James' Aufweisung
transitiver im Gegensatz zu substantivischen Zuständen von Interesse.
Psychologische Diskontinuität kann überhaupt nur ein Problem, nimmer
eine Lösung bezeichnen. Analogerweise bedeutet in der Biologie die
Mutationslehre, die plötzliches, von äußeren Verhältnissen
unabhängiges Entstehen neuer organischer Arten annimmt, ein Auftreten neuer
Probleme. Der Grundleger der Mutationslehre, Hugo von Vries, sprach gleich aus,
daß Mutationen ebenso viele Probleme bezeichneten. Die moderne
Quantenlehre in der Physik, infolge welcher Energie nicht kontinuierlich,
sondern sprungweise ausgelöst wird
1
), wird näher begründet durch mathematische Gesetze,
nach welchen die springende Auslösung als notwendig dasteht. Jedenfalls
sucht man theoretische Gesichtspunkte zum Verständnis der Diskontinuität.
Sobald die Sprünge in einer Reihe geordnet werden können, ist die
Arbeit, neue Konitnuität [Kontinuität] zu finden, schon begonnen.
Die hier liegenden Probleme wurden schon in der griechischen
1
)
Henri Poincaré: L'Hypothèse de Quanta.
(Dernières Pensées. Chap. 6.) [26/27]
Philosophie gestellt. Das Eine" des Parmenides
bedeutet auf einmal Kontinuität und Identität; diese waren für
ihn nicht verschieden. Dagegen wurde die Diskontinuität von Herakleitos und
Demokritos behauptet. Durch den Platonismus und seine Widersacher setzt sich der
Streit in der neueren Zeit fort. Kant betrachtete diesen Streit als eine
rationale Notwendigkeit. Seine Lehre von den Antinomien will hier eine absolute
Grenze der Vernunft aufzeigen. Der große Grundleger der kritischen
Philosophie sah nicht, daß Diskontinuität nur in der Form eines
Problems das letzte Wort des Gedankens werden kann, und seine Antithesen",
die ebendies aussagen, haben daher entschieden recht gegen die [,]Thesen",
die absolute Diskontinuitäten behaupten.
Kontinuität und Diskontinuität sind Korrelata, die
einander gegenseitig supplieren. Sie bezeichnen verschiedene Gesichtspunkte und
Funktionen, und die Geschichte der Wissenschaft zeigt, wie bald die eine, bald
die andere dieser Kategorien in erster Reihe stehen, aber so, daß ihr
Kampf immer wieder anfangen wird. Kein Forscher hat dieses Verhältnis
besser beleuchtet als Henri Poincaré, besonders in folgender Äußerung
1
): Dieser Kampf wird dauern, solange man Wissenschaft
treiben wird, solange die Menschheit denkt, denn sie entspringt aus zwei unversöhnlichen
Tendenzen des menschlichen Geistes, zwei Tendenzen, die er nicht verlieren kann,
ohne daß er zu existieren aufhört - nämlich dem Drange, zu
begreifen (und wir begreifen nur das Begrenzte), und dem Drange, anzuschauen
(und wir können nur Ausdehnung, die unbegrenzt ist, anschauen). Obgleich
dieser Kampf nicht mit dem schließlichen Siege eines der Kämpfenden
enden sollte, wäre er doch dafür nicht unfruchtbar, denn in jedem
neuen Kampfe ist der Kampfplatz ein anderer; jedesmal wird daher ein Schritt
vorwärts getan, und es wird eine Eroberung gemacht nicht für einen der
Kämpfenden, sondern
1
)
Les conceptions nouvelles de la matière.
(In dem Sammelwerke Le Matérialisme contemporain".
1913.) S. 67. - Vgl. auch die interessante Diskussion in Bulletin de
la société française de Philosophie. Vol. X. (1910.)
[27/28]
für die Menschheit." - Zu dieser schönen und
treffenden Äußerung muß ich doch die Bemerkung fügen, daß
das Verhältnis zwischen Anschauen und Denken auch einen anderen Charakter
als den von Poincaré angegebenen haben kann. Oft wird eben die Anschauung
begrenzte Bilder festhalten, während der Gedanke mittels Gesetzeserkenntnis
die Begrenzung jeder Anschauung und die Möglichkeit neuer Glieder in der
Reihe der Bilder einsieht. Außerdem gibt es, wie schon oben angedeutet,
mehrere Übergangsformen zwischen Anschauen und Denken, und in jedem
einzelnen Falle werden bestimmte, in der Erfahrung gegebene Gegenstände
entscheiden, ob Anschauen oder Denken das Wort führen soll.
Wo die Kontinuität festgehalten werden kann, wird es
dadurch möglich sein, daß keine großen Verschiedenheiten in
Zeit, Zahl, Intensität und Qualität zwischen den Gegenständen
(Erlebnissen) des Bewußtseins hervortreten. Wo Ähnlichkeit
vorherrscht, wird leicht und (jedenfalls anscheinend) kontinuierlich von dem
einen Gegenstande zum anderen übergegangen. Ähnlichkeit und
Verschiedenheit sind ein Begriffspaar, das dem Paare Kontinuität und
Diskontinuität analog ist. Während es aber von der Kontinuität
gesagt werden kann, daß sie nicht bemerkt wird, bevor sie vorbei ist, hat Ähnlichkeit
einen etwas mehr bewußten Charakter. Sie steht nicht in dem genauen Verhältnis
zum Anschauen wie die Kontinuität. - Je größer die Ähnlichkeit
ist, um so leichter wird die Kontinuität erhalten werden können. Erst
durch ausdrückliches, vielleicht willkürliches Vergleichen wird der
Unterschied zwischen den verschiedenen Graden oder Arten der Ähnlichkeit
entdeckt werden können. In meiner Psychologie und in Der menschliche
Gedanke" (S. 69 f.) habe ich fünf Arten der Ähnlichkeit
unterschieden: Identität, Deckungsähnlichkeit, zusammnegesetzte
[zusammengesetzte] Ähnlichkeit, Qualitätsähnlichkeit und Verhältnisähnlichkeit
(Analogie). In dieser Reihe tritt das Verschiedenheitselement immer mehr hervor,
und es ist wesentlich durch wachsende Verschiedenheit oder durch abnehmende Ähnlichkeit,
daß wir von Kontinuität zu Diskontinuität kommen. [28/29]
Die Relationen Ähnlichkeit und Verschiedenheit sind von so
wesentlicher Bedeutung, daß es berechtigt ist, Denken als Vergleichen zu
definieren. Daß die zwei Relationen alles Denken, alle Kategorien
beherrschen, sah schon Porphyrios, als er es für notwendig fand, eine
Einleitung zu der aristotelischen Schrift von den Kategorien
1
) zu schreiben, in welcher er die Begriffe Geschlecht,
Unterschied, Art, Individuum und Eigenschaft erklärte. Diese Einleitung
ward die Grundlage der vielen Diskussionen des Mittelalters über die
objektive Bedeutung der Gemeinbegriffe (des Streites zwischen Nominalismus und
Realismus). Die fünf Begriffe bilden eine fortschreitende Reihe in bezug
auf Verschiedenheiten, also vom Abstrakten oder Allgemeinen zum Konkreten oder
Speziellen. Für das Denken des Mittelalters, das überwiegend
klassifikatorisch oder syllogistisch war, war die Frage, welche von diesen
Begriffen im einzelnen Falle angewandt werden sollte, und mit welchem Recht sie
angewandt wurden. Die neuere Wissenschaft unternimmt hier eine große
Reduktion. Für sie ist nicht das Verhältnis zwischen höheren und
niederen Begriffen entscheidend, sondern es kommt darauf an, ob ein Begriff
einem anderen Begriffe in allen Rücksichten substituiert werden kann. Die
Identität stellt jetzt alle anderen Arten von Ähnlichkeit in den
Schatten. Und eben durch den grundlegenden Charakter des Identitätsprinzips
als des Nerven alles Schließens und durch die davon bedingte scharfe
Bestimmung des Identitätsbegriffs unterscheidet sich moderne Wissenschaft
von dem gemeinen Denken, das es mit dem Verhältnis zwischen Identität
und Ähnlichkeit nicht so genau nimmt. Parmenides hatte zwar gesehen, daß
der Nerv des Denkens hier liegt, aber erst Leibniz legte den Identitätsbegriff
zu grunde für die Logik, weil er Substitution möglich machte. Es ist
in diesem Zusammenhange gleichgültig, ob man Identität als möglichst
große Ähnlichkeit oder als möglichst kleine Verschiedenheit
definiert; beide Definitionen erinnern an das korrelate Verhältnis zwischen
1
)
Isagoge in categorias.
(Scholia in Aristotelem. ed. Brandis. S. 1.) [29/30]
Ähnlichkeit und Verschiedenheit. - Aber an dem
entscheidenden Wendepunkte, der durch die Herrschaft des Identitätsbegriffs
bezeichnet wird, gehen wir von den fundamentalen zu den formalen Kategorien über.
a
) Durch die Ausbildung der formalen Kategorien (Identität,
Analogie, Negation, Rationalität) wird es möglich, genau bestimmte
Relationen zu erreichen.
Der Identitätsbegriff wird gebildet als eine natürliche
Fortsetzung der schon im praktischen Denken hervortretenden Tendenz, Reihen von
Gegenständen zu bilden, die nach zunehmender Ähnlichkeit oder
abnehmender Verschiedenheit geordnet sind. Durch diesen Begriff werden
Gesichtspunkte ermöglicht, aus welchem nicht bloß eine Übersicht
über die Relationen gewonnen werden kann, sondern auch die eine Relation
vielleicht aus der anderen abgeleitet werden kann. Erst hier treten die
erkenntnistheoretische und die psychologische Betrachtungsweise entschieden in
Gegensatz zueinander. Psychologisch und historisch gibt es höchstens nur
Annäherungen zur Identität, und der reine Identitätsbegriff wird
vielleicht sogar abgewiesen, damit die von der Wahrnehmung dargebotenen
Verschiedenheiten und Veränderungen zu ihrem vollen Rechte kommen können.
Erkenntnistheoretisch wird die Sache von der entgegengesetzten Seite betrachtet:
Verschiedenheiten und Veränderungen stehen als Unterbrechungen der Identität,
die die erste Voraussetzung aller Wissenschaft und die Bedingung aller ernsten
Problemstellung ist.
Die grundlegende Bedeutung des Identitätsbegriffs für
wissenschaftliches Denken beruht darauf, daß seine Anwendung eine
Voraussetzung der zwei wichtigsten Gedankenfunktionen, Klassifikation und
Beweisführung, ist.
Eine Einteilung verschiedener Gegenstände kann nur dann von
entscheidender Bedeutung werden, wenn es einen Gesichtspunkt gibt, aus welchem
die Gegenstände trotz aller Verschiedenheit als identisch betrachtet werden
können. [30/31] In Geschlechts- und Artbegriffen sind solche Gesichtspunkte
gegeben. Die einzelnen Gegenstände, für welche solche Begriffe gelten,
können, vom Gesichtspunkte des betreffenden Begriffs, als ein und derselbe
Gegenstand betrachtet werden, was sich dadurch kundgibt, daß jeder von
ihnen als Beispiel des Begriffs gebraucht werden kann. Die Verschiedenheiten der
individuellen Gegenstände fallen nicht weg; sie können im Gegenteil
als sehr scharfe Gegensätze hervortreten, eben weil man sie unter demselben
Gesichtspunkte vereinigt. Nicht eine einzige der Eigenschaften, die infolge des
Begriffs als gemeinsam" betrachtet werden, wird vielleicht in den
einzelnen Beispielen in ganz derselben Weise vorkommen. Es besteht aber eine
Analogie zwischen den verschiedenen Gegenständen, indem das Verhältnis
zwischen den Eigenschaften das gleiche sein wird.
Aristoteles behauptete mit großem Nachdruck, sowohl, daß
die Wissenschaft nur mit dem Allgemeinen (dem Inhalte der Geschlechts- und
Artbegriffe ) zu tun habe, als auch, daß das wirklich Existierende immer
individuell sei. Vom Individuellen könnte man, seiner Auffassung nach,
keinen Begriff bilden. Er hat dadurch, ohne sich dessen bewußt zu sein,
ein großes Problem gestellt, das sich unter verschiedenen Formen durch die
ganze spätere Geschichte des wissenschaftlichen Denkens streckt. Indem wir
hier vorläufig die Frage nur vom Gesichtspunkte der Klassifikation
betrachten, bemerken wir, daß doch Begriffe gebildet werden können,
deren Inhalt solche Eigenschaften oder Verhältnisse ist, die, trotz aller
Verschiedenheiten in den einzelnen Zuständen eines individuellen
Gegenstandes, die Identität des Gegenstandes mit sich selbst ausdrücken
kann. Solche typischen Individualbegriffe werden besonders innerhalb der
Geisteswissenschaften möglich und notwendig sein. Zwischen den
verschiedenen Zuständen eines und desselben Gegenstandes gilt, wie zwischen
den verschiedenen Beispielen eines Allgemeinbegriffs, nur Analogie, keine
Identität.
Wo weder Analogie noch Identität nachgewiesen werden kann,
stehen wir einem Chaos gegenüber. Aber der Begriff des Chaos selber hat nur
Bedeutung durch den Gegensatz [31/32] zur Identität. Es besteht ein
Unterschied zwischen demjenigen Chaos, das für das gemeine Bewußtsein
steht, wenn es von den Verschiedenheiten überwältigt wird, und
demjenigen Chaos, das von einem Gedanken statuiert wird, der in ernster Arbeit
nach Analogien und Identitäten geforscht hat und nun zuletzt die Arbeit
niederlegen muß. Aber selbst in diesem letzten Falle kann es niemals mit
Sicherheit behauptet werden, daß wir einer chaotischen
Verschiedenheitsreihe gegenüberstehen. Streng genommen können wir nur
sagen, daß es bisher nicht geglückt ist, Einheitspunkte für die
Gegenstände, die solche Reihen bilden, zu finden. Wie Identität durch
die möglichst große Ähnlichkeit oder die möglichst kleine
Verschiedenheit definiert werden kann, so kann Chaos durch die möglichst
große Verschiedenheit oder die möglichst kleine Ähnlichkeit
definiert werden. Die Ähnlichkeit kann so klein sein, daß sie bisher
nicht bemerkt worden ist, wie wir bei den Gegenständen, die wir als
identisch betrachten, sagen können, daß die Verschiedenheiten so
klein sind, daß sie nicht bemerkt werden.
Der Begriff der Negation taucht hier auf als Ausdruck einer
Unterbrechung der Gedankenarbeit - hier der einteilenden Gedankenarbeit - wegen
fehlender Ähnlichkeitspunkte. Die Geschichte der Klassifikation zeigt uns,
daß man in solchen Fällen oft negative Begriffe (oder Begriffe, die
nur negative Merkmale enthalten) bildet. Lamarck teilte die Tiere in Wirbeltiere
und wirbellose Tiere ein; später aber fand Cuvier positive Merkmale und
Grundlagen für eine positive Einteilung der Wirbellosen.
Die chaotische Verschiedenheitsreihe und die absolute Identitätsreihen
bezeichnen zwei ideale Grenzlinien für unsere Erkenntnis, Grenzlinien, die
in wirklicher Erkenntnis niemals nachgewiesen werden können. Die eine
bezeichnet die Unmöglichkeit der Erkenntnis
1
), die andere ihren Abschluß.
1
)
Stuart Mill
versuchte alles Schließen auf einen assoziativen Übergang
von einer Einzelheit zu einer davon verschiedenen Einzelheit zurückzuführen.
Ein solcher Übergang ist aber schon rein psychologisch nur möglich,
wenn die erste Einzel-[32/33]
Zwischen beiden liegt eine Stufenreihe von Gedankenreihen
(einige der wichtigsten sind in Der menschliche Gedanke" S. 162-174
dargestellt), die verschiedene Stufen, auf welchen die Erkenntnis sich seinem
Ideal zu nähern sucht, aufweist.
Solange die Erkenntnis nur nach einer Klassifikation strebt, läßt
sie die Verschiedenheiten bestehen und sucht nur eine geordnete Übersicht
zu erreichen. In der Beweisführung dagegen hat der Identitätsbegriff
aktive oder produktive Bedeutung als ein Mittel, neue Wahrheiten aufzuzeigen,
vielleicht neue Gegenstände ohne Hilfe der Wahrnehmung zu finden. Hier
tritt die Kategorie der Rationalität, die der Relation von Grund und Folge
zugrunde liegt, hervor. Ihre Voraussetzung ist eine Identität von zwei
Gegenständen, die uns dazu berechtigt, den einen statt des anderen zu
setzen. Die zwei Prämissen, aus welchen der Schlußsatz hervorgeht, müssen
einen Begriff enthalten, der in beiden identisch ist. Schon die Klassifikation
macht Schließen möglich, sobald Art- und Geschlechtsbegriffe (oder
typische Individualbegriffe) gebildet sind. Aber die Wissenschaft sucht einen
Schritt weiter zu gehen. Sie bildet nicht nur Reihen von erkannten Gliedern, die
nur durch neue Wahrnehmungen fortgesetzt werden können, sondern auch
Reihen, die nach demselben Gesetze, nach welchem sie angefangen sind,
fortgesetzt werden können. Hier tritt der Unterschied zwischen Logik und
Mathematik hervor. Der Mathematiker stellt nicht nur das Identitätsprinzip
als für die Einer, mit welchen er arbeitet, gültig auf, also 1 = 1;
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 32]heit wiedererkannt wird;
nur dann kann verstanden werden, wie sie die andere Einzelheit, mit der sie
vorher zusammen vorgekommen war, hervorruft. Es ist doch eigentlich. die
Analogie, die einen Schluß von Einzelheit zu Einzelheit" möglich
macht: wie sich A in einer früheren Wahrnehmung zu B verhielt, verhält
sich jetzt A
1
zu B
1
. Auch nach dieser Auffassung muß doch Ähnlichkeit
zwischen A und A
1
bestehen. In meiner Kritik von Stuart Mill habe ich dies schon
hervorgehoben. Vgl. meine Geschichte der neueren Philosophie (in der zweiten
Ausgabe II, S. 417 f.). Neulich ist dieser Punkt von Ettore Galli
(Nel regno di cognoscere
1919, S. 159-167) sehr klar entwickelt worden. [33/34]
er behauptet auch, daß er aus diesen Einern eine Reihe
bilden kann dadurch, daß Einer immer in derselben Weise zu Einer gefügt
wird: also 1 + 1 + 1 . . . Eine Voraussetzung
wie diese letzte kennt die reine Logik nicht. Für sie hat Wiederholung
keine gedankenmäßige Bedeutung, so große psychologische und pädagogische
Bedeutung sie auch haben kann. Die Logik hält sich an das Identitätsprinzip
(und die damit mehr oder minder direkt zusammenhängenden Prinzipien). Die
mathematische Grundvoraussetzung ist dagegen (außer dem Identitätsprinzip)
die positive und produktive Bedeutung der Wiederholung. Diese Voraussetzung hat
Henri Poincaré loi de recurrence genannt; er sieht in ihr das Prinzip
dessen, was Kant ein apriorisch-synthetisches Urteil genannt hat
1
).
Während die Klassifikation die qualitativen
Verschiedenheiten bestehen ließ, indem sie nur geordnet wurden, sucht die
moderne Naturwissenschaft die Qualitätsverschiedenheiten so zu bearbeiten
oder zu reinigen, daß rein formale Reihen wie die oben erwähnten
gebildet werden können, solche also, in denen neue Glieder immer nach
demselben Gesetz, das schon den vorhergehenden Gliedern ihren Platz gegeben hat,
konstruiert werden können. Es gibt vier Arten von Qualitätsverschiedenheiten,
die besonders zu solcher Reinigung geeignet waren: Zeit, Zahl, Grad und Ort. Für
die unmittelbare Wahrnehmung treten sie nicht als rein", sondern als
Qualitäten auf. Der Unterschied zwischen Zeiten, zwischen Orten, zwischen
Zahlen und zwischen Graden ist ursprünglich ebenso qualitativ wie der
zwischen Gelb und Blau, Härte und Weichheit. Die Geschichte der
Wissenschaft zeigt, welche Gedankenarbeit nötig war, damit die genannten
vier Qualitätsreihen zu Reihen ausgebildet werden konnten, in welchen jedes
Glied durch seinen Platz in der Reihe vollständig bestimmt ist, einen
Platz, der durch das Verhältnis zu den anderen Gliedern bestimmt ist. Es
ist nun gleichgültig, was die Augenblicke erfüllt oder an den
verschiedenen Orten geschieht, was gezählt oder graduell bestimmt wird.
Jedes einzelne Glied der Reihe
1
) Vgl.
Der Totalitätsbegriff.
S. 54-58. [34/35]
wird betrachtet, als hätte es ganz den gleichen Inhalt wie
die anderen Glieder; nur der Platz macht einen Unterschied. In kurzen Zügen
habe ich diesen Reinigungsprozeß in Der menschliche Gedanke"
(S. 203 -220) geschildert, und ich gehe hier nicht näher darauf ein.
Ich füge nur hinzu, daß die vier Reinigungsprozesse nicht unabhängig
von einander verlaufen, sondern einander gegenseitig stützen. Dies wird
dadurch möglich, daß die Kategorien periodisch entstehen; dadurch
kann eine gewisse Entwicklung der einen Kategorie für die Entwicklung der
anderen Bedeutung haben. Der Zeitbegriff hat sich so mit Hilfe des Zahlbegriffs
und des Raumbegriffs entwickelt. Überhaupt hat besonders der Zahlbegriff
den drei anderen Kategorien zu voller Entwicklung geholfen. Der Prozeß,
durch welchen Einer zu Einer gefügt wird, ist einfacher und leichter als
der, durch welchen Augenblick zu Augenblick, Grad zu Grad und Ort zu Ort gefügt
wird. Schon Kant sah, daß wir im Zählen das einfachste Beispiel der Synthesis
des Gleichartigen" haben. Comte hat dies noch stärker hervorgehoben,
und Gauß hat behauptet, daß die Zahl in höherem Grade als der
Raum ein Produkt unseres eigenen Geistes ist
1
).
Während solche typische Individualbegriffe, die konkrete
Gegenstände angeben, nur durch beständigen Hinblick auf Wahrnehmung
und durch Anlehnen an diese entwickelt werden können, gibt der erwähnte
Reinigungsprozeß Möglichkeit für Bildung von Gedankenreihen, die
nach demselben Prinzip, nach welchem sie angefangen sind, fortgesetzt werden können,
und aus welchen Forderungen an die von der Wahrnehmung dargebotenen Gegenstände
gestellt werden können.
1
) In den von Erdmann herausgegebenen
Reflexionen"
sagt Kant, daß eigentlich nur Zahl und Größe
aus reiner Vernunft konstruiert werden können, weil bei ihnen nur
Wiederholung erforderlich ist. (Vgl.
Der Totalitätsbegriff,
S. 56 Anm.) - Comte fand in den reinen Zahlspekulationen la
véritable origine de tout le système scientifique".
(Discours sur l'esprit positif.
1844. S. 100.) - Gauß erklärte in einem Briefe
die Zahl als ein Produkt unseres Geistes, während der Raum auch eine Realität
außer diesem hätte. (Siehe die Zitate bei E. Mach:
Erkenntnis und Irrtum.
S. 384.) [35/36]
b
) Bei der Bildung der erwähnten reinen Qualitätsreihen
liegt überall der Identitätsbegriff zugrunde, indem sie dadurch
charakterisiert sind, daß die Begriffe Zeit, Zahl, Grad und Ort von jedem
Inhalte, der die Zeit ausfüllt, die Zahl ausmacht, den Grad hat und den Ort
annimmt, freigemacht sind; mit dem Inhalt fallen auch die realen
Verschiedenheiten innerhalb derselben Reihe weg. Wenn sie noch Qualitätsreihen
genannt werden, ist es, weil die gegenseitigen Unterschiede zwischen Zeit, Zahl,
Grad und Ort fortwährend bestehen. Es gibt, wie später näher
besprochen werden wird, eine Tendenz dazu, die Zahl als zuletzt herrschend und
alle Erkenntnis als ein System von Gleichungen aufzufassen. Doch kämpfen
hier, wie Meyerson gezeigt hat
1
), Algebra und Geometrie um den Vorrang. Die Frage selbst gehört
unter die realen Kategorien.
So hohen Grad der Exaktheit nun auch von der mit den erwähnten
Reihen arbeitenden Erkenntnis erreicht werden kann, meldet sich der
Relationsbegriff doch wieder in diesen reinen Regionen. Auf drei Punkten tritt
dies hervor.
Identität ist selbst eine Relation: das Verhältnis
eines Gedankens oder eines Gegenstandes zu sich selbst unter verschiedenen Umständen.
Diese Verhältnisbestimmtheit kann bei keiner Definition der Identität
wegfallen. Ob man nun von der möglichst großen Ähnlichkeit oder
von der möglichst kleinen Verschiedenheit spricht, die Relation wird nicht
ausgeschlossen. Und besonders deutlich wird dies, wenn man die experimentale
Definition Leibniz' anwendet: identisch sind die Gedanken oder Gegenstände,
die überall einander ohne Aufhebung der Gültigkeit (salva veritate)
substituirt werden können
2
). Wenn die Möglichkeit der Substitution
1
) De l'Explication dans les Sciences. I. S. 264; II. S. 167;
204-220.
[1]2
) Wie in
Der Totalitätsbegriff"
(S. 65) erwähnt, haben sich unter dänischen
Mathematikern verschiedene Auffassungen der Frage geltend gemacht, ob ihrer
Wissenschaft Grundsätze, die absolute Identität ausdrücken,
notwendig sind, oder ob Annäherungen zu einer solchen hinlänglich
sind. Dieser Gegensatz erinnert an die zwei verschiedenen Definitionen der
Identität [36/37]
entscheidend ist, macht man ja von der Relation zwischen den
betreffenden Gedanken oder Gegenständen Gebrauch; die Gültigkeit hört
auf, wenn solche Relation durch die Substitution geändert wird. Sogar bei
der Identität 1 = 1 muß die Frage entstehen, ob wir
wirklich Einer haben, die einander substituiert werden können. In der
Diskussion über Fechners Versuch, dem Weberschen Gesetze eine streng
mathematische Formulierung zu geben, wurde diese Frage erhoben.
Zweitens setzt die Aufstellung und die Anwendung des Identitätsbegriffs
immer einen bestimmten Gesichtspunkt voraus, aus welchem er gilt. Bei der
Klassifikation ist es deutlich, daß die Identität nur für
gewisse Kennzeichen, die immer wiederkommen, gilt, während in den einzelnen
Fällen wenigstens Analogie vorliegt. Aber auch die Identität, die der
Nerv jeder Beweisführung ist, gilt nur von einem gewissen Gesichtspunkte
aus. Die Identität ist stets durch Reinigung erreicht, das heißt
dadurch, daß von Gesichtspunkten, welche die betreffende Sache nicht
angehen, weggesehen wird. Wenn die verschiedenen Naturkräfte als Energien
bestimmt, das heißt durch das Vermögen, eine Arbeit auszuführen,
gemessen werden, dann ist damit ein einheitlicher Gesichtspunkt erreicht,
ebenso, wie wenn man sonst höchst verschiedene Dinge allein unter dem
Gesichtspunkte
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 36] als möglichst großer
Ähnlichkeit und als möglichst kleiner Verschiedenheit. In der letzten
Arbeit, die von der Hand Zeuthens vorliegt
(Hoorleden Mathematiken i Tiden fra Platon il Euklid blev
rational Videnskab.
[Wie die Mathematik in der Zeit von Platon zu Euklid rationale
Wissenschaft ward.] Schriften der dän. Gesellsch. der Wissenschaften, 1917,
S. 80), sagt er, daß die Anwendbarkeit des geometrischen Systems
Euklids darauf beruht,
daß
die empirischen Linien die in den Postulaten angegebenen
Eigenschaften haben, was Euklid voraussetzt, oder, wenn man will,
inwiefern
sie sie haben. Durch dieses inwiefern" wird sicher
auf die von Hjelmslev geltend gemachte Auffassung hingedeutet, nach welcher
ideale Definitionen wie die euklidische nicht notwendig sind, man aber von
solchen Linien und Figuren, die gezeichnet werden können, ausgehen kann.
[37/38]
der Schwere betrachtet. Bis zur Entdeckung der Spektralanalyse
betrachtete man, auf Grundlagen der Newtonschen Physik, die Himmelskörper
wesentlich unter dem Gesichtspunkte der Schwere. Durch Anlegung eines rein
quantitativen Gesichtspunktes, die nur möglich wird, wenn man sich an
gewisse bestimmte Eigenschaften hält, können sonst sehr verschiedene
Gegenstände als identisch betrachtet werden. Wie in den beschreibenden
Wissenschaften Qualität durch Hilfe der Geschlechts- und Artbegriffe zu
Identität reduziert werden kann, so kann in den exakten Wissenschaften
Qualität mit Hilfe von Quantitätsbestimmungen zu Identität
reduziert werden
1
). Platon hat in beiden Richtungen tiefsinnige Andeutungen
gegeben; was den letztgenannten Punkt betrifft, setzt Galilei in genialer Weise
seinen Gedanken fort.
In dem griechischen Denken wurde öfter eine Art Kultus mit dem
Einen", dem Inbegriffe der reinen Identitäten, getrieben. Dies zeigt
sich bei Parmenides und Platon und erreicht seinen Höhepunkt im
Neuplatonismus. Für das Denken der neueren Zeit ist Identität kein
Gegenstand der Kontemplation, sondern ist ein großes Gedankenmittel, wie
es in Leibniz' experimentaler Definition deutlich hervortritt. Und nicht minder
wesentlich ist es, daß wir jetzt einen weiteren Schritt machen, indem wir
fragen, von welchem Gesichtspunkte aus die Identitäten gelten. Wir
verlieren dadurch nicht die Ideenwelt. Im Gegenteil, die Gesichtspunkte, von
welchen aus Identitäten möglich sind, machen für uns die wahre
Ideenwelt aus, und die Erkenntnistheorie gibt durch diese Betrachtung einen
wichtigen Beitrag zur Erörterung des Daseinsproblems. Die Tatsache, daß
es Gesichtspunkte gibt, durch welche die strengste für Menschen erreichbare
Erkenntnis möglich wird, muß von großer Bedeutung für eine
letzte, abrundende Weltanschauung sein. -
Drittens bewirkt eben die Bildung von qualitativen Identitätsreihen,
daß die Relationen schärfer als vor der Reinigung hervortreten. In
den erwähnten Reihen ist jedes
1
)
Der menschliche Gedanke.
S. 193-197. [38/39]
Glied ausschließlich durch seinen Platz im Verhältnis
zu den anderen Gliedern bestimmt. Ein Augenblick hat, von seinem Inhalt ganz
abgesehen, einen individuellen Charakter dadurch, daß er gewissen
Augenblicken nachfolgt und gewissen anderen Augenblicken vorausgeht. Die
Augenblicke dienen einander zu gegenseitiger Ausmessung ihrer Individualitäten.
Das gleiche gilt von der Zahl: jede Zahl in der Zahlenreihe ist eine
Individualität, eben durch ihr bestimmtes Verhältnis zu anderen
Zahlen. Malebranche hat bemerkt, daß die ganzen Zahlen Relationen sind wie
die Brüche, obgleich man es leicht übersieht, weil eine ganze Zahl
durch ein einziges Zeichen ausgedrückt werden kann. Wie später Gauß
gesagt hat: Jede reelle ganze Zahl repräsentiert die Relation eines
beliebig als Anfang gewählten Gliedes zu einem bestimmten Gliede der Reihe"
1
). Der Kultus gewisser Zahlen, die in den Volksreligionen so häufig
sind, wurden nur dadurch möglich, daß man solche Zahlen aus der
Reihe, innerhalb welcher sie allein ihre Individualität haben, herausnahm. -
Was für Augenblicke und Zahlen gilt, gilt analog auch für Grade und
Orte. Dies bedarf hier keines näheren Nachweises. Was den Ort (den Raum)
betrifft, wird uns ein speziellerer Zusammenhang Gelegenheit geben, die Frage
wieder aufzunehmen. Interessant ist doch eben im gegenwärtigen
Zusammenhange die Bemerkung von Poincaré, daß die Relativität
und die Gleichartigkeit des Raumes ein und dieselbe Sache sei
2
). -
g
) Zu den formalen Kategorien haben wir außer Identität
und Analogie auch Negation und Rationalität gerechnet.
1
) Malebranche
- Recherche de la Vérité.
VI, 1, 5. Gauß, zitiert bei Cassirer:
Substanz und Funktion.
S. 72. - Dies wird doch ausdrücklich von Bertrand
Russell (Introduction to Mathematical Philosophy.
S. 64) verneint. Für ihn ist die Zahl an sich keine
Relation; anders verhält es sich mit + m und - m. Eine Zahl ist für
Russell's platonisierende Auffassung ein an und für sich Existierendes, von
den Relationen, in welchen sie gesehen werden, ganz abgesehen. Russell
unterscheidet auch bestimmt zwischen m und m/1, das eine Relation sei.
2
)
Science et Méthode.
S. 113. [39/40]
Auch hier ist kein ausführlicher Nachweis der beständigen
Geltung des Relationsbegriffes notwendig.
Jedes Nein setzt ein (wirkliches oder mögliches) Ja voraus.
Eine Negation ist rein logisch das Zeichen eines Weges, der nicht befahren
werden kann, und setzt also Versuche, einen solchen Weg zu gehen, voraus. Oder
sie setzt einen Vergleich zwischen zwei Anschauungen voraus, von welchen die
eine Elemente enthält, die in der anderen fehlen. Mathematisch kann
Negation eine Aufforderung sein zur Reihenbildung in einer anderen Richtung als
der früheren.
Rationalität bedeutet in sich selbst die Relation zwischen
Prämissen und Konklusion. Und überall, wo Begründung gefordert
wird, wird nach den Voraussetzungen unseres Urteils gefragt. Eine unbedingte
Notwendigkeit gibt es nicht. Notwendigkeit drückt eben nur das Verhältnis
von Grund und Folge aus, ein Verhältnis, das immer wieder in Frage kommen
muß, solange man noch denkt, es sei nun im einzelnen Falle möglich,
dieses Verhältnis zu finden oder nicht.
Wie wir bei der Klassifikation zu dem Analogiebegriffe kamen,
wenn Artbegriffe nicht mehr gebildet und nur Analogien zwischen individuellen
Gegenständen möglicherweise gefunden werden konnten, so kommen wir,
was Beweisführung betrifft, zu den sogenannten Analogieschlüssen, die
Aristoteles treffend Schlüsse aus einzelnen Beispielen genannt hat. Durch
die Verhältnisse innerhalb eines Gegenstandes werden wir veranlaßt,
entsprechende Verhältnisse innerhalb eines anderen Gegenstandes zu
vermuten. Je mehr Beispiele wir hier finden können, um so mehr nähert
die Analogie sich der Induktion. Sie hat übrigens (gleich wie die
Induktion) nur Bedeutung als Entdeckungsmethode, das heißt als
Veranlassung, Sätze, die näher geprüft werden können,
aufzustellen; Beweis kann sie niemals werden. Man hat sie daher treffend einen
guten Diener, aber einen schlechten Herrn genannt. Daß aber auch die
Analogie immer auf bestimmten Voraussetzungen beruht, bedarf keines näheren
Nachweises. [40/41]
a
) Die Frage entsteht natürlich, ob es möglich ist,
solche Reihen, deren Möglichkeit die formalen Kategorien uns gezeigt haben,
auf Gegenstände, die uns ganz abgesehen von unseren Konstruktionen gegeben
sind, anzuwenden; anders ausgedrückt: ob wir von solchen Gegenständen
Reihen bilden können, die in dem einen oder dem anderen Grade jenen
formalen Reihen entsprechen und dadurch der Notwendigkeit, die diese
auszeichnet, teilhaft werden können, - also ob eine Rationalisierung
gegebener Gegenstände möglich ist. Die Relation zwischen Grund und
Folge ist nun einmal das Vorbild aller Notwendigkeit.
Diese Frage veranlaßt eine Erörterung der realen
Kategorien (Kausalität, Totalität, Entwicklung), die ich in Der
menschliche Gedanke" (S. 226-260) angestellt habe. Hier beschränke
ich mich darauf, die Bedeutung des Relationsbegriffes auf dem Gebiete dieser
Kategorien zu beleuchten.
Historisch haben die realen Kategorien nicht auf die formalen
gewartet; eher sind sie es, die die Entwicklung der formalen veranlaßt
haben. Es zeigt sich hier deutlich, daß die Wissenschaft sich aus dem
praktischen Leben und dem gesunden Menschenverstande entwickelt hat. Die realen
Kategorien, besonders der Kausalitätsbegriff, haben ihren faktischen
Ursprung in dem Bedürfnis nach Orientierung im Dasein, die sowohl für
Tiere als für Menschen eine Lebensbedingung ist. Hier zeigt sich deutlich,
wie das Denken sich aus dem Zweifel entwickelt. Wenn Enttäuschung,
Widerstand oder Widerspruch der unwillkürlichen Zuversicht zu allen
auftauchenden Empfindungen und Vorstellungen ein Ende machen, gibt es keinen
anderen Ausweg als den, neue Empfindungen und Vorstellungen zu suchen, die einen
festeren Zusammenhang als den zerbrochenen darbieten und dadurch zuversichtliche
Weiterführung des Lebens möglich machen können. Dies heißt
aber, daß der Kreis der Relationen erweitert wird, bis die verschiedenen
Gegenstände in festen, unumgänglichen [41/42] Verhältnissen
zueinander erscheinen. Kausalität oder gesetzmäßiger
Zusammenhang liegt aller Überzeugung von Realität zugrunde, wenn eine
solche Überzeugung nach der Zerstörung der unwillkürlichen
Zuversicht zum unmittelbar gegebenen Zusammenhang möglich sein soll. Dieses
Wirklichkeitskriterium wird in der Wissenschaft durch nähere Prüfung
und Bestimmung der den Zusammenhang der Gegenstände bedingenden Relationen
vertieft und präzisiert. Über alle Relationen hinaus kommt der Gedanke
nicht. Die Wirklichkeit von irgend etwas, das in gar keiner Relation stehen
sollte, kann nicht begründet oder bewiesen werden. Wirklichkeit und
Relation gehören nun einmal zusammen. Jede Konstatierung der Wirklichkeit
eines Dinges besteht in dem Nachweis einer festen Relation zwischen diesem Dinge
und dem Kreise von Dingen, die bisher durch gegenseitigem festen Zusammenhang
als wirklich dastehen; das eine Zirkelbein des Gedankens steht in diesem Kreise,
und durch das andere Zirkelbein wird die Relation zwischen dem Kreise und dem
Dinge, dessen Wirklichkeit in Frage ist, ausgemessen. Erhebt sich ein Zweifel
wegen der bisher anerkannten Wirklichkeit, muß auch das erste Zirkelbein
anderswohin gestellt werden, und so fort. Beide Zirkelbeine müssen bei
jeder Erkenntnis eines Wirklichen gebraucht werden. Wird man genötigt, auf
dem einen zu stehen, ohne einen sicheren Platz für den anderen finden zu können,
ist man in einem Zustande von Zweifel, Erwartung oder Sehnsucht
1
).
1
) Thomas Aquinas versuchte den theologischen Gottesbegriff von
aller Relation dadurch zu befreien, daß er behauptete, die Welt stehe zwar
in Relation zu Gott, Gott aber nicht zur Welt. (Vgl. hierüber meine
Religionsphilosophie
§ 22.) Thomas schloß sich hier der Mystik,
besonders Hugo a St. Victore an, und die ist wieder vom Neuplatonismus beeinflußt.
Von diesem Gedankengange aus hat ein moderner katholischer Theologe Spinoza
kritisiert, weil er die Behauptung nicht gewagt hat, daß der Abhängigkeit
der Welt von Gott keine Abhängigkeit Gottes von der Welt entspreche.
(Dunin-Borkowski:
Der junge Spinoza.
S. 357.) Eine Relation setzt nun aber immer zwei Glieder
voraus, und wie man sich auch [42/43]
Wegen der genauen Verbindung, die zwischen Kausalität und
Wirklichkeitskriterium besteht, und die sich darin zeigt, daß wir nur dann
eine begründete Überzeugung von Wirklichhaben können, wenn wir
Gegenstände als Ursache und Wirkung verbinden können, war es ein
revolutionärer Schritt von Hume, die Berechtigung der Anwendung des
Kausalitätsbegriffes zu bezweifeln. Es war ein Angriff sowohl auf die
wissenschaftliche Erkenntnis des Daseins als auf das praktische
Wirklichkeitskriterium. Seine Kritik beruht aber auf der Voraussetzung, daß
Ursache und Wirkung zwei ganz verschiedene Dinge wären - Glieder einer
chaotischen Verschiedenheitsreihe. In einer solchen Reihe fehlt der feste
Zusammenhang, indem man ihre Glieder in jede mögliche Ordnung stellen kann.
Nun ist es doch eine Tatsache, daß bisweilen Reihen gegenüberstehen,
deren Glieder nicht vertauscht werden können, und in dieser Tatsache sah
Kant einen Ausgangspunkt sowohl für die Kausalitätstheorie als für
den Wirklichkeitsbegriff. Und die Geschichte der Wissenschaft zeigt, wie das äußerliche
Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung auf vielen Gebieten mehr und mehr
von einem Kontinuitätsverhältnisse zwischen den Dingen, die im
Kausalitätsverhältnis zueinander stehen, und dieses wieder von einem
Rationalitätsverhältnisse (indem spätere Glieder in der Reihe der
Begebenheiten aus dem Gesetze der Reihenfolge der früheren abgeleitet
werden können) abgelöst wird.
Selbst wenn die Reihen, die in dieser Weise gebildet werden, im
höchsten Grade kontinuierlich und rational werden, bleibt der
Wirklichkeitsbegriff doch immer ein Ideal, das nimmer vollständig mit
Wahrnehmung belegt werden kann. Es werden immer neue Mittelglieder gefunden
werden können, und neue Gegenstände können auftauchen, deren
kontinuierliche und rationale Verhältnisse zu den früheren
nachgewiesen werden müssen. Wirklichkeit bedeutet immer eine Relation
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 42] zum Gottesbegriffe
Spinozas stellt, muß man die Konsequenz anerkennen, mit welcher er auf
diesem Punkt den Relationsbegriff festhält. [43/44]
zu den bisher gebildeten kontinuierlichen und rationalen Reihen.
Und die Möglichkeit kann nie ausgeschlossen werden, daß diese Reihen
mit ganz anderen Reihen ersetzt werden müssen, oder daß (um das oben
gebrauchte Bild anzuwenden) beide Zirkelbeine neue Stellungen einnehmen müssen.
Herbert Bradley hat mit Recht den Erfahrungsbegriff bei der für
uns unabschließbaren Charakteristik des Daseins benutzt. Erfahrung ist für
Bradley der Maßstab der Realität; weil aber Erfahrung immer durch
Nachweis von Relationen gewonnen wird und neue Relationen sich immer geltend
machen können, sei eine vollständige Erfüllung der Forderungen
dieses Maßstabes unmöglich. Bradley ist auf einmal davon überzeugt,
daß wir immer in Relationen denken, und daß eine vollständige Lösung
des Wirklichkeitsproblems von dem Relationsbegriffe (the relational point of
view) unmöglich ist
1
).
Die Lösung kann, darin behält Bradley recht, nimmer
vollständig erreicht werden. Die Erkenntnisarbeit geht aber immer darauf
aus, neue Relationen zu finden und einen Zusammenhang zwischen ihnen und den früher
gefundenen Relationen nachzuweisen, vielleicht so, daß diese durch jene
berichtigt werden. Ohne hier auf Fragen, die unter das Daseinsproblem gehören,
zu kommen, muß behauptet werden, daß die Erkenntnisarbeit selbst
eine Wirklichkeit ist, ein Glied der großen Wirklichkeit, die vielleicht
mehr umfaßt, als was irgendeine Gedankenarbeit umspannen können wird.
Und wenn der Teil der Wirklichkeit, die in Erkenntnisarbeit besteht, nimmer
abgeschlossen werden können wird, kann man vielleicht daraus schließen,
daß das Dasein selbst nicht fertig ist oder fertig werden kann. Eine
solche Vermutung
2
) setzt freilich voraus, daß die Zeitform für das
Dasein, nicht nur für
1
)
Appearance and Reality.
S. 171: When thought begins to be more than relational, it
ceases to be mere thinking. S. auch S. 445; 519.
2
) Vgl. schon meine
Philosophische Probleme
(Deutsche Übers. 1903) und
A philosophical confession
(Journal of Philosophy, Psychology and Scientific Method 1904).
[44/45]
unser Denken gilt. Bradley aber verneint entschieden, daß
Denken ein Teil der Realität ist: The process which moves within Reality,
is not Reality itself. Philosophy is itself but appearance
1
).
Das tiefsinnige Hauptwerk Bradleys ist Kosmologie (Metaphysik"),
nicht eigentlich Erkenntnistheorie. Er stellt Realität in Gegensatz zu
Wahrheit: wenn die Wahrheit vollkommen wäre, hörte sie auf, Wahrheit
zu sein, denn dann träte die Realität in ihrer Reinheit auf. Aus
diesem Standpunkte folgt, daß, obgleich Bradley auf den Relationsbegriff
so großes Gewicht legt, daß er Denken als Suchen nach Relationen
definiert, faßt er doch dieses Suchen als eine Unvollkommenheit auf, weil
Abschluß und Totalität dadurch ausgeschlossen werden. Und hiermit hängt
es ferner zusammen, daß er die Bedeutung der Relationen, mit welchen die
speziellen Wissenschaften, jede auf ihrem Gebiete, arbeiten, verkennt. Er hat
den Relationsbegriff als Grundlage und Maßstab alles Wahrheitsuchens klar
gesehen; aber sein eigenes System ist eigentlich ein kristallisiertes
Wahrheitsideal, ein Versuch, die Erfahrung als vollständig (experience
entire, containing all elements in harmony S. 172) zu denken - ein Versuch,
der unmöglich durchgeführt werden kann, wenn wir, wie Bradley, das
Denken als relational auffassen
2
). -
Der Nachweis kontinuierlicher Reihen von Gegenständen mit
unvertauschbaren Gliedern ist noch nicht das höchste Ideal der
Wissenschaft. Zwar wird dadurch das äußerliche Verhältnis
zwischen Ursache und Wirkung vorläufig aufgehoben, aber es verschwindet
nicht ganz. Einen Schritt weiter führt der Nachweis gegenseitiger Äquivalenz
zwischen verschiedenen Gegenständen (Erlebnissen). Dann kann der erste
Gegenstand aus dem zweiten und dieser aus jenem abgeleitet werden.
1
)
Appearance and Reality.
S. 448; 554.
2
) In derselben Richtung wie die hier gegebene Kritik von Bradley
gehen die kritischen Bemerkungen von Haldane
(The Reign of Relativity.
1921. S. 203-211), der sonst Bradley nahe steht. -
Haldane's Buch kam erst in meine Hände, nachdem meine Abhandlung
abgeschlossen war. [45/46]
Dies tritt deutlich hervor, wenn das Äquivalenzverhältnis
als eine Gleichung formuliert wird. Es ist dann (in der Theorie) gleichgültig,
von welcher Seite des Gleichheitszeichens man beginnt, und weder der qualitative
Unterschied noch der Zeitunterschied zwischen den beiden Gegenständen hat
dann Bedeutung; ein absolutes Identitätsverhältnis ist erreicht. Die
Qualitäten (zu denen auch die Zeit, die Sukzession gerechnet werden kann)
stehen dann als bloße Anthropomorphismen", als subjektive
Gegenstände (Erlebnisse), die von der strengen Wissenschaft nicht beachtet
werden. Man geht hier einen Schritt weiter als die mechanische Naturauffassung,
die zwar von den eigentlichen Qualitäten wegsah, aber die Zeit noch als
objektive Form anerkannte, indem Bewegung das einzige Existierende war; freilich
wurde dieses Existierende durch die subjektive Auffassung verfälscht"
1
). Man geht einen bedeutenden Schritt weiter, wenn man annimmt,
daß die Zeit umgekehrt werden kann, so daß die Ordnung der
Begebenheiten zuletzt gleichgültig wird.
Im Gegensatz zu einer solchen Auffassung, die oft von
mathematischer und naturwissenschaftlicher Seite behauptet wird, und die in
philosophischer Form von der Marburger Schule durchgeführt ist, muß
erklärt werden, daß die Welt reiner Gleichungen, in welcher strenge
Wissenschaft endet, oder nach der sie jedenfalls strebt, ihre Bedeutung nicht
verliert, weil die Behauptung festgehalten wird, daß ein Verhältnis
zwischen vor" und nach" nimmer vollständig in ein
Verhältnis der reinen Identität aufgehen kann. Weil ein gegenseitiges Äquivalenzverhältnis
zwischen zwei qualitativ verschiedenen Dingen (wie Wärme und Bewegung)
besteht, ist es doch nicht gleichgültig, welches von ihnen zuerst auf-
1
) Thomas Hobbes hat, teils auf eigenem Wege, teils unter persönlichem
Einfluß von Galilei, eines der ersten Vorkämpfer einer streng
mechanischen Naturanschauung, in seiner poetischen Selbstbiographie die
gewonnene Einsicht (Bewegung, als das Einzige) so ausgedrückt:
Et mihi visa qvidem est toto res unica modo
Vera, licet multis
falsificata
modis. [46/47]
tritt und welches nachfolgt. Es geschieht etwas Verschiedenes in
den zwei Fällen, was deutlich gesehen wird, wenn die Reihe in neuen
Gliedern weitergeführt wird: selbst wenn A und B äquivalent sind, wird
doch von B ein Übergang zu C möglich sein können, der nicht von A
aus möglich wäre. Carnot's Satz zeigt, daß der Übergang
zwischen Wärme und Bewegung nicht in beiden Richtungen gleich leicht
geschieht. Aber der streng mathematische Abschluß der Naturerkenntnis hat
seine Bedeutung darin, daß dem rein zeitlosen, logisch-mathematischen Verhältnisse
zwischen den Gliedern der Gleichungen ein zeitlicher Übergang zwischen
verschiedenen Erlebnissen entspricht. Es ist mittels Analogie, daß die
logisch-mathematische Erkenntnis ihre unschätzbare Bedeutung zu erweisen
hat. In den Gleichungen kann der Kundige den Verlauf der Erscheinungen ablesen,
wie der Musiker in der Partitur den Lauf der Töne ablesen kann.
Diese Auffassung wird schon von Kant angedeutet, wenn er lehrt,
daß zwischen Grund und Folge einerseits, Ursache und Wirkung anderseits
ein Analogieverhältnis, aber kein Identitätsverhältnis besteht.
Später ist sie in bedeutungsvoller Weise von Clerk Maxwell (im zweiten
Bande seiner Scientific Papers") geltend gemacht worden. In meinem Philosophische
Probleme" (1903), in Der menschliche Gedanke" (1910) und in Der
Totalitätsbegriff" (1917) habe ich dieselbe Auffassung entwickelt.
Daß das Verhältnis zwischen einer Reihe von
Gleichungen und einer Reihe von qualitativen Veränderungen kein logisches
Identitätsverhältnis ist, kann daraus eingesehen werden, daß man
aus der reinen Logik und Mathematik das Bestehen einer zeitlichen Welt mit
qualitativen Unterschieden nimmer ableiten könnte. Es geht mit jener Welt
der Gleichungen wie mit der Ideenwelt Platon's (die hier in einer neuen Form
auftritt): man kann vielleicht zu ihr aufsteigen, aber die Leiter fällt
weg, sobald man hinauf gekommen ist. (Vgl. die dritte Einwendung gegen die
Ideenlehre in Platon's Parmenides".) Und dazu kommt noch, daß
ein abschließender Beweis der realen Gültigkeit der absoluten
Ideenreihen nicht [47/48] gegeben werden kann, weil neue Relationen immer möglich
sind, deren Analogien mit den gefundenen Identitätsreihen erst nachgewiesen
werden müssen. Auch hier zeigt es sich, daß der Relationsbegriff
Wahrheit und Wirklichkeit als Ideale stehen läßt, die nur unter fortwährender
Arbeit annähernd erreicht werden können. -
Emile Meyerson hat in seinen erkenntnistheoretischen Werken auf
den Unterschied zwischen der Erkenntnis eines gesetzmäßigen Verlaufs
von Erlebnissen und der rationalen Erklärung eines solchen Verlaufs sehr
großes Gewicht gelegt. Besonders in dem neulich erschienenen großen
und tiefgehenden Werke De l'Explication dans les Sciences" (1921)
sucht er diesen Unterschied durch einen Reichtum von Beispielen aus der
Geschichte der Naturwissenschaften zu beweisen, um welchen jeder, der sich mit
Erkenntnistheorie beschäftigt, ihn beneiden könnte. Ich bin im ganzen
mit ihm einig; nur benutze ich eine andere Terminologie. Schon in dem Abschnitte
meiner Psychologie, der von dem Übergange von Psychologie zu
Erkenntnistheorie handelt, zeigte ich, daß die Wissenschaft bei der bloßen
Konstatierung einer unumgänglichen und unvertauschbaren Reihenfolge zweier
Erlebnisse nicht stehen bleibt und nicht stehen bleiben kann, daß sie
aber, nachdem eine solche Reihenfolge (und damit ein Gesetz" in der
populären Bedeutung der Worte) nachgewiesen ist, die Aufgabe sich stellt,
einen kontinuierlichen Übergang von dem einen Gliede des Kausalitätsverhältnisses
zum anderen zu finden, so daß die Wirkung" als eine Fortsetzung
der Ursache" dastehen kann, eine Fortsetzung, die eine Analogie zu
der Weise, in welcher in einem Schlusse die Konklusion aus den Prämissen folgt",
bildet. Es ist dies das große Ideal, das von den Denkern des siebzehnten
Jahrhunderts aufgestellt wurde, wenn sie forderten, daß nichts in der
Wirkung sein dürfte, das nicht schon in der Ursache enthalten war. Die
Kontinuität, die erreicht wird, wenn dieses Ideal wenigstens annähernd
erreicht wird, ist, soviel ich sehe, was Meyerson Rationalität nennt, die
durch Erklärung" erreicht wird. In einem sehr lehrreichen
Beispiel (I, S. 315) zeigt er, wie die Wissenschaft nicht nur ein
gesetz-[48/49]mäßiges Verhältnis zwischen gewissen optischen
Erscheinungen und der chemischen Struktur eines Stoffes nachweist, sondern auch
einen zusammenhängenden Prozeß zu finden sucht, der mit der
Einwirkung des Lichts anfängt und durch die Bewegungen fortgesetzt wird,
die durch diese Einwirkung im Inneren der Moleküle hervorgerufen werden,
und die wieder gewisse Bewegungen in den vom betreffenden Stoffe beeinflußten
Sinnesorgan hervorrufen. Es ist also eine kontinuierliche Reihe von Bewegungen,
die konstatiert werden. Aber sofern es möglich ist, dieses Schema durchzuführen
(und Meyerson hebt die Schwierigkeiten stark hervor), kann es doch nur durch den
Nachweis einer Reihe von Gesetzen (für die Reflektion des Lichts, für
den inneren Bau der Moleküle usw.) geschehen, und ich sehe nicht, welcher
Unterschied dann zuletzt zwischen Gesetzmäßigkeit (légalité)
und Rationalität übrig sein wird. Meyerson sieht denn auch klar, daß
jede Gesetzeserkenntnis, oft dem Entdecker unbewußt, ein inneres Band
zwischen den Gegenständen, die durch das Gesetz verbunden werden,
voraussetzt (II, S. 289), und er gesteht (II, S. 337), daß
Legalität und Rationalität in der Wirklichkeit so genau
(inextricablement) verbunden sind, daß man nur beim Nachdenken über
die Grundlage der Wissenschaft die zwei Prinzipien voneinander scheiden kann.
Nach meiner Auffassung gibt es hier nicht zwei Prinzipien, sondern ein und
dasselbe Prinzip wird mit steigender Genauigkeit und Konsequenz durchgeführt.
Daher glaube ich nicht, daß Meyerson in seiner Kritik von
Comte ganz recht hat, wenn er diese Kritik so formuliert, daß Comte zwar
Gesetzmäßigkeit, aber nicht Rationalität als die Aufgabe der
Wissenschaft anerkennt. Comte selbst spricht (im Discours sur l'esprit
positif" S. 20-21) bestimmt aus, daß die Aufgabe der
Wissenschaft sowohl Erklärung als Voraussehen ist, und daß die
Wissenschaft durch ihre systematischen Spekulationen dem unwillkürlichen
Einheitsdrange unseres Verstandes entgegenkommt, indem die Kontinuität und
Gleichartigkeit der verschiedenen Begriffe durchgeführt wird". Eine
andere Sache ist es, daß Comte [49/50] nicht der Meinung war, daß
dieses Ideal ganz realisiert werden könnte, teils, weil die faktischen
Diskontinuitäten ihm unüberwindlich vorkamen, teils, weil er eine
Religion stiften wollte, deren Dogma in den bisher (c: bis 1830) gewonnenen
Resultaten der Wissenschaft enthalten sein sollten. Die Kritik von Comte muß
so formuliert werden: er forderte einen Abschluß der Gesetzeserkenntnis
und glaubt nicht an die Möglichkeit, sie in spezielleren Formen als bisher
durchzuführen. Noch einen Punkt gibt es, wo ich mit dem ausgezeichneten
französischen Denker, von dessen Werken ich so viel gelernt habe, nicht
einig sein kann. Ich glaube nicht, daß das letzte Ziel der Wissenschaft
die Aufstellung allgemeiner, so exakt als möglich formulierter Sätze
sei. Es gibt noch eine Arbeit zu tun, die nämlich, die allgemeinen Sätze,
die rationalen Gesichtspunkte zum Verständnis der individuellen Existenzen,
die nur durch das Zusammenspiel von Gesetzmäßigkeiten bestehen können,
anzuwenden. Aristoteles hatte darin unrecht, daß das Individuelle kein
Gegenstand der Wissenschaft wäre. Eher verhält sich die Sache so, daß
die ungeheure Arbeit, Gesetzmäßigkeit und Rationalität zu
finden, selbst wieder eine Bedingung ist, Verständnis der individuellen
Totalitäten, die das faktisch Existierende wird, zu gewinnen. Nur wenn man
diese Aufgabe nicht vergißt, wird der Blick für das große,
unendliche Ziel der Wissenschaft geöffnet.
b
) Wir werden hierdurch daran erinnert, daß nicht nur
Kausalität, sondern auch Totalität und Entwicklung als reelle
Kategorien betrachtet werden müssen. Und dies eben kraft des
Relationsbegriffes. Denn die gefundenen rationalen Gesichtspunkte müssen
untereinander verbunden werden, und sie werden dadurch in bestimmten Relationen
zueinander gestellt, und durch die Arbeit hierauf findet der Gedanke neue
Totalitäten, wo bisher nur sporadische Wahrnehmungen vorzuliegen schienen.
Jede solche Totalität steht aber in Verhältnis zu äußeren
Gegenständen und Elementen, und dadurch werden neue Aufgaben gestellt. Wenn
anderseits gegebene Zustände unmittelbar als Totalitäten auftreten,
wird die Aufgabe nicht synthetisch, sondern analytisch; es [50/51] gilt dann den
Zusammenhang, das Zusammenspiel zu finden, wodurch solche Totalitäten möglich
sind. Wir kennen die Dinge nur durch ihre Eigenschaften, und diese bedeuten
ebenso viele Relationen zu anderen Dingen. Auch Moleküle, Atome und
Elektrone sind Totalitäten, die durch ihre Relationen erkannt werden
1
). -
Der Entwicklungsbegriff ist schon angedeutet, wenn Kausalität
als ein kontinuierlicher Prozeß aufgefaßt wird. Es können dann
verschiedene Stadien unterschieden werden, bis ein gewisser Abschluß
erreicht ist, und eine Charakteristik dieser verschiedenen Stadien kann versucht
werden. Dann hängt der Entwicklungsbegriff auch eng mit dem Totalitätsbegriffe
zusammen, indem jede Totalität ihre Geschichte hat.
Es wird auf dem Gesichtspunkte beruhen, was im einzelnen Falle
eine Totalität oder ein Stadium genannt wird. Was für eine Betrachtung
als Ganzes dasteht, ist für eine andere Betrachtung vielleicht nur ein
Teil; was für eine Betrachtung als ein Entwicklungsstadium steht, ist für
eine andere Betrachtung vielleicht ein Auflösungsstadium. Ein näheres
Eingehen auf die hier aufsteigende Frage würde unter die Erörterung
der Relation Subjekt Objekt oder auch unter die Erörterung des
Relationsbegriffes auf dem Gebiete der Werte gehören und muß späteren
Abschnitten dieser Abhandlung vorbehalten werden. -
Karneades hat Recht bekommen. Wir kennen nur die Wirklichkeit
durch die festen, mehr oder minder durchsichtlichen Relationen zwischen den in
der Erfahrung gegebenen Gegenständen. Die Fortschritte der modernen
Forscher im Vergleich mit den alten Akademikern und Skeptikern beruhen auf der
Genauigkeit, mit welcher die einzelnen Relationen bestimmt werden, auf der
steigenden Anzahl Relationen, die nachgewiesen werden, und auf dem
Zusammenspiele dieser Relationen, das entdeckt werden kann. Dadurch ist der
Wirklichkeitsbegriff Schritt für Schritt ent-
1
) Eine nähere Entwicklung des hier Angedeuteten ist in
Der Totalitätsbegriff
gegeben. [51/52]
wickelt und erweitert worden. Die alten Akademiker sahen nicht
die Entwicklungsmöglichkeiten, die durch den Relationsbegriff gegeben
werden. Sie konnten nicht mit Humor auf die Unvollkommenheiten der Erkenntnis
sehen, weil sie die Bedeutung einer fortschreitenden Anwendung des
Relationsbegriffes nicht sahen. Eine besondere Form von Humor ist dagegen in
neurerer Zeit möglich geworden, indem das große Ideal der Erkenntnis
ohne Überschätzung der einzelnen Schritte, die gemacht werden können,
festgehalten wird
1
).
Dazu kommt noch, daß die skeptische Haltung der Akademiker
im Grunde ihre Voraussetzung in dem populären Wirklichkeitsbegriffe hatte,
nach welchem die Wirklichkeit ein für allemal feststehe als eine absolute
Ordnung der Dinge, mit welcher neue Gedanken stimmen müßten, wenn
unsere Erkenntnis wahr sein sollte. Es ist eine unmögliche Relation, die
hier angenommen wird. Die Wirklichkeit kann nicht selbst ein Glied einer
Relation sein; dies würde ja voraussetzen, daß wir sie schon kannten.
Sie beruht dagegen selbst auf den Relationen zwischen unseren Wahrnehmungen.
Unser Gedanke kann nicht das eine Zirkelbein auf sich selbst und das andere auf
etwas, das ihm noch gar nicht zugänglich ist, setzen. Wahrheit ist nicht
Entschleierung, sondern Hervorbringen; sie wird nur durch beständige Arbeit
gewonnen.
a
) Einleitung. - Die bisher erwähnten Relationen
bestehen zwischen Gegenständen (Erlebnissen) und zeugen von verschiedenen
Seiten von der Tatsache, daß der menschliche Gedanke darin besteht, einen
Gegenstand in ein Verhältnis zu anderen Gegenständen zu setzen, und daß
er auf diesem Wege zu dem Verständnis gelangt, das ihm überhaupt möglich
ist. Zuletzt gilt es, alle Gegenstände auf gewisse Grunderlebnisse (Urphänomene)
zurückzuführen, die vorläufig feststehen, obgleich die spätere
Forschung vielleicht weiter zurückzugehen
1
) Vgl.
Humor als Lebensgefühl
(Deutsche Übers. 1918). Kap. 6 (Verständnis und
Humor). Vgl. Kap. 9 § 54 (Humor und kritischer Realismus).
[52/53]
versuchen wird. Wie Ernst Mach (Erhaltung der Arbeit, 1872)
bemerkte: daß man eben bei gewissen bestimmten Gegenständen stehen
bleibt, kann nur historisch erklärt werden. Er führt ein großes
Beispiel an (S. 32): Wenn wir heute glauben, daß die
mechanischen Tatsachen verständlicher sind wie andere, . . . so
ist dies eine Täuschung. Es liegt dies daran, daß die Geschichte der
Mechanik älter ist als jene der Physik, daß wir mit mechanischen
Tatsachen länger auf einem vertrauten Fuß gestanden. Wer darf
behaupten, daß uns einmal elektrische und Wärmeerscheinungen nicht ähnlich
erscheinen werden, wenn wir ihre einfachsten Regeln kennen gelernt haben und mit
ihnen vertraut gewesen sind . . . . Nimmer ist eine
Grundtatsache verständlicher als eine andere." - Daß die
Stellung der Grundtatsachen (der Urphänomene oder Grundgegenstände)
innerhalb unserer Erkenntnis nur historisch erklärt werden kann, bedeutet,
daß wir nur mit Hilfe der Geschichte der Wissenschaft verstehen können,
warum man zu einer gegebenen Zeit bei gewissen bestimmten Tatsachen haltmachen
und eine vollständige Erklärung in der Zurückführung anderer
Tatsachen auf sie finden mußte. Mach hat in der angeführten Äußerung
vorausgesagt, was wirklich geschehen ist. Im zwanzigsten Jahrhundert betrachtet
die Naturwissenschaft nicht mehr Inertie, Schwere und Energiebestehen als
Grundtatsachen; jedenfalls stellt sie sich die Aufgabe, sie auf andere Tatsachen
zurückzuführen. - In der Philosophie hat man sich oft bei einer
gewissen Anzahl von Grundbegriffen (Kategorien) befriedigt gefunden, und selbst
Kant meinte hier ein Ende erreicht zu haben. Es zeigt sich aber, daß die
Grundbegriffe, von welchen die Erkenntnis in seiner Arbeit Gebrauch macht,
ebensowenig wie die Grundtatsachen der Naturwissenschaft zu allen Zeiten
dieselben sind, obgleich sie einen gewissen durchgehenden Typus zu allen Zeiten
darbieten.
Es ist verständlich, daß die Forscher mitten in ihrer
energischen Arbeit sich nicht immer gleichzeitig des historisch bedingten
Charakters der Grenzen ihrer Resultate klar bewußt sind. Meyerson drückt
dies so aus: die Wissenschaft [53/54] ist ontologisch, nur daß sie eine
andere Ontologie an die Stelle der Ontologie des gesunden Menschenverstandes
setzt; diese neue Ontologie sei nun Atomistik, Energetik oder reiner
Materialismus
1
). Es ist doch nicht notwendig, daß naive Ontologie immer
für wissenschaftliche Arbeit charakteristisch sein soll. Erstens löst,
wie Meyerson selbst zeigt
2
), die Wissenschaft selbst die Ontologie, die vorläufig
notwendig schien, auf. Zweitens muß doch natürlich, selbst für
den am meisten begeisterten Forscher, die Frage auftauchen, mit welchem Recht er
das Ding an sich" erreicht zu haben glaubt; die Geschichte der
Wissenschaft zeigt, daß dies keine fremde, außer der Wissenschaft
liegende Frage ist. Und drittens muß unumgänglich die Frage
entstehen, wie man von der Ontologie, zu welcher man gekommen ist, zurückgehend
die Welt der Qualitäten und der Sukzessionen, von welcher aus man sein
Aufsteigen zur vermeintlichen absoluten Ordnung der Dinge begann, erklären
kann. Diese Frage hat die gleiche Bedeutung jetzt wie im Altertum Platon und
Demokritos gegenüber. -
Aber außer den objektiven Relationen, durch welche Gegenstände
einander gegenüber beleuchtet und bestimmt werden, macht sich immer, nur
mehr verdeckt, eine Relation zwischen dem erkennenden Subjekt und den Gegenständen,
die seine Objekte sind, geltend. Schon die alten Skeptiker sahen ein, daß
hier eine Grundrelation vorlag (oben S. 6 f.). Alle objektiven
Relationen werden von einem menschlichen Subjekt aufgefaßt und durchdacht
und gelten vorläufig in Relation auf dieses. Mit einer Änderung dieses
Subjekts, seiner Organisation und seiner Situation wird auch seine Erkenntnis
eine andere werden können. Hier, wie bei den
1
) La science de nos jours est saturée d'ontologie, et les
savants, en dépit de ce qu'ils affirment expressément euxmêmes,
font de la métaphysique comme ont fait, de tout temps, leurs dévanciers.
De l'Explication dans les Sciences II,
S. 174.
2
) Les sciences, en menant ses explications jusqu'au bout, finit
par détruire cette ontologie qui, d'abord, paraissait lui etre
indispensable. I. S. 50. [54/55]
objektiven Grundgegenständen, stellt sich eine historische
Aufgabe ein, nämlich die, den Grund zu finden, warum das Erkenntnissubjekt
eben mit diesen bestimmten Voraussetzungen auftritt und diese bestimmten Fragen
stellt. Diese Aufgabe gehört unter die vergleichende Psychologie und die
Geschichte der Wissenschaft. Hier haben wir es nur mit dem allgemeinen
Gesichtspunkte: ohne Subjekt kein Objekt, zu tun.
Der umgekehrte Gesichtspunkt gilt aber auch: ohne Objekt kein
Subjekt. Wir haben nämlich nimmer ein reines Subjekt ohne objektiven
Inhalt, und ohne daß es durch diesen Inhalt bedingt und bestimmt ist,
ebensowenig wie wir je ein reines Objekt haben, sondern stets (obgleich nicht
immer mit vollem Bewußtsein) einen möglichen Beobachter oder Denker
voraussetzen. Die Begriffe Subjekt und Objekt sind korrelat, wie die Begriffe
Synthese und Relation, Kontinuität und Diskontinuität, Ähnlichkeit
und Verschiedenheit usw. Jede Darstellung der Entstehung einer Welt, von der
mosaischen Schöpfungsgeschichte bis zu modernen kosmogonischen Versuchen,
gibt eine Beschreibung davon, wie das Ganze sich für einen Zuschauer mit
gewissen Sinnen und Voraussetzungen ausnehmen würde. Das erkennende
Subjekt, der Zuschauer oder Denker, hat selbst eine Geschichte, die durch die
Erfahrungen, die er gemacht hat, und durch die Weise, in welcher er diese
Erfahrungen bearbeitet hat, bestimmt ist. Die moderne Erkenntnistheorie ist darüber
klar, daß sich mittels wissenschaftlicher Arbeit eine Subjektivität
entwickeln kann, die Vermögen und Drang besitzt, die Gegenstände in
ihren Relationen zu sehen, und die ein Verständnis davon hat, wie sie
selbst zu dem Standpunkte, aus welchem sie ihre Aufgaben stellt und die möglichen
Lösungen untersucht, gekommen ist
1
). Man kann eine solche Subjektivität die
erkenntnistheoretische Subjektivität nennen. Heinrich Rickert, der diesen
Punkt klar beleuchtet hat, nennt treffend das erkenntnistheoretische Subjekt
einen Grenzbegriff im Verhältnis zum psychologischen
1
) Über die Wechselwirkung zwischen dem psychologischen und
dem erkenntnistheoretischen Gesichtspunkte vgl.
Der menschliche Gedanke.
S. 326-333. [55/56]
Subjekte
1
). Daß keine Kategorielehre definitiv sein kann, ist eben
eine Folge davon, daß dieser Grenzbegriff immer wieder von neuem bestimmt
werden kann und muß, weil er durch den jeweiligen objektiven Inhalt
bedingt ist. Die Welt wird von der menschlichen Natur und vom menschlichen
Standpunkte aus verstanden - aber die Natur und der Standpunkt des Menschen
werden wieder aus den Weltgesetzen und der Weltentwicklung verstanden. Über
dieses Wechselspiel hinaus kommt man nicht, obgleich die zwei Gesichtspunkte zu
verschiedenen Zeiten mit verschiedenem Gewichte in der wissenschaftlichen
Diskussion auftreten können.
Die Betonung der Relation Subjekt - Objekt führt keineswegs
zum Subjektivismus, weil es, wie schon gesagt, kein reines Subjekt gibt, das
alles aus sich selbst hervorbringen könnte. Es gibt stets nur ein objektiv
bestimmtes S (ein S
O
), wie es stets nur ein subjektiv bestimmtes O (ein O
S
) gibt. Daß man sich dieser Relation nicht ohne weiteres
bewußt wird, ist eine Folge von der unwillkürlichen Zuversicht, mit
welcher wir vom Anfang an jeder Empfindung, jeder Erinnerung, jeder Phantasie,
jedem Gedanken begegnen. Darauf gründet sich der Gedanke, von dem sich die
Griechen nie recht freimachen konnten, und die man noch immer selbst in klaren Köpfen
spüren kann: was ich erkenne, muß doch etwas sein; wäre es
nichts, gäbe es auch kein Erkennen! - Es ist ja auch nicht gleich Grund
dazu, die Gültigkeit der Gedankenformen, in welcher wir unsere Probleme erörtern,
zu bezweifeln. Und vorläufig denken wir nicht daran, daß wir selbst
ein Zirkelbein sind, das auf einem bestimmten Orte steht, von welchem aus das
andere Zirkelbein an verschiedenen Orten, aber immer in Relation zu der Stellung
des ersten, angebracht werden kann. Die antike Skepsis hat es entdeckt. Und wir
wollen jetzt einige Beispiele anführen, die zeigen werden, wie man in
neuerer Zeit mehr und mehr die Bedeutung dieser Relation für unsere
Erkenntnis eingesehen hat. Welche Rolle die
1
)
Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung
2
. S. 134 bis 138; 308. [56/57]
subjektive Relation (wie wir sie kurz nennen können) im
einzelnen Falle spiele, kann natürlich nicht im voraus gesagt werden. Der
Anteil, den der Mensch, das Subjekt, an unserer Erkenntnis habe, kann nur durch
Analyse der fortschreitenden Erkenntnis der Welt dargelegt werden. Es sind drei
Beispiele aus der Geschichte der neueren Naturwissenschaft und Philosophie, die
wir jetzt vorlegen wollen.
b
) Kopernikanismus und Relationsbegriff
1
). - Der subjektive Relationsbegriff war ein Teil der
Grundlage, auf welcher Kopernikus seine Hypothese aufbaute. Sinneswahrnehmung
kann uns, sagt er, nicht unmittelbar sagen, was sich bewegt, ob es das
wahrgenommene Ding ist, oder das wahrnehmende Subjekt, oder vielleicht beide
(mit verschiedener Hastigkeit oder in verschiedener Richtung). Wenn sich nun die
Erde bewegte, würden sich die wahrnehmenden Subjekte auch bewegen, und es wäre
kein Grund, die Sonne als bewegt anzunehmen. Schon ein Jahrhundert vor
Kopernikus war ein ähnlicher Gedankengang von dem tiefsinnigen Denker
Nikolaus Cusanus geltend gemacht worden. Er sah, daß, wo ein Mensch sich
auch befinde, würde er meinen im Zentrum zu sein, er befinde sich nun an
einem Orte der Erde oder auf der Sonne oder auf anderen Sternen. Man hat daher
kein Recht, von einem Mittelpunkte der Welt zu reden, folglich auch kein Recht,
die Erde als diesen Mittelpunkt zu behaupten. Und daraus folgt wieder, daß
man kein Recht hat, die Erde als ruhend zu behaupten. Wenn wir keine Bewegung
merken, kann dies ja daraus kommen, daß wir keinen absolut ruhenden Punkt
haben, in Verhältnis zu welchem die Bewegung hervortreten könnte.
Dieser Gedankengang ist bei Cusanus ein Glied einer ganzen Auffassungsart, die
die Verhältnisbestimmtheit (die Relativität) aller Gedanken einschärft,
und diese Auffassungsart wird wieder dadurch begründet, daß alle
Erkenntnis mittels einer Verbindung einer Mehrheit von Erlebnissen entsteht,
durch welche Verbindung die Erlebnisse
1
) In diesem und dem nächstfolgenden Stücke baue ich
auf meiner Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie. [57/58]
notwendig in Verhältniss zueinander gesetzt werden und
dadurch einander gegenseitig bestimmen. Cusanus hat überhaupt ein
wunderbares Vermögen, jeden Gegenstand in seinen bestimmten Relationen zu
denken. Dadurch ist er ein Vorläufer des Kopernikus, dessen Tat der
Nachweis des neuen Weltbildes war, der eine Folge dieser Auffassungsart werden könnte,
und des Giordano Bruno, der wie Cusanus den Relationsbegriff aus der Natur
unserer Erkenntnis (del modo nostro de intendere) ableitet. Unser Denken
arbeitet immer dadurch, daß ein Gegenstand durch einen anderen bestimmt
wird; es setzt Grenzen und hebt wieder Grenzen auf kraft eines und desselben
Prinzips. So wird ein Ort im Verhältnis zu einem anderen Ort und Bewegung
im Verhältnis zu einem vorausgesetzten festen Punkte bestimmt. Suche ich
einen solchen Punkt auf der Sonne, wird eine Bewegung sich anders ausnehmen, als
wenn ich ihn auf der Erde suche. Das alte Weltbild setzte voraus, was eben
bewiesen werden sollte, daß die Erde der eine feste Punkt wäre, im
Verhältnis zu welchem alle wahre Bewegung erwiesen werden mußte. Von
Zentrum, Pol, Zenit oder Nadir als Absolutem können wir nur sprechen, wenn
wir die Erde als ruhend voraussetzen. Besonders interessant ist es, daß für
Bruno die Relativität der Zeit eine ebenso notwendige Folge wie die
Relativität des Ortes und der Bewegung war. Aristoteles hatte (Physica IV,
4) gelehrt, daß die Begriffe Zeit und Bewegung genau zusammenhängen
und gegenseitig durcheinander gemessen werden; ihm war der Maßstab in den
regelmäßigen Bewegungen der Himmelskörper gegeben. Hierzu
bemerkt Bruno
1
), daß, weil eine und dieselbe Bewegung sich von den
verschiedenen Weltkörpern aus verschieden ausnehmen muß, es ebenso
viele verschiedene Zeiten geben muß, wie es Sterne gibt! - Interessant ist
bei Bruno die Weise, in welcher der Relationsbegriff ihn dazu führt, neue
Wahrnehmungen und Versuche zu fordern, wo man sich bisher zuversichtlich am
unmittelbar
1
)
Acrotismus.
Art. 38. (Opera latina, Ed. Fiorentino I. S. 143-146.)
[58/59]
Gegebenen als seine Erklärung in sich selbst enthaltend
gehalten hatte.
Galilei macht die Wendung, zwischen der mathematischen und der
sinnlichen Auffassung scharf zu unterscheiden. In der mathematischen Erkenntnis
fällt für Galilei der Unterschied zwischen göttlichem und
menschlichem Denken weg. Es sind seine Platonstudien, die wirken, wenn er
behauptet, daß in der Mathematik kein Unterschied zwischen dem Dasein in
sich selbst und unserer Auffassung gilt: hier ist das menschliche Erkennen der
Notwendigkeit teilhaft, mit welcher die Gottheit die den Zusammenhang des
Daseins tragenden Gedanken denkt. Nur der Unterschied bleibt zurück, daß
das Verständnis, das Menschen nur durch mühsame Arbeit und sukzessiv
erreichen können, für die Gottheit in unmittelbarem Schauen
hervortritt, und ferner, daß der Umfang der göttlichen Erkenntnis den
der menschlichen weit übergeht. Nur für die mathematische (göttliche)
Auffassung existieren ein absoluter Raum und eine absolute Bewegung. Für
unsere sinnliche Auffassung ist alle Bewegung relativ, weil wir nach dem Umsturz
der antiken, begrenzten Weltbilder kein absolutes Unbewegtes haben, im Verhältnis
zu welchem Bewegung konstatiert werden könnte. Unsere sinnliche Auffassung
ist durch unseren Standpunkt auf der Erde bedingt. Denke nur die Erde weg,
dann existiert kein Sonnenaufgang oder Sonnenniedergang, kein Meridian, kein Tag
und keine Nacht!" Und hier auf der Erde ist es wieder unser körperlicher
Organismus, der die Eigenschaften bestimmt, die wir - von den rein
mathematischen Eigenschaften (primi e reali accidenti) abgesehen - den Dingen
beilegen, also alle eigentlichen Sinnesqualitäten (Farbe, Geruch, Geschmack
usw.). Nimm den Körper weg, dann fallen auch alle Sinnesqualitäten
weg, und unsere Erkenntnis wird mit der göttlichen Erkenntnis ganz in eins
gehen.
Der scharfe Gegensatz zwischen mathematischer (göttlicher)
Erkenntnis, für welche absoluter Raum und absolute Bewegung existiert, und
sinnlicher (menschlicher) Erkenntnis tritt um so sonderbarer bei Galilei hervor,
als seine Großtat [59/60] eben das methodische Zusammenwirken von
Deduktion und Induktion, von Mathematik und Experiment war. Dieser scharfe
Gegensatz bekam aber großen Einfluß in den folgenden Jahrhunderten,
besonders weil sie durch die große Autorität Newton's gestützt
wurde.
Auf Grundlage der Lehre von der Relativität der Bewegung
konnten rein formell (mathematisch) die Himmelserscheinungen ebensogut dadurch
erklärt werden, daß die Sonne sich um die Erde bewegte, als dadurch,
daß die Erde sich um die Sonne bewegte. Und Tycho Brahe hatte eine
Zwischenform aufgestellt, nach welcher die Erde fest stand, während sich
die Sonne und die Planeten um sie bewegten. Gascendi verglich die drei so
aufgestellten Hypothesen und suchte zu zeigen, daß man rein
wissenschaftlich nicht zwischen ihnen wählen konnte. Dann wies aber Newton
in seinem berühmten Werke nach, daß die Keplerschen Gesetze der
Planetenbewegung abgeleitet werden konnten, wenn man dem Gesetz der Schwere auf
alle Himmelskörper Anwendung gab, und dann mußten die Erde und die
Planeten sich um die Sonne drehen, nicht umgekehrt die Sonne um die Erde. Kraft
der Gesetze der Fallbewegung wurde also zuletzt nur eine Hypothese möglich.
Analogerweise führte ungefähr gleichzeitig Leibniz über die
Skepsis hinaus, die durch die Relativität der Bewegung anscheinend
motiviert wurde, indem er als das für die Erkenntnis Entscheidende das
Gesetz der Bewegung, nicht die Bewegung selbst behauptete, und indem er ferner -
unter Kritik der kartesischen Lehre vom Bestehen der Bewegung - den Satz von dem
Bestehen der Kraft aufstellte. Hier gab es dann eine Realität, die von dem
Standpunkte des Beobachters im Raume nicht abhängig war. Die zwei großen
Forscher führten, jeder in seiner Weise, über die Relativität der
Bewegung hinaus und fanden den entscheidenden Standpunkt in den Gesetzen der
Bewegung.
Doch behauptete Newton (hier gewiß unter dem Einflusse des
Platonikers Henry Morus), wie Galilei, einen scharfen Gegensatz zwischen dem
sinnlichen Raum, an dem die populäre Auffassung sich hält, der aber
keine absolute Ortsbestimmung [60/61] möglich macht, sondern nur relative
Bewegung aufzeigt, und dem absoluten Raume, der in keiner äußeren
Relation steht und daher absolute Ortsbestimmung, absolute Bewegung möglich
macht. In der wissenschaftlichen Orientierung in der Welt (in rebus
philosophicis) benutzen wir die absoluten Orte (loca primaria), und dabei liegt
der mathematische Raum zugrunde. In dem praktischen Leben (in rebus humanis)
aber begnügen wir uns mit dem sinnlichen Raume, der keine absoluten
Bestimmungen möglich macht. Diese Auffassung, die mit der eigentümlichen
Metaphysik Newton's zusammenhängt, wurde vorläufig in der
Naturwissenschaft herrschend. Ein starker Schlagbaum war dadurch für die
fortgesetzte Anwendung des Relationsbegriffs gesetzt. Weil man nicht mehr, wie
noch Kopernikus, die Fixsternsphäre (die achte Sphäre") als
unbeweglich annahm, so daß sie als ein communis universorum locus (um den
Ausdruck des Kopernikus zu Gebrauchen) als Grundlage (point de repère)
absoluter Ortsbestimmung dienen könnte, war es eigentlich eine rein
mystische Hinweisung, wenn man an den absoluten Raum, der keiner menschlichen
Erfahrung zugänglich war, appellierte. - Auf diesem Punkte der
Diskussion greifen nun zwei philosophische Denker auf eigentümliche Weise
ein.
g
) Philosophische Gesichtspunkte. - Ein neuer Platonismus
hatte mit Galilei und Newton gesiegt, ein eigentümlicher Gegensatz zu der
Weise, in welcher diese großen Forscher in ihrer Naturwissenschaft die
Wechselwirkung zwischen Denken und Wahrnehmung anwandten. Es erhob sich aber
jetzt eine Opposition, die mit der von Karneades und Ainesidemos gegen die
platonische Ideenlehre erhobenen Opposition verglichen werden kann. Es waren
Berkeley und Kant, die diese Opposition erhoben. Sie kritisierten beide, jeder
in seiner Weise, den absoluten Raum und behaupteten, daß, wenn man das
erkennende Subjekt nicht mit in Beachtung nimmt, alle Wahrheiten und alle Rätsel
wegfallen.
Der Hauptgedanke Berkeley's war, daß wir in Beispielen
denken und denken müssen. Allgemeine Begriffe, Sätze und Gesetze
kennen wir nur aus den speziellen Fällen, in welchen [61/62] sie sich
geltend machen, und es ist unberechtigt, ihnen und den Verhältnissen, die
sie ausdrücken, Existenz als eine Welt für sich hinter der Welt der für
die Wahrnehmung hervortretenden Qualitäten und Qualitätsänderungen
zuzuschreiben. Die primären und realen" Eigenschaften, denen
Galilei absolute Existenz zuschrieb, fassen wir doch immer nur unter bestimmten
Bedingungen auf: in einem oder dem anderen Abstande, makroskopisch oder
mikroskopisch usw. Ausdehnung im Raume muß mit allen anderen Eigenschaften
das Schicksal teilen. Jede Bewegung muß eine bestimmte Richtung und eine
bestimmte Geschwindigkeit haben. Es gibt weder Ausdehnung noch Bewegung im
allgemeinen. Wenn die Frage nach dem rechten Orte, der rechten Größe,
Richtung oder Geschwindigkeit aufgeworfen wird, dann kann eine solche Frage nur
in Beziehung auf das auffassende und denkende Subjekt beantwortet werden. Wenn
ich, sagt Berkeley, als der kindlich Glaubende er war, bei der Schöpfung
zugegen gewesen wäre, würde ich die Dinge in der in der Bibel erzählten
Ordnung entstehen gesehen haben. Im täglichen Leben sehen wir aber von dem
Subjekt weg, obgleich es immer vorausgesetzt werden muß. - Hier tritt
sehr klar der Gegensatz zu Newton hervor, nach welchem wir in strenger
Wissenschaft von dem Subjekt wegsehen. Berkeley behauptet, daß in der
Wissenschaft (in rebus philosophicis, um Newton's Ausdruck zu gebrauchen)
ebensowohl wie im praktischen Leben (in rebus humanis) ein Subjekt vorausgesetzt
werden muß. -
Kant hat, wie schon erwähnt, gesehen, daß Relation
ein für alle Erkenntnis geltender Grundbegriff ist, nur daß er sich,
in entschiedener Inkonsequenz, ein relationsloses Ding an sich"
vorbehielt, um das Dasein von etwas, das wir nicht selbst hervorgebracht haben,
erklären zu können
1
). Unter
1
) Wenn Ding an sich" den Grund des Stoffes (und der
Form) unserer Erkenntnis enthalten soll, muß es doch in Relation zur
Erkenntnis stehen, obgleich sie relationslos sein sollte. Oder unsere Erfahrung
stände in Relation zu ihm, aber nicht umgekehrt. Nach dieser letzten
Auffassung haben wir dieselbe einseitige Relation, die Thomas Aquinas in der
Theologie durchzuführen versuchte. Vgl. oben S. 42 Note. [62/63]
den Relationen ist es bei ihm, wie bei Berkeley, ganz besonders
die Relation Subjekt - Objekt, die das Interesse in Anspruch nimmt, und er
behauptet die fundamentale Stellung des Subjekts in dieser Relation. Selbst in
der reinen Mathematik und in der exakten Erfahrungswissenschaft wird ein
Erkenntnissubjekt vorausgesetzt. Nur für ein solches Subjekt existiert eine
Erfahrung in strenger Bedeutung, eine Erfahrung, in welcher die mathematischen
Begriffe ihre Anwendung finden und ihre reale Bedeutung haben.
Kant fing als eifriger Newtonianer an, und vorläufig
behauptete er, wie sein Meister, den absoluten Raum als objektive Voraussetzung
für die strenge Erfahrung sowohl als für die reine Geometrie (die für
ihn ihre definitive Grundlage mit Euklid gefunden hatte). Noch in der Kritik
der reinen Vernunft" behauptete er einen absoluten Raum, nur daß der
newtonische Raum eine menschliche Anschauungsform statt einer göttlichen
Anschauungsform, ein sensorium hominis statt eines sensorium dei geworden ist
1
). Von besonderem Interesse ist es, daß der Begriff des
Raums (wie auch der Begriff der Zeit) nach Kant nicht nur ein Allgemeinbegriff
ist, sondern typischer Individualbegriff; jeder bestimmte Raum ist ein [ein]
Teil des Raumes, nicht nur ein Beispiel des Begriffs Raum. Und wenn Kant den
Raum eine Anschauungsform nennt, meint er nicht Anschauung als ein einmal für
alle fertiges Resultat, sondern eine Funktion, ein Anschauen, das zur Bildung
von Anschauungen oder Konstruktion von Schemata führt. Überhaupt meint
Kant mit Formen" Weisen, in welchen die verbindende Funktion, die
Synthese, in welcher alles Bewußtsein und alle Erkenntnis besteht, in den
einzelnen Fällen vor sich geht. Wir konstruieren den Baum, indem wir Punkt
an Punkt, Stück an Stück nach einer bestimmten Regel fügen. In
der Identität einer solchen Regel äußert sich die Einheit des
Bewußtseins im einzelnen Falle.
Durch nähere Durchführung dieses Gedankenganges kam
1
) Vgl.
Die Kontinuität
in Kants philosophischem Entwicklungsgange.
(Archiv für Geschichte der Philosophie. 1893.) [63/64]
Kant später dazu, die subjektive Realität des
absoluten Raumes zu verneinen, wie er schon in der Kritik der reinen
Vernunft" seine objektive Realität verneint hatte. Schon in der ersten
Ausgabe des Hauptwerks hatte er gesagt, von allen Dingen, die ausfüllen
oder begrenzen, abgesehen, ist der absolute Raum nur die bloße Möglichkeit
äußerer Erscheinungen". Einige Jahre später (in Metaphysischen
Anfangsgründen der Naturwissenschaft") geht er einen Schritt weiter,
indem er auf die Relativität jedes Ortes und jeder Bewegung hinweist. Im
absoluten Raume sollte man ja von allen Relationen wegsehen können. Wann
werden wir aber damit fertig, alle Punkte in Relation zueinander zu setzen, alle
Linien zu ziehen usw. ? Wo ist der Punkt oder die Grenze, die selbst
relationslos alle Punkte und alle Grenzen bestimmt ? Daher erklärt Kant
jetzt, daß der reine, absolute Raum für alle mögliche
Erfahrung nichts ist". Der absolute Raum ist an sich nicht und gar
kein Objekt, sondern bedeutet nur einen jeden relativen Raum, den ich mir außer
dem gegebenen jederzeit denken kann" (Metaphys. Anfangsgründe. 1786.
S. 16; vgl. S. 3). Kant folgte hier faktisch der Lehre Berkeley's, daß
wir in Beispielen denken. Der absolute Raum bedeutet nur, daß kein
gegebener Raum abschließend ist. Neue Räume können immer
vorgestellt werden. Es ist der Gedanke des Beziehens, der Relation, der Kant von
seiner absoluten Anschauungsform wegführt. Der Raum wird eine Idee"
in kantischer Bedeutung, ein Grenzbegriff, der allen Abschluß verwirft und
die Möglichkeit neuer Reihenbildungen behauptet. Der Begriff des Raumes hat
also, wie alle Ideen", nur regulative Bedeutung.
Kant hat selbst seine Philosophie mit dem Kopernikanismus
verglichen. Und gewissermaßen könnten er und Berkeley in dem
Abschnitte erwähnt sein, der von Kopernikanismus und Relationsbegriff"
handelte. Die beiden Philosophen waren aber doch am meisten davon aufgenommen,
den Dogmatismus, der sich, mit vermeintlicher Stütze in mathematischer
Wissenschaft, trotz des Sieges des Kopernikanismus erhalten hatte, zu bekämpfen.
Und was besonders Kant betrifft, war [64/65] es sein Hauptbestreben, auf einmal
die große Bedeutung des Newtonschen Wissenschaftsbegriffes zu behaupten
und die absoluten Formen, die Newton noch hatte stehen lassen, auf Formen des
arbeitenden Gedankens zurückzuführen.
Obgleich Kant immer die Zeit als dem Raum parallel auffaßt,
zieht er doch für sie keine Konsequenz wie die für den Raum gezogene.
Und doch wäre es ihm - besonders durch seine Lehre von den Schematismen",
die die Aktivität in der Zeitauffassung hervorhebt - natürlich
gewesen, zu sehen, daß wir ebensowenig mit der Zeit wie mit dem Raume
fertig werden, und daß die absolute Zeit nur bedeuten kann, daß neue
Zeitrelationen immer möglich sind. -
Es ist nicht nötig, hier eine Kritik von Kant zu geben.
Eine solche würde besonders zu zeigen haben, daß der Begriff der
Erfahrung, in Kant's oben angegebenem strengem Sinne, auch eine Idee",
wie der Raum und die Zeit, und daß Kant nur durch eine wunderbare
Inkonsequenz ein Ding an sich" ohne Relationen annehmen konnte.
d
) Die neue Relationstheorie. - Trotz der großen
Erweiterung des Horizonts, die der Kopernikanismus veranlaßte, hatte die
Naturwissenschaft doch die Begriffe des absoluten Ortes und der absoluten
Bewegung festgehalten, obgleich sie nur innerhalb des alten Weltbildes mit
seinen begrenzten und festen Rahmen ihre Berechtigung hatten. Galilei's und
Newton's absoluter Raum trat an die Stelle des durch die achte Sphäre
begrenzten Raumes. Es kam aber die Zeit, da der Relationsbegriff auch hier seine
Konsequenzen geltend machte, und zwar nicht nur, was das gegenseitige Verhältnis
zwischen den Gegenständen, sondern auch was das Verhältnis zwischen
den Gegenständen und dem erkennenden Subjekt betrifft.
Zuerst wurde der erste Satz der Bewegungslehre, und damit der
Naturwissenschaft, vom Gesichtspunkt des Relationsbegriffs erörtert.
Neumann (Über die Prinzipien der Galilei-Newtonschen Theorie. 1870) machte
darauf aufmerksam, daß der Inertiesatz, nach welchem die Geschwindigkeit
und die Richtung eines Körpers nur durch äußere Einwirkung geändert
wird, eine Bestimmung des Ortes voraussetzt, im [65/66] Verhältnis zu dem
die Geschwindigkeit und die Richtung erhalten wird, wenn keine äußere
Einwirkung hinzukommt. Neumann fand nun keinen Ort, der als Ausgangspunkt für
ein absolutes Koordinatsystem dienen könnte. Er meinte, daß man doch
hypothetisch ein Zentrum annehmen müßte, damit der Begriff absoluter
Bewegung seine Bedeutung bewahren könnte. Mach, der ungefähr
gleichzeitig auf seinem eigenen Wege die Einsicht gewonnen hatte, daß der
Inertiesatz ein bestimmtes Koordinatsystem voraus[s]setzt, fand doch nicht den
Ausweg Neumanns befriedigend. Er forderte den Relationsbegriff durchgeführt.
Die dogmatische Auffassung des Inertiesatzes wird nach seiner Meinung erst
wegfallen, wenn man sich darüber klar wird, daß jeder Körper im
Weltall an und für sich als Ausgangspunkt gebraucht werden kann, und daß
wir in praxi in jedem einzelnen Falle den einen oder den anderen Körper als
einen vorausgesetzten festen Ausgangspunkt für die Koordinate gebrauchen,
durch welche die Geschwindigkeit und die Richtung einer Bewegung bestimmt wird.
(Die Erhaltung der Arbeit. 1872.) Diesen Weg ist man faktisch immer gegangen,
nur daß innerhalb des alten Weltbildes, das ja auf der Voraussetzung einer
absolut festen Grenzsphäre der Welt ruhte, keine Wahl notwendig war. Mach
legt überhaupt großes Gewicht auf die historischen Voraussetzungen,
die der Forschung jeder einzelnen Zeit zugrunde liegen, zeigt aber dann, wie
diese Voraussetzungen von Zeit zu Zeit variieren, und daß keiner
Voraussetzung absolute Notwendigkeit und Verständlichkeit zukommen kann.
Das Entscheidende ist hier immer, was französische Forscher points de repère
nennen
1
).
Eine noch radikalere Anwendung des Relationsbegriffes ist im
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts geschehen. Was uns in diesem Zusammenhange
interessiert, ist, daß es sich als notwendig gezeigt hat, auf das
auffassende Subjekt und seinen Standpunkt Rücksicht zu nehmen. Schon
Kopernikus hatte
1
) Vgl. z. B. Painlevé:
Mécanique
(in der Sammlung De la Méthode dans les Sciences".
1909). S. 399: les mouvements absolus, c'est-à-dire au
fond les mouvements convenablement repérés". [66/67]
ja dies eingeschärft, was die Auffassung der Bewegung der
Himmelskörper betrifft, und Neumann und Mach, was die Geschwindigkeit und
die Richtung der Bewegungen betrifft. Einstein
1
) hat nun zu zeigen gesucht, daß das, was vom Raume, auch
von der Zeit gilt. Wenn man dies nicht früher entdeckt hat, ist es nach
Einstein daraus zu erklären, daß man mit Geschwindigkeiten gerechnet
hat, die im Verhältnis zur Geschwindigkeit des Lichts sehr klein waren. Der
letzte Zeitmaßstab wird für die moderne Physik die Geschwindigkeit
des Lichts, während er für Aristoteles und noch für die
Kopernikaner in den Bewegungen der Himmelskörper gefunden wurde
2
). Auf Grundlage der elektromagnetischen Theorie der physischen
Erscheinungen, für welche die mechanische Naturauffassung nur als ein
spezieller Fall steht, sucht Einstein zu zeigen, daß Bedingungen gegeben
werden können, unter welchen zwei Beobachter, von welchen der eine an ein
festes, der andere an ein bewegliches Koordinatsystem geknüpft ist, die
gleiche Zeitauffassung nicht haben können. Was für den einen
Beobachter als ein Gleichzeitigkeitsverhältnis zwischen zwei Begebenheiten
steht, wird für den anderen als ein Sukzessionsverhältnis stehen. Eine
Zeitangabe hat überhaupt nur Meinung, wenn angegeben wird, im Verhältnis
zu welchem Koordinationssystem sie gilt, und besonders, ob dieses System selbst
in Ruhe oder in Bewegung ist.
Wenn man sagen wollte, daß hier bei dem einen oder dem
anderen Beobachter eine Illusion vorhanden sein müsse, wird von dem
Einsteinschen Standpunkt erwidert, daß jeder Beobachter hier sein Maßsystem
hat, das ebenso berechtigt ist wie das eines anderen Beobachters, daß es
aber sehr wohl dem einen Beobachter möglich ist, sich auf den Standpunkt
eines anderen zu setzen und von diesem aus die Zeit zu beurteilen
3
). -
1
)
Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie
l916.
2
) Brunos Lehre von der Relativität des Zeitbegriffes ruht
auf diesem Maßstab. Vgl. oben S. 58.
3
) Langevins in Bulletin de la Société Française
de Philosophie". 11. Okt. 1911. - Die Voraussetzung ist natürlich,
[67/68]
Die Tatsachen und Schlüsse, auf welchen die Einsteinsche
Theorie baut, sind noch in Untersuchung begriffen, und die Anschauungen stehen
scharf gegeneinander. In einen solchen Streit kann der Philosoph als solcher
nicht eingreifen, und die Philosophie hat dann auch Zeit zu warten. Ob die
Physik wirklich Situationen nachweisen kann, wo das, was für einen
Beobachter Gleichzeitigkeit ist, für einen anderen Succession ist, müssen
die Physiker untereinander entscheiden. Wenn es mit ja beantwortet werden muß,
stehen wir dem bedeutungsvollen Resultat gegenüber, daß die
Naturwissenschaft nun wieder, wie in den Tagen des Kopernikus, auf seinem
eigenen Wege die Notwendigkeit eingesehen hat, sich nicht nur an den Inhalt der
Wahrnehmungen zu halten, sondern auch die Voraussetzungen des wahrnehmenden
Subjekts in Betracht zu nehmen. In einer interessanten Diskussion in Aristotelian
Society" (1919) schärfte Whitehead die Bedeutung des ,[]percipient
event" ein
1
), und Nicholson erklärte, daß zu den Data, die von
entscheidender Bedeutung sind, muß auch the essential framwork of
our modes of perception" gerechnet werden.
Man hat gegen die Einsteinsche Hypothese, wie gegen frühere
Nachweisungen der erkenntnistheoretischen Bedeutung des Relationsbegriffs
2
), geltend gemacht, daß die Wahrheit doch in jedem
einzelnen Falle nur eine einzige sein könne, und daß es gegen den
Grundsatz des Widerspruchs streiten würde, wenn zwei Beobachter, von denen
der eine als gleichzeitig behauptet, was der andere als successiv behauptet,
beide recht haben sollten
3
). Man braucht aber gar nicht
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 67] daß der
Beobachter, der sich auf den Standpunkt des anderen setzen kann, hinlängliche
physische Kenntnisse hat.
1
) Vgl. auch Whitehead's
Principles of Natural Knowledge
(1919). S. 68. - Die Auffassung Whitehead's ist doch
darin von der Einsteinschen verschieden, daß The percipient event"
für ihn nur ein Faktor neben vielen anderen und nicht, wie bei Einstein, für
die Messung von Zeit und Raum entscheidend werden kann. Vgl. hierüber:
Haldane:
The Reign of Relativity
(1921). S. 69 f.; 107 ff.
2
) Vgl.
Der menschliche Gedanke.
S. 334.
3
) Kroman in Fysisk Tidsskrift". XIV. S. 15.
[68/69]
für die Einheit der Wahrheit zu fürchten, selbst wenn
Einstein recht haben sollte. Die eigentliche Wahrheit liegt nämlich dann in
der physischen Notwendigkeit, daß verschiedene Beobachter unter gewissen
Bedingungen zu verschiedenen Resultaten kommen. Jeder einzelne Beobachter faßt
die Zeit auf, wie er es in seiner Situation muß. Wenn ein Beobachter aber
zugleich Physiker ist, wird er (die Richtigkeit der Einsteinschen Theorie
vorausgesetzt) uns erklären können, warum ein anderer Beobachter eine
andere Auffassung als er hat. So stellten sich ja auch Newton und Leibniz der
Relativität der Bewegung gegenüber; die Objektivität war für
sie durch die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen bestimmt. (Vgl. oben
S. 60.) Natürlich beruht die physische Erklärung der
verschiedenen Zeitauffassungen verschiedener Beobachter selbst auf gewissen
Voraussetzungen; sie setzt ein Koordinatensystem voraus, von welchem aus die
Koordinatensysteme der verschiedenen Beobachter bestimmt werden, und hier ist Möglichkeit
für eine neue Diskussion. Wenn diese Diskussion nicht fortgesetzt werden
kann, wird der Grund sein, daß keine Standpunkte von mehr fundamentalem
Charakter nachgewiesen werden können. Kant hat längst behauptet, daß
alle Notwendigkeit hypothetisch ist. Aber darum ist sie doch Notwendigkeit -
oder richtiger, eben darum ist sie Notwendigkeit. Eine Notwendigkeit ohne
Voraussetzungen kennen wir nicht.
Wenn die neue Relativitätstheorie fortgesetzte Bestätigung
gewinnen wird, wird nicht nur ein an und für sich interessantes Resultat
physischer Forschung vorliegen. Diese Theorie enthält zugleich, wie
Einstein selbst hervorgehoben hat, einen Sporn zu fortgesetzter Forschung. Wenn
es sich so verhält, daß verschiedene Relationssysteme bei der
Auffassung eines Gegenstandes möglich sind, dann liegt eben hierin eine
Aufforderung dazu, alle diejenigen Relationen, die in jedem einzelnen Falle
zugrunde liegen, aufzusuchen, und die Forschung wird so immer weiter geführt,
während sie dogmatisch abschließen würde, wenn die
Voraussetzungen, mit denen man bisher gearbeitet hatte, als die einzig möglichen
betrachtet [69/70] wurden. Zwei erkenntnistheoretische Interessen sind an den
Relationsbegriff geknüpft: es wird über die Natur und die Bedingungen
unserer Erkenntnis Licht geworfen, und indem jeder Gedanke über sich selbst
hinaus weist, werden neue Aufgaben angewiesen, immer wieder ein plus ultra
behauptet. -,
In seiner Apologie für Galilei sagte Campanella, daß
man, wenn Galilei recht hätte, auf eine neue Weise philosophieren müßte.
Wenn aber Einstein recht hat, brauchen wir darum nicht auf eine neue Weise zu
philosophieren
1
). Schon rein philosophisch ist man, wie die vorhergehende
Darstellung gezeigt hat, seit lange auf den Relationsbegriff und auf seine
Bedeutung für Erkenntnis und Weltanschauung aufmerksam gewesen. Wenn aber
Einstein recht hat, liegt eine neue, unerwartete, bedeutungsvolle Erfahrung in
dieser Richtung vor.
Durch die Notwendigkeit, auf das Erkenntnissubjekt Rücksicht
zu nehmen, und durch die Möglichkeit eines Gegensatzes zwischen den jede für
sich notwendigen Auffassungen verschiedener Erkenntnissubjekte bietet die
Naturwissenschaft - bei Einstein wie bei Kopernikus - eine Analogie dar zu dem,
was auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft - wie wir gleich sehen werden -
besonders stark hervortritt.
1
) Einstein selbst ist hiermit einverstanden. In seiner Vorrede
zu Lucien Fabres Buch
Les théories d'Einstein'"
(1921) sagt er: Die Relativitätstheorie weder kann
noch will ein Weltsystem geben, sondern nur eine Begrenzung für die
Naturgesetze angeben." - Daß nicht nur von Grenze die Rede ist, haben
wir oben gesehen. [70/71]
A
ristoteles lehrte, wie wir schon erwähnt haben, daß
nur das Allgemeine, nicht das Individuelle als solches Gegenstand der
Wissenschaft sein konnte. Dies hängt mit dem logisch-schematischen
Charakter seiner Philosophie zusammen. Wissenschaft war für ihn, wie für
Platon, Unterordnung des Einzelnen und Individuellen unter Allgemeinbegriffen.
Nun aber war zugleich für Aristoteles alles Wirkliche einzeln und
individuell; es ist auf diesem Punkte, daß er in Gegensatz zu Platon
tritt. Die Schwierigkeit, die hier entsteht, und die von Zeller (Die Philosophie
der Griechen, II, 2) in glänzender Weise beleuchtet worden ist, kann nur
durch eine nähere Erörterung über den wissenschaftlichen Begriff
der Wirklichkeit überwunden werden, und eine solche wurde, wie wir gesehen
haben, von den antiken Akademikern und Skeptikern mit großer Energie
eingeleitet
1
). Schon hier kam der Gedanke auf, daß das
Wirklichkeitskriterium nur in dem festen Zusammenhang zwischen den Wahrnehmungen
bestehen kann. Wie die formalen Wissenschaften aus einem Streben, die Übereinstimmung
mit sich selbst zu bewahren, entstehen, so die realen Wissenschaften durch ein
Streben nach Übereinstimmung zwischen den für die Wahrnehmung
gegebenen Gegenständen. Und dieses Wirklichkeitskriterium muß
ebensowohl für das Individuelle, das Einmalige gelten,
1
) Eine andere Frage ist, wie die Schwierigkeit innerhalb der
aristotelischen Philosophie selbst geklärt werden konnte. Hans v. Arnim (
Die europäische Philosophie des Altertums.
Kultur der Gegenwart. I, 6. S. 172 f.) findet die Erklärung
darin, daß sowohl Arten als Individuen von Aristoteles als Wesen"
betrachtet werden. Hierdurch wird aber nur eine neue Frage hervorgerufen: wie
und warum die eine Art von Wesen" nicht wie die andere Gegenstand der
Wissenschaft sei. [71/72]
als für dasjenige, das sich immer wieder wiederholt, weil
es für ganze Reihen von individuellen Gegenständen gilt.
Ein Gegenstand wird als real erkannt, teils durch seinen
Zusammenhang mit anderen Gegenständen, über welche kein Zweifel sich
regt, teils durch den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Formen, in welchen
der Gegenstand selbst zu verschiedenen Zeiten auftritt, und zwischen den
verschiedenen Eigenschaften, die ihm zu einer gegebenen Zeit zukommen.
Geschichtsforschung geht auf beide Arten des Zusammenhangs aus.
Die Begebenheiten, Persönlichkeiten oder Institutionen, die ihre Gegenstände
sind, untersucht sie im Verhältnis zu den Umständen, unter welchen sie
vorliegen, und jeden einzelnen Gegenstand untersucht sie in Rücksicht auf
seinen inneren Zusammenhang. In beiden Rücksichten fängt sie mit
Kritik der Berichte an, aber diese Kritik legt schon das genannte
Wirklichkeitskriterium zugrunde. Nachher wird es Aufgabe, das Band, das den
Gegenstand mit anderen Gegenständen verbindet, und das Band, das die
verschiedenen Seiten und Stadien des Gegenstandes verknüpft, zu finden.
Der Gegenstand der Wissenschaft ist weder das Allgemeine noch
das Individuelle an und für sich, sondern die Wirklichkeit, die nur durch
die Verknüpfung der Gegenstände miteinander und der Elemente des
einzelnen Gegenstandes verstanden werden kann
1
). Was durch Anwendung des Relationsbegriffes nicht verstanden
werden kann, kann überhaupt nicht verstanden werden.
Geschichtsphilosophen haben in der neuesten Zeit drei Begriffe
als für historische Forschung besonders charakteristisch hervorgehoben
2
), und diese drei Begriffe drücken eben Relationen zwischen
einem Gegenstande, seinen Bedingungen und seinen Wirkungen aus.
Historisches Zentrum ist die Begebenheit, die Persönlichkeit
oder die Institution, deren Ursprung, Bestehen und Entwicklung der Historiker
untersuchen will. Um dieses Zentrum sammelt er alles, was zu seiner Beleuchtung
dienen kann,
1
)
Der Totalitätsbegriff.
S. 95-107.
2
)
Der Totalitätsbegriff.
S. 117-119. [72/73]
ohne Rücksicht auf dasjenige, das es weder fördert
noch hemmt. Ein Korrelat zu diesem Begriffe ist der Begriff der historischen
Schwelle, die die Grenze von dem markiert, was in der Untersuchung behandelt
wird. Historische Größe bezeichnet eine solche Beschaffenheit einer
Begebenheit, einer Persönlichkeit oder einer Institution, daß sich in
ihr Kräfte äußern, die in der Richtung einer Lösung
bedeutungsvoller sozialer Aufgaben wirken.
Nun steht in der Geschichte wie in der Natur ein Kampf ums
Dasein. Der Historiker steht Begebenheiten und Persönlichkeiten in der
menschlichen Welt gegenüber, wie der Biologe Pflanzen und Tieren in ihrem
Kampfe ums Dasein gegenübersteht. In beiden Fällen gilt es, die kämpfenden
Parteien jede für sich, was ihre Natur und ihre Lebensbedingungen betrifft,
zu verstehen, und dadurch zu verstehen, wie ein Kampf zwischen ihnen entstehen
kann oder muß. Der Biologe als solcher hält es mit keiner der
organischen Formen, selbst wenn sein intellektuelles Interesse die eine oder die
andere Form zum Zentrum seiner Untersuchung gemacht hat, oder selbst wenn er
eine gewisse Sympathie für gewisse Lebensformen hat (wie es z. B.
Darwin freute, wenn er meinte Funktionen der Pflanzen zu finden, die ihnen eine
höhere Lebensstufe anweisen könnten als die gewöhnlich
angenommene). Es gilt für den Biologen nur, die Notwendigkeit des Kampfes
unter den gegebenen Verhältnissen zu verstehen. Auch der Historiker als
solcher ergreift keine Partei, sondern er untersucht die Verhältnisse, die
sich bei jeder der kämpfenden Parteien geltend machen, um zu verstehen, wie
sich bei jeder von ihnen Interessen, Gedanken und Gefühle in einem
bestimmten Grade und in einer bestimmten Richtung entfalten mußten, bis
der Zusammenstoß unumgänglich wurde. Jede Nation, sagt William James
in einem seiner Briefe, hat ihre Ideale, die für andere Nationen ein totes
Geheimnis sind, und unter deren Einfluß sie sich in ihrer eigentümlichen
Weise entwickeln muß. Wenn dies so ist, wird es die Aufgabe des
Historikers zu verstehen, wie sich diese Ideale entwickelt haben, und wie sie
die nationale Entwicklung bestimmt haben. Dadurch [73/74] wird es möglich,
die Spannung und den Kampf der Nationen zu verstehen. Es ist von Leopold Ranke
gesagt worden, daß, wenn er in seiner geschichtlichen Forschung
einseitigem Parteiergreifen entgangen ist, war es nicht, weil er allen kämpfenden
Parteien gegenüber neutral, im Sinne von Gleichgültigkeit, war,
sondern weil er universell war und sich in das Leben, das sich bei jeder Partei
rührte, einfühlen und seiner Entfaltung folgen konnte. Die
geschichtliche Universalität ist mit der künstlerischen Universalität
verwandt, die Shakespeare befähigte, jede seiner Gestalten sich nach ihren
eigenen inneren Gesetzen entfalten zu lassen; seine Unparteilichkeit Personen
und Schicksalen gegenüber hatte nicht ihren Ursprung in Gleichgültigkeit
und Ferne, sondern eben in Ergriffenheit durch das Leben, wie es sich in
verschiedenen Menschen rühren und sie zu Konflikten, die vielleicht
tragisch werden, führen kann.
Der Historiker (und der Dichter) steht prinzipiell, wie der
Physiker steht, wenn er gewisse Verhältnisse konstatiert, unter welchen,
was für einen Beobachter gleichzeitig, für einen anderen sukzessiv
ist.
Historische Wertung ist noch nicht eigentlich ethische Wertung.
Sie betrifft die Bedeutung einer Begebenheit, einer Persönlichkeit oder
einer Institution für die fortgesetzte faktische Entwicklung, fällt
aber nicht ihre Urteile von einem ethischen Gesichtspunkte. Mit großer
Feinheit und Energie hat Heinrich Rickert in seinem Werke Grenzen der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" diese Unterschiede zwischen
Geschichte und Ethik nachgewiesen. Und von historischer Seite ist es energisch
ausgesprochen worden, daß geschichtliche Forschung bis in die Stelle, wo
Handlungen und Bestrebungen ihre Quelle haben, nicht eindringen kann: Das
tiefste Geheimnis einer Seele zu finden, damit deren sittlichen Wert, das will
sagen, den ganzen Wert der Person richtend zu bestimmen, hat die historische
Forschung keine Methode und keine Kompetenz". (Droysen: Geschichte
Alexanders des Großen. S. 251.)
Wenn nun gleichwohl der ethische Wertstandpunkt sich [74/75]
unwillkürlich in dem Historiker hervordrängt, indem er seiner
Darstellung die letzte Abrundung zu geben versucht, dann wird er den
prinzipiellen Schwierigkeiten gegenüberstehen, die sich bei jedem Versuche,
ethische Urteile zu begründen, also in jeder Ethik darbieten.
Auf diesem Punkt tritt eine neue Klasse von Kategorien auf, die
mit keiner der schon erwähnten Klassen - den fundamentalen, den formalen
und den realen - zusammenfällt: die Wertbegriffe oder die idealen
Kategorien. Der Relationsbegriff macht sich hier gleich geltend, indem Wert nur
an Wert gemessen werden kann. Alles Wollen ist ein Vorziehen, und die Qualität
jedes Gefühls ist durch das Verhältnis zu anderen Gefühlen
bestimmt; es kommt daher bei jeder Wertung darauf an, was vorher oder
gleichzeitig als wertvoll steht. Zuletzt wird alle Wertung in den einzelnen Fällen
auf dem Verhältnisse zu einem Grundwerte beruhen. Wie ein Ort nur durch
sein Verhältnis zu anderen Orten, eine Zeit nur durch sein [ihr] Verhältnis
zu andern Zeiten, eine Wirklichkeit nur durch sein [ihr] Verhältnis zu
anderen Wirklichkeiten bestimmt werden kann, so setzt jede Wertbestimmung
voraus, daß gewisse andere Werte bereits feststehen. Der Grundwert
entspricht dem Körper oder dem Koordinatensystem, nach welchem wir uns im
Raume orientieren, - der Begebenheit, im Verhältnis zu welcher wir
anderen Begebenheiten ihre Zeit bestimmen -, der Wirklichkeit, die im
einzelnen Falle entscheidet, was hier für uns Wirklichkeit sein soll. Und
untersucht man näher die verschiedenen möglichen Grundwerte, die sich
in menschlichen Wertungen geltend machen, wird man finden, daß jeder ein
Ganzes voraussetzt, dessen Bestehen und Entwicklung der Zweck wird und dadurch
die Wertung bestimmt. Ein solches Ganzes kann die wertende Persönlichkeit
selbst sein, oder eine Gemeinschaft (Familie, Stand, Staat, Kirche), oder ein
Inbegriff von Bestrebungen (Kunst, Wissenschaft usw.) sein. Eine Wertung wird
zuletzt durch das Verhältnis einer Handlung zu den Bedingungen für das
Bestehen und die Entwicklung eines solchen Ganzen bestimmt sein. Nur wenn ein in
der Erfahrung gegebenes Ganzes, dessen Existenz- und [75/76]
Entwicklungsbedingungen untersucht werden können, vorliegt, ist eine
rationale Wertung, also eine wissenschaftliche Ethik möglich
1
). Ethischer Idealismus arbeitet sich oft selbst entgegen, indem
er über alle Relationen hinausstrebt. An den einzelnen Stellen, wo Platon die
Idee des Guten" erwähnt, wird sie ausdrücklich (wie alle anderen
Ideen) über die Welt der Relationen hinausgehoben. Er behauptet zwar
(besonders in Gorgias" und Filebos") einen Zusammenhang
zwischen dem Wertvollen und bestimmten Maßverhältnissen, nämlich
Proportionalität (geometrische Gleichheit") oder Harmonie
zwischen Fülle und Begrenzung. Aber solche Maßverhältnisse
schweben in der Luft, wenn sie nicht aus den Lebensbedingungen einer gewissen
bestimmten Totalität abgeleitet werden - und hier schwingt Platon zwischen
einer individuellen und einer sozialen Totalität.
Der Begriff Norm betrifft die Mittel, durch welche ein
vorausgesetztes Ganzes bestehen und entwickelt werden kann. Das vorausgesetzte
Ganze steht dann mehr oder minder bestimmt als Zweck, indem ihr Wert ein
Grundwert ist. Die Begriffe Wert, Zweck, Norm liegen in derselben Reihe, und in
einer rationalen Ethik müssen sie in dieser bestimmten Ordnung liegen.
Keine Ethik kann sich dem Zusammenhange zwischen diesen drei Begriffen
entziehen. Oft verdeckt man das erste Glied der Reihe und hält sich an die
Begriffe Zweck oder Norm, als wäre sie primär. Wir begegnen hier
wieder dem fehlenden Bewußtsein von der Stellung des einen Zirkelbeins,
das so oft zur Verkennung des Relationsbegriffs führt. Man betrachtet dann
die Stellung des zweiten Zirkelbeins als absolut gegeben, als selbsteinleuchtend
oder objektiv". Dies tritt z. B. hervor bei Ethikern, die sich
einen objektiven" Standpunkt dadurch gesichert zu haben glauben, daß
sie von der Gemeinschaft" ausgehen (ohne nur einmal zu sagen, welche
Gemeinschaft sie meinen). Oder man legt, wie Kant, den Begriff der Norm
zugrunde. Kant, der in seiner Erkenntnistheorie darüber klar ist, daß
jede Notwendigkeit
1
) Vgl.
Der menschliche Gedanke.
S. 260-264; 380-384. -
Der Totalitätsbegriff.
Kap. 5. [76/77]
hypothetisch ist, behauptet doch eine ethische Notwendigkeit
(einen kategorischen Imperativ), die auf keiner Voraussetzung beruhen soll, und
in verschiedenen Formen haben [sind] spätere Ethiker ihm hier gefolgt. -
Wenn ein ethisches System kritisiert wird, wird die Kritik - von einer
Untersuchung der formalen Konsequenz des Systems abgesehen - wesentlich zu
zeigen versuchen, daß das System einen Grundwert, der nicht selbst in die
Untersuchung hineingezogen wird, voraussetzt. Die Kritik wird das verdeckte
Zirkelbein suchen. Selbst derjenige, der eine Umwertung aller Werte"
proklamiert, muß einen oder den anderen Wert voraussetzen, im Verhältnis
zu welchem er die Umwertung vollzieht.
Der Grundwert wird zuletzt bestimmt durch den
Selbstbehauptungsdrang des einzelnen Individuums (so weit es als isoliertes
gedacht werden kann) oder der größeren oder kleineren Gemeinschaft,
mit welcher das Individuum sich solidarisch fühlt, so daß ihr Wohl
und Wehe und damit ihr Zweck auch für das Individuum und seine Aufgaben
bestimmt werden. Es kann sich doch auch ein Streben rühren, einen einzelnen
Augenblick oder eine einzelne Seite des Lebens zu einem Ganzen für sich zu
machen. Vom einzelnen Augenblicke bis zu der Menschheit der Jetztzeit und der
Zukunft gibt es eine Reihe von möglichen Grundlagen ethischer Systeme, und
zum Teil sind diese, wie die Geschichte der ethischen Ideen zeigt, auch benutzt
worden.
Der vergleichende Ethiker hat (wie auf ihren Gebieten der
Physiker und der Historiker) die Aufgabe, verschiedene Auffassungen, die durch
verschiedene Grundlagen (Grundwerte) möglich werden, und die in ernsten
Streit miteinander kommen können, zu verstehen. Dadurch wird die Tatsache
verständlich, daß dieselbe Handlung, Persönlichkeit oder
Institution widerstreitenden ethischen Beurteilungen begegnen kann. Auf dem
Grunde des gesetzmäßigen Zusammenhanges, der auf psychologischem und
historischem Wege in der geistigen Welt nachgewiesen werden kann, suchen wir
eine Erklärung davon, daß andere Menschen anders urteilen als wir
selbst und also andere Werte, Zwecke und Normen haben. [77/78]
Und nicht nur der vergleichende Ethiker braucht ein solches
Verständnis. Für jeden ethischen Standpunkt ist es doch die Aufgabe,
auf Menschen so einzuwirken, daß sie die Werte, Zwecke und Normen, die er
zugrunde legt, kennen und anerkennen. Und man muß dann damit anfangen, die
Menschen da, wo sie faktisch stehen, zu nehmen, sich in ihre Voraussetzungen
einzuleben, um sie dazu zu führen, neue Voraussetzungen anzunehmen. Die
sokratische Ironie ist, von einer wesentlichen Seite betrachtet
1
), ein Mittel dazu, daß die Menschen sich öffnen,
sich kundgeben, damit es entdeckt werden kann, wie Hilfe, Erziehung und
Zusammenwirken möglich werden können. Nur eine analytische Methode
kann von einem Standpunkte zu einem anderen führen, wenn solches überhaupt
möglich ist. Es ist freilich leichter, mit Konstruktion der rechten"
Ethik anzufangen und dann den Menschen selbst es überlassen, wie sie mit
ihr zurechtkommen. Aber jeder Wert und jede Wertung hat, kraft des
Relationsbegriffes, ihre bestimmten psychologischen Voraussetzungen, und es gilt
vor allen Dingen zu entdecken, welche sie sind, und ob gemeinsame Wertung möglich
sei. Nur gemeinsamer Grundwert macht gemeinsame Wertung möglich.
Oft hat Verkennung des Verhältnisses zwischen dem
Grundwerte eines Ethikers und seinen Lehrsätzen zu ungerechten Urteilen über
ethische Denker geführt. So hat man gemeint, daß das große
Gewicht, das Adam Smith, Helvetius und Bentham auf den Erwerbstrieb und den Glückseligkeitsdrang
gelegt haben, seine Ursache darin hätte, daß sie ausschließlich
von individuellen oder egoistischen Interessen aufgenommen wären, und daß
ihr Grundwert auf dem Gebiete solcher Interessen läge. Eine genauere
Untersuchung führt dagegen (vgl. die betreffenden Abschnitte in meiner Geschichte
der neueren Philosophie") zu der Einsicht, daß die genannten Denker
alle von universeller Sympathie und von bewußter Rücksicht auf das
Wohl der menschlichen Gemeinschaft ausgehen. Ihre Auffassung ist, daß die
Gemein-
1
)
Humor als Lebensgefühl.
S. 70. [78/79]
schaft am besten gedeihen wird, wenn jeder einzelne bei seinen
Erfahrungen von dem, was ihm nützt, ausgeht, und daß keine außer
oder über ihm stehende Autorität dies besser als er selbst wissen
kann, wenn seine Augen nur aufgeschlossen werden. Durch die freie Arbeit und
durch die Wechselwirkung der selbständig strebenden Individuen wird nach
den genannten Denkern der Grundwert, auf dem sie bauen, am besten zu seinem
Recht kommen.
Der einzelne Ethiker muß sich bewußt sein, daß
der Grundwert, der sein System trägt, selbst Gegenstand der Prüfung
werden kann. Wenn sein System einen wunden Punkt hat, wird er zuletzt hier
liegen, selbst wenn das System mit möglichst großer Konsequenz
entwickelt und auf möglichst vielen Erfahrungen gestützt ist. Und wenn
er hinlänglich kritisch ist, wird er Henry Sidgwick darin recht geben, daß
es - wenigstens auf gewissen Entwicklungsstufen - gut sein kann, daß sich
in einer Gemeinschaft verschiedene, vielleicht einander widersprechende ethische
Auffassungen geltend machen, obgleich er natürlich nur seiner eigenen
Auffassung folgen kann
1
). Auch auf dem ethischen Gebiete kann sich die Wahrheit nur
durch Streit hervorarbeiten. Die Psychologie und die Geschichte haben dafür
zu sorgen, daß ein unterirdisches Verständnis hinter dem brennenden
Streite möglich wird. Die ganze Auffassung der Stellung der Ethik, die hier
und im folgenden im Zusammenhang mit dem Relationsbegriff entwickelt wird, habe
ich seit 1887 in verschiedenen Schriften behauptet, und sie hat immer mehr
Festigkeit für mich gewonnen, besonders mittels der Kritik, der sie von
verschiedenen Seiten aus begegnet hat [ist].
Das Ausformen und die Durchführung ethischer Normen, das
heißt die Bestimmung der untergeordneten Zwecke, die durch den Hauptzweck
bedingt sind, und in welchen die aus dem Grundwerte abgeleiteten untergeordneten
Werte ihren
1) Methods of Ethics
2
. S. 450. [79/80]
Ausdruck finden, ist nur möglich in Wechselwirkung mit den
gegebenen geschichtlichen Bedingungen. Weder die wertvollen
Charaktereigenschaften (Tugenden"), noch die sozialen Ordnungen, die
vom Grundwerte zu seiner vollen Realisierung erfordert sind, können im
voraus konstruiert worden; sie können nicht eingeführt"
werden, wie man früher eine Religion oder eine Verfassung einführen"
zu können glaubte. Jedenfalls werden die geschichtlichen Bedingungen zu
verschiedener Zeit und an verschiedenen Orten den individuellen
Charaktereigenschaften und den sozialen Ordnungen wesentliche Eigentümlichkeiten
geben, die aus den aus dem Grundwerte folgenden allgemeinen Normen allein nicht
abgeleitet werden können. Schon eine kurze Übersicht über die
Geschichte der Tugenden wie die von mir (Ethik X, 4) versuchte zeigt dies. Was
soziale Ordnungen betrifft, geht dies aus der Geschichte der Ehe (Ethik XV) und
aus der Geschichte der sozialen Frage (Ethik XXV) hervor. Die alten
Lederflaschen können nicht gleich durch neue ersetzt werden. Die
Spezialisierung der ethischen Normen muß auf die geschichtlichen
Bedingungen, unter welchen sie durchgeführt werden soll, gegründet
werden. Abstraktionen und vage Träume sind nicht genug. Vorläufig soll
die Richtung der Charakterentwicklung und der Gemeinschaftsordnung durch den
Grundwert bestimmt werden. Nur die Erfahrung kann ein vollständiges
Programm möglich machen. Es verhält sich mit ethischen Normen wie mit
dem Kausalbegriffe in der Erkenntnistheorie, der auch nicht an und für sich
eine Lösung spezieller Fragen gibt, sondern nur ein Fragen und ein Suchen
motiviert, das auf verschiedenen Stadien der Entwicklung der Wissenschaft einen
verschiedenen Charakter erhält.
Hier sind tragische Konflikte möglich, indem Menschen, die
von einem Grundwerte beseelt sind, oft keinen Blick für geschichtliche Verhältnisse
haben, während umgekehrt Menschen, die auf dem Grunde der geschichtlichen
Wirklichkeit fest stehen, den Blick für neue Werte mangeln können. In
unserer Zeit besteht mehr als je ein Kampf zwischen sozialen Idealen und
sozialen Wirklichkeiten. Bertrand Russell, [80/81] dem das soziale Ideal in dem
Kommunismus gegeben ist, findet, daß der Preis, der durch Anwendung
bolschewistischer Methoden von der Menschheit zu bezahlen ist, allzu hoch ist
und sogar den Wert, den die Durchführung des Kommunismus an und für
sich haben würde, aufheben würde. Eine Hauptursache hierzu findet er
darin, daß im Bolschewismus der Haß gegen das Alte eine größere
Rolle spielt als die Hoffnung von dem Neuen; und auch diese psychologischen
Momente sind geschichtlich bedingt
1
). Als Gegenstück hierzu finden wir in Europa mehr als
genug den Haß gegen das Neue, und die Hoffnung, trotz allem das Alte
erhalten zu können, repräsentiert. Von beiden Gegensätzen gilt
es, daß sie nichts gelernt und nichts vergessen haben. Wenn derjenige, der
von einem Ideal erfüllt ist, zugleich intellektuelle Redlichkeit besitzt,
will er um des Ideals selbst willen alle Verhältnisse, unter welchen es
wirken soll, und alle Weisen, auf welche dieses Wirken in menschliche Verhältnisse
eingreifen muß, untersuchen.
Nun entstehen aber die Grundwerte und die Normen selbst unter
ganz bestimmten geschichtlichen Bedingungen. Es hat niemals Ideale gegeben, die
ohne Einfluß von geschichtlichen Wirklichkeiten entstanden und ausgeformt
wurden. Platon's ethischer Idealismus bildete sich nicht in seinem Geiste ohne
Einfluß des griechischen Geisteslebens, und seine Ethik hat, trotz allem
Gegensatze zu der Sitte seines Volkes und den Vorstellungen seiner Mitwelt, ein
entschieden griechisches Gepräge. Das Christentum hatte in seiner ursprünglichen
Form ein entschieden orientalisches Gepräge und setzt jüdische
Tradition und persische Vorstellungen voraus. Kant's Ethik hat eine lange und
bedeutungsvolle Entwicklungsgeschichte. Wenn ich hier auch von mir selbst reden
darf, habe ich ausdrücklich hervorgehoben, daß die Voraussetzungen,
aus welchen ich meine Darstellung der Ethik gegeben habe, einer geschichtlichen
Entwicklung
1
)
The Practice and Theory of Bolschevism.
(1920.) S. 146 bis 178. [81/82]
zu verdanken sind und nicht zu allen Zeiten gegeben waren. Wenn
Westermarck
1
) sagt, daß, wenn das Wort Ethik" als Name
einer Wissenschaft gebraucht werden soll, kann ihre Aufgabe nur sein, das
moralische Bewußtsein als ein Faktum zu studieren, fühle ich mich
durch diese Bemerkung, die unter anderem auch gegen mich gerichtet ist, nicht
getroffen, denn ich habe immer eine geschichtlich-psychologische Entwicklung des
moralischen Bewußtseins angenommen und behauptet, daß jede Ethik
einer gewissen Form und einer gewissen Stufe dieser Entwicklung entsprechen muß.
(Vgl. meine Ethik III, 13.) Dies beraubt ethische Ideen nicht ihrer Bedeutung.
Man kann ja doch nach den Sternen steuern, obgleich sie eine Geschichte haben.
Und dann geht das ethische Segeln auf den irdischen Meeren vor sich und wird
daher nicht nur durch die Sterne, sondern auch durch Wind und Woge bedingt.
Die Aufgabe muß immer sein, das geschichtlich Gegebene in
der Richtung der idealen Normen zu entwickeln. Zugleich muß man sich aber
davon ausdrücklich überzeugen, ob diese Normen nun auch mit Recht
aufgestellt sind - ob sie wirklich Ausdrücke von Werterfahrungen sind. Wenn
aus dem einen oder dem anderen Grunde der Grundwert bezweifelt wird, wird es
eine geschichtlich-psychologische Frage, ob der Übergang zu einem neuen
Grundwert möglich ist. Auch hier gibt es die Möglichkeit ernster
Krisen und tragischer Katastrophen.
Außer den psychologischen Relationen, die die Anerkennung
eines Grundwertes und den aus diesen folgenden Normen betreffen, und der
historischen Relationen, die die Möglichkeit der Durchführung dieser
Normen unter gegebenen Bedingungen betreffen, wird in jeder tiefer gehenden
ethischen Diskussion noch eine dritte Art von Relationen hervortreten, indem die
Frage wird, ob das einzelne, bestimmte Individuum die Möglichkeit hat, den
Normen nachzufolgen. Wenn ethische Forderungen nicht in der Luft schweben
sollen, müssen sie so ge-
1
)
Origin and Development of Moral Ideals.
I. S. 18. [82/83]
stellt werden, daß auf das Vermögen und den Drang des
einzelnen Individuums Rücksicht genommen wird. Nur dann wird an diesem Orte
der sittlichen Welt ein Streben in der Richtung der Forderung ausgelöst
werden können. Daher kann das gleiche nicht mechanisch von jedem verlangt
werden. Von demjenigen, der eines großen oder aufopfernden Wirkens befähigt
ist, wird mehr verlangt als von demjenigen, der wegen inneren Zwiespalts oder
wegen geistiger Ohnmacht nur eben vermag sich über Wasser zu halten. Nur so
wird wirklich die gleiche ethische Arbeit von allen gefordert, denn ethische
Arbeit ist ein Ausdruck der Energie, mit welcher innerer und äußerer
Widerstand überwunden wird, und wenn dieser Widerstand in verschiedenen
Individuen verschieden ist, kann die wirklich geleistete Arbeit nur durch das
Verhältnis zu diesem Widerstande gemessen werden. Was vom einzelnen
gefordert wird, kann dann bald über, bald unter den durchschnittlichen
Forderungen, die durch ein allgemeines Gesetz bestimmt werden, liegen. Jeder
wird, wie Schillers Tell sagt, besteuert nach Vermögen.
In einer Abhandlung über das Relationsgesetz in der Ethik
(International Journal of Ethics. 1890) habe ich die Individualisierung
ethischer Normen, die eine ebenso notwendige als schwierige Konsequenz des
Relationsbegriffs ist, behandelt. Sie baut auf dem Prinzip, daß das Gesetz
um des Menschen willen da ist, der Mensch nicht um des Gesetzes willen. Die
Arbeit, die der einzelne tun muß, um ethische Forderungen zu erfüllen
- die Tugenden und Pflichten, die von ihm verlangt werden -, sollen selbst
Mittel für eine persönliche Entwicklung sein, und dies setzt voraus,
daß sein Vermögen und sein Drang bei den Forderungen, die ihm
gestellt werden, mitbestimmend sind.
Die meisten ethischen Theorien haben die Bedeutung dieser
individuellen Relation verkannt. Und doch macht sie sich immer wieder geltend.
In der Theologie liegt sie dem Begriff der Gnade, in dem Rechtsleben dem Begriff
der Begnadigung zugrunde. Diese Begriffe sind nämlich unethisch, wenn sie
nicht durch die Rücksicht auf die individuellen Bedingungen begründet
werden. In der Philosophie hat man [83/84] den analogen Begriff Billigkeit
aufgestellt; er wird als Gegensatz zu abstrakter Gerechtigkeit aufgefaßt,
drückt aber, wenn er überhaupt ein ethischer Begriff ist, eben die höchste
Gerechtigkeit aus, in welcher auch auf individuelle Momente Rücksicht
genommen werden muß. In der Individualisierung der Strafvollstreckung, die
für die neueste Zeit charakteristisch ist, liegt auch diese Betrachtung
zugrunde. Wozu ein Verbrecher verurteilt wird, ist ja eben die bestimmte Art und
Weise der Strafvollstreckung, die auf ihn angewandt wird.
Eine wichtige Konsequenz folgt für soziale Ethik aus der
Bedeutung der individuellen Relationen. Es muß eine notwendige Aufgabe
sein, allen Mitgliedern der Gemeinschaft solche Entwicklungsmöglichkeiten
zu verschaffen, daß die Wahl der Arbeit frei werden kann. Solange dies
nicht erreicht ist, bleibt die wirkliche ethische Forderung unerfüllt. Um
diesen Punkt wird der soziale Kampf sich mehr und mehr bewegen.
Obgleich Kant, wie wir oben gesehen haben, in dem
Relationsprinzip ein Grundgesetz alles Denkens sah, wollte er es doch in der
Ethik nicht anerkennen. Das ethische Gesetz soll nach ihm in keiner Rücksicht
und in keinem Grade aus der Erfahrung hervorgegangen sein; psychologische und
geschichtliche Relationen sollen für es nicht gelten. Und es soll von allen
das gleiche fordern, welche individuelle Voraussetzungen sie denn auch haben mögen.
Aber daher steht auch nach Kant das ethische Gesetz als ein unerklärliches
Wunder der arbeitenden, denkenden und strebenden Menschheit gegenüber, die
immer bestimmten Bedingungen unterworfen ist. Dies spricht Kant offen aus. Wie
reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle
menschliche Vernunft gänzlich unvermögend, und alle Mühe und
Arbeit, hiervon Erklärung zu suchen, ist verloren." (Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten
3
, S. 125.) Wie ein Gesetz für sich und
unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne (welches doch das
Wesentliche aller Moralität ist), das ist [84/85] ein für die
menschliche Vernunft unauflösliches Problem." (Kritik der praktischen
Vernunft
4
, S. 128.) Kant räumt zwar ein, daß das Gesetz
nur dadurch in uns wirken kann, daß es ein Gefühl der Erhabenheit des
Gesetzes selbst erweckt, aber dieses Gefühl erklärt er dann
psychologisch unerklärbar.
Aus diesem in psychologischer, historischer und individueller Rücksicht
relationslosen Charakter der Kant'schen Ethik folgt nun wieder, daß wir
nach ihr im Grunde keine eigentlichen ethischen Urteile fällen können.
Wenn wir keine Möglichkeit haben, das Verhältnis zwischen Norm, Motiv
und Handlung zu verstehen, haben wir kein Recht, irgend eine vorliegende
menschliche Handlung gut oder böse zu nennen. Diese Konsequenz zog Kant
schon in der ersten Ausgabe von Kritik der reinen Vernunft" (S. 551)
- doch nur in einer Note unter dem Texte: Die eigentliche Moralität
der Handlungen bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich
verborgen."
1
) Dies ist eine richtige Konsequenz, wenn der Relationsbegriff
nicht in der Ethik angewandt werden kann. Anders stellt sich die Sache, wenn
ethische Normen als Ausdrücke von Bestrebungen, die eben durch die
notwendigen Relationen, die sich bei allem Denken und Handeln geltend machen, zu
vollkommener Form entwickelt werden können. Eben der Relationsbegriff eröffnet
uns hier große Möglichkeiten. Er fordert daß wir das eine
Zirkelbein an einer bestimmten Stelle in der wirklichen Welt (in einem
psychologischen Faktum, in einem geschichtlich Gegebenen, in einer individuellen
Möglichkeit) setzen und dann prüfen, wie weit hinaus das andere
Zirkelbein geführt werden kann. Können wir das andere Bein nicht
gleich da setzen, wo wir wünschen, können wir es doch vielleicht allmählich
weiter hinaus führen. Vielleicht muß auch das erste Bein anderswo
gesetzt werden. Es gilt, in der Ethik wie in der Physik bestimmte points de repère
zu haben.
Wie der Raum und die Zeit Ideen" (in Kant'scher Be-
1
) Vielleicht ist die oben (S. 14.) zitierte, in derselben
Richtung gehende Äußerung von Droysen zum Teil dem Einflusse des
Gedankengangs Kants zu verdanken. [85/86]
deutung) sind, und wie Erfahrung (Wirklichkeit) eine Idee"
ist, so ist auch das ethisch Gute eine Idee", die ihre reale
Bedeutung hat, nicht dadurch, daß alle Relationen ausgeschlossen werden,
sondern dadurch, daß die Relationen zum Aufstellen spezieller Aufgaben und
zur Beurteilung der Versuche, sie zu lösen, gebraucht werden.
Kant und Droysen hatten doch nicht ganz unrecht, wenn sie erklärten,
daß die eigentliche Moralität der Handlungen nicht entdeckt und begründet
werden kann. Denn wir können niemals sicher sein, daß wir alle
Relationen in Betracht genommen haben. Es ist zuletzt unmöglich, die
Forderung, die eben kraft des Relationsbegriffs gestellt werden muß, nämlich
Einsicht in das Verhältnis zwischen den inneren und den äußeren
Bedingungen der Handlung und in die Größe der ethischen Arbeit, die
der einzelne geübt hat oder üben kann, zu gewinnen. Alle ethischen
Urteile sind daher unvollkommen und gelten höchstens annäherungsweise.
Auch die Annahme Kant's einer für alle Menschen geltenden
Norm wird immer behauptet werden können. Den ndas [Denn das]
Relationsprinzip ist im Grunde mit dem Persönlichkeitsprinzip eins, das heißt
mit dem Prinzip, daß jeder Mensch immer als Zweck, nimmer nur als Mittel
behandelt werden soll. Dies wird dadurch getan, daß die Forderungen an den
einzelnen nicht nur sozial motiviert werden, sondern auch nach dem Vermögen
und dem Drange des einzelnen individualisiert werden, so daß seine Persönlichkeit
durch die Arbeit, die er im Dienste der Norm ausführt, entwickelt werden
kann.
Zwei der bedeutungsvollsten ethischen Gedanken Kant's[,] kommen
so erst durch Anwendung des Relationsbegriffes zu ihrem vollen Recht.
Auch das religiöse Problem, wie man sich auch ihm gegenüber
auch stellt, bietet mehrseitige Anwendung des Relationsbegriffes dar. In allen
seinen Formen beruht dieses Problem auf dem Gegensatze zwischen dem Wertvollen
auf der einen Seite, dem Wertlosen oder Werthemmenden auf der anderen [86/87]
Seite, - kürzer ausgedrückt zwischen Wert und Wirklichkeit. Die
Wirklichkeit zeigt ja sowohl Wert als das Entgegengesetzte. Der Gegensatz, der
hier vorliegt, braucht nach meiner Auffassung kein Dualismus zu sein, wie man
gemeint hat
1
); er kann aber zu einer Katastrophe steigen, einer Tragödie
des Lebens, deren Möglichkeit keine Lebensanschauung ausschließen
kann, ebensowenig wie man die Möglichkeit eines Erdbebens ausschließen
kann. Und selbst wenn man eben im Tragischen, in dem Leiden, das zur Grenze des
Menschlichen führt, die wahre Natur des Daseins finden wollte, so würde
eben dadurch die Bedeutung der Gegensätze für die Lebensauffassung
bestätigt werden. Das Tragische setzt Relation in schärfstem Verstande
voraus, ohne das Festhalten des Wertvollen auszuschließen. Der tragische
Held behauptet den Adel der Menschheit in der größten Katastrophe.
Auch von den großen Katastrophen abgesehen, zeigt sich das Verhältnis
zwischen Wert und Wirklichkeit als das Problem, auf welchem die Religion in
allen ihren Formen beruht. In allen Formen der Religion ist die Hauptfrage, was
das Siegende in der Welt sei, das Gute oder das Böse. Innerhalb seiner großen
Fülle bietet zwar die Wirklichkeit Entwicklungsmöglichkeiten in
verschiedenen Richtungen, aber auch Kräfte, die dem menschlich Wertvollen
mehr oder minder energisch feindlich sind. Durch diesen Gegensatz ist die Frage
bedingt, die die Religion in der einen oder der anderen Form zu beantworten
versucht. Durch diesen Gegensatz wird das religiöse Bewußtsein dazu
geführt, zwei Abschlußbegriffe, Gott und Welt, zu bilden, und alles
religiöse Denken ist ein Grübeln über das Verhältnis
zwischen diesen beiden Begriffen. In Askese und in Mystik sucht man zwar, bald
mehr auf praktischen, bald mehr auf spekulativem Wege, über alle Relationen
hinaus zu gelangen, oder doch (wie wir. oben S. 42 gesehen haben) das eine
Zirkelbein zum Verschwinden zu bringen; die Relation drängt sich doch immer
wieder hervor und stellt das Problem aufs neue.
1
) La Harpe:
La Religion comme conservation de la valeur, dans ses
rapports avec la philosophie générale de Harald Höffding.
(1920.) S. 93 ff. [87/88]
Der Drang des Lebens störte den Asketen, und die Welt der
Wirklichkeit drängt sich, mit ihrer Mannigfaltigkeit und ihrer Unruhe, in
die Zelle des Mystikers hinein. Man entdeckt zuletzt die Stellung des einen
Zirkelbeins, wäre es auch gut verdeckt.
Die Frage ist, ob das Wertvolle in der Welt (der wertvolle Teil
der Wirklichkeit) ein fremder Gast sei, der hier nicht zu Hause sei, oder ob es
nicht eben eine Entschleierung der innersten Natur des Daseins sein sollte. Die
einzig mögliche rationale Antwort (die ich im fünften Kapitel des Totalitätsbegriffs"
zu geben versucht habe) muß von der genauen Verbindung zwischen den
Begriffen Totalität und Wert ausgehen. Alles, dem Wert beigelegt wird, ist
Ausdruck oder Bedingung für das Bestehen und Entwicklung eines gewissen
Ganzen, und das Wertvolle entsteht nach denselben Gesetzen, die Totalitätsbildungen
(z. B. Organismen, Persönlichkeiten, Gemeinschaften) möglich
machen. (Vgl. oben S. 75 f.) Wenn nun aber Totalität gegen
Totalität steht, oder wenn chaotische Elemente Totalitätsbildung unmöglich
machen, dann liegen eben die Erfahrungen vor, die zu dem Unterschied zwischen
Wert und Wirklichkeit führen.
Wenn die monot[h]eistischen Religionen Gott als den Ursprung
aller Wirklichkeit betrachten, tritt das Problem des Bösen und des Übels
mit besonderer Schärfe hervor. Außer dem Urheber aller Wirklichkeit
kann das Böse (und das Übel) seinen Ursprung nicht haben: kühne
und tiefsinnige Spekulation, wie die Jacob Böhme's, hat dann die Konsequenz
gezogen, daß es in Gott selbst ein dunkler Grund sein müsse, aus
welchem das Werthemmende in der Welt entstanden sei. Es werden dann in Gott
innere Relationen statt der äußeren Relationen, an denen die
Erfahrung haltmacht, gesetzt. Mehr verwickelt wird noch das Verhältnis,
wenn es, wie schon Böhme erkannte, eine Bedingung der Entwicklung des Guten
sein kann, daß das Böse seinen Widerstand übt und dadurch Kräfte
auslöst, die sonst brach lägen. Eine Betrachtung dieser Art führte
Goethe (Aus meinem Leben, IV) zur Aufstellung des Begriffes von dem Dämonischen
in der [88/89] Welt und zur Anwendung des Mottos: Nemo centra deum nisi deus
ipse
1
).
Religiöser Glaube ist eine Hoffnung oder eine Überzeugung
davon, daß wertvolle Totalitätsbildungen im Dasein (in dem Dasein,
das die Erfahrung uns zeigt, oder in einem anderen) stets möglich sein
werden. Dies ist die Meinung mit dem Satze, daß Religion Glaube an das
Bestehen des Wertes ist. Aber wie Totalitäten entstehen und vergehen, so
auch Werte. Das religiöse Bewußtsein kommt daher im Laufe seiner
Entwicklung zu der Einsicht, daß, was besteht, nicht das sinnliche oder
empirisch Wertvolle sein kann, ja, daß es zuletzt unmöglich ist,
einen Begriff oder ein Bild von dem, was bestehen wird, zu geben. Diese Einsicht
wird nicht ohne starken Widerstand gewonnen, und sie fordert eine tiefe
Resignation. Sie wird leicht durch die Bildersprache der Religion verschleiert.
Der Begriff Gott selbst enthält eine Wertung; der Gott
eines Menschen ist, was er am höchsten schätzt. In dem Ausdruck göttlich"
tritt dies deutlich hervor; er ist eine Wertung. Schon Platon spricht von dem,
das Gott göttlich macht"; es ist dies, daß Gott immer in den großen
Ideen lebt, deren Menschen nur von Zeit zu Zeit teilhaft werden können
(Fajdros 249C). Plotinos geht einen Schritt weiter, indem er sagt, daß,
was Gott göttlich macht, selbst die höchste Gottheit sein muß
(Ennead. V, 1, 2). Die Fortsetzung dieses Gedankenganges würde alle
Theologie zu einer Wertlehre machen.
Der Ausdruck Bestehen des Wertes" sagt nichts darüber
aus, wieviel Wert es in der Welt gibt, oder worin er besteht. Auf diesen zwei
Punkten liegen die Verschiedenheiten zwischen den verschiedenen Religionen oder
religiösen Standpunkten, auf welche einzugehen hier nicht der Ort ist; dies
muß der Religionsgeschichte und der Religionspsychologie überlassen
werden. Hier war es für die Relationstheorie nur die Aufgabe, zu zeigen, daß
der Relationsbegriff sich unwillkürlich in allem religiösen Denken,
dem elementarsten wie dem spekulativsten, geltend macht. Die Fragen, mit welchen
religiöses Denken
1
) Vgl.
Religionsphilosophie
. § 88-89. [89/90]
sich beschäftigt, sind: das Verhältnis zwischen Wert
und Wirklichkeit und das Verhältnis zwischen ewigen und vergänglichen
Werten. Während der geschichtlichen Entwicklung der Religionen entstehen
immer neue Relationen, die oft die zugrunde liegenden Relationen zurückdrängen.
So das Verhältnis zwischen dem eigentlichen Kern einer Religion und der
Ausformung in Kultus und Dogma. In seinem Eifer um Garantien für das
Bestehen des Wertes hat das religiöse Bewußtsein die Tendenz, den
Gegenstand des Glaubens zu vervielfachen, so daß ein Dogma als Stütze
eines anderen gebraucht wird.
Eine besonders wichtige Relation ist die zwischen Religion und
Moral. Das Bewußtsein kann vom Bestehen des Wertes und von den Dogmen,
durch welche dieses Bestehen vermeintlich garantiert wird, so aufgenommen sein,
daß dadurch Energie von der Arbeit, Werte zu entdecken und
hervorzubringen, oder die schon vorhandenen Werte zu behaupten, weggezogen wird.
Man kann auf der Grenze des Willens so lange verweilen, daß man nicht dazu
kommt, auf den Gebieten, wo die Menschen nicht auf die Götter zu warten bedürfen,
zu arbeiten. Und zuletzt drängt sich von einem ethischen Gesichtspunkte die
Betrachtung hervor, daß Wert doch nicht vom Bestehen abhängig ist. Es
kann in Werten und für Werte gelebt werden, obgleich keine Gewißheit
von ihrem Bestehen gewonnen werden kann. Das Göttliche ist nicht von der
Zeit abhängig. Was wir als schön und gut schätzen, kann seinen
Wert behaupten, welches Schicksal ihm auch beschieden sei. [90/91]
M
acht die Durchführung des Relationsbegriffes eine
abgerundete, ob zwar nicht abgeschlossene Auffassung des Daseins möglich?
Wird eine Totalauffassung sich hier nicht unmöglich zeigen dem Chaos von
Gesichtspunkten gegenüber, die jeder für sich Berücksichtigung
fordern? - Solchen Fragen gegenüber sind verschiedene Betrachtungen
anzustellen.
a) Keine Orientierung ist möglich, ohne daß ein
bestimmter Standpunkt vorausgesetzt wird. Aber jeder Standpunkt kann wieder in
die Diskussion hineingezogen werden, weil er in bestimmter Relation steht und
auf bestimmten Voraussetzungen beruht. Es besteht immer eine Tendenz, dies zu übersehen.
Sowohl der gesunde Menschenverstand, als die religiösen Weltanschauungen,
und allzu oft auch naturwissenschaftliche und philosophische Systeme gehen davon
aus, daß Standpunkte gewonnen werden können, deren Begründung
nicht wieder gefordert werden könne, und deren Berechtigung nicht
diskutiert werden könne. Was die Grundlage der Weltanschauung sei, solle
selbst nicht bedingt sein. Jede Weltanschauung hat ihr Urphänomen, um den
Ausdruck Goethes zu gebrauchen, und Goethe behauptete ausdrücklich, daß
ein Urphänomen nicht erklärt werden könne, sondern als ein
absolut Letztes zu betrachten sei. Aber wohin man sich auch flüchtet, wird
sich der Relationsbegriff geltend machen, und die Unruhe, die von dem
arbeitenden Gedanken untrennlich ist, wird entstehen können. Die Idyllen
des Gedankens sind immer der Auflösung ausgesetzt und können nur vorläufige
Ruhestellen sein. In neuerer Zeit wird man sich denn auch mehr und mehr darüber
klar, daß eine rationelle Erklärung aller Teile und Seiten des
Daseins aus einem einzigen Urphänomen [91/92] unmöglich ist. Aber man
behauptet dann oft, daß hier zuletzt eine Wahl zwischen zwei Möglichkeiten,
zwischen einem mathematisch-mechanischen und einem psychologisch-qualitativen
Urphänomen, getroffen werden müsse. Die Naturwissenschaft nähert
sich immer mehr dem mathematischen Ideal einer Welt der Identitäten oder
der Substitutionen, wo Zeit- und Qualitätsunterschiede keine Rolle spielen,
während die Geisteswissenschaft (oder, wie einige sie lieber nennen wollen,
die Kulturwissenschaft) die Realität von Qualitätsverschiedenheiten
und Entwicklungsstadien, die auf Identitäten nicht zurückgeführt
werden können, behaupten. Zwischen diesen zwei Typen sollte die Wahl zu
treffen sein. Aber die Notwendigkeit einer solchen Wahl würde voraussetzen,
daß ein Entweder-Oder vorläge, und daß keine anderen
Daseinstypen als die zwei augedeuteten [angedeuteten], möglich seien. Der
Umstand, daß Identität, Qualität und Temporalität nicht
aufeinander oder auf eine gemeinsame Einheit reduziert werden können,
berechtigt nicht dazu, ein Entweder-Oder zu behaupten. Eins ist Irreduktibilität,
ein anderes ist Abwesenheit aller anderen Möglichkeiten. Der Behauptung
eines Entweder-Oder gegenüber zeigt sich hier die Bedeutung der
tiefsinnigen Lehre Spinozas von den unendlich vielen Attributen des Daseins, von
welchen unsere Erfahrung nur zwei kundgebe, - eben jene zwei Typen, zwischen
denen gewählt werden sollte. In weit höherem Grade, als er sich dessen
bewußt ist, weist Spinoza hier auf die Begrenzung unserer Erkenntnis hin.
Wenn Spinoza trotz der Mannigfaltigkeit, von Gesichtspunkten, deren Möglichkeit
und Berechtigung er anerkannte, doch eine Einheitslehre behauptete, war es, weil
auch er sein Urphänomen hatte, das, davon war er überzeugt, von keinem
der vielen Gesichtspunkte verneint werden könnte. Er hielt sich an die
Tatsache, daß Wissenschaft, möglich ist, - daß rationales Verständnis
der Welt in einem gewissen Umfange möglich ist. Es war diese Tatsache, die
er als eine absolute Realität projizierte und die Substanz der Welt nannte.
Und sie ist ja jedenfalls eine Grundlage, die es uns möglich macht, die
verschiedenen Gesichtspunkte (nament-[92/93]lich auch in bezug auf die Frage, ob
sie kontradiktorisch oder nur konträr verschieden sind) zu erörtern.
Die Grenzen selbst, denen menschliche Erkenntnis immer unterliegt, können
nur durch wissenschaftliches Denken bestimmt werden. Und hier zeigt es sich, wie
mehrmals bemerkt, daß der Relationsbegriff sowohl eine Grenze als ein
Sporn ist. Wo wir keine bestimmten Relationen finden können, haben wir auch
keine Erkenntnis. Aber damit braucht das Suchen nicht aufzuhören; wir
wissen ja, was uns fehlt: neue Stellungen für unsere Zirkelbeine. Und so
enden wir in einer Fragestellung.
Man hat nun sogar gemeint, daß die Durchführung des
Relationsbegriffs jede Wahrheit unmöglich machen würde.
Bergson hat zwischen relativer und begrenzter Erkenntnis
unterschieden; jene entstelle die Natur ihres Gegenstandes, diese lasse ihn
unberührt, indem sie nur einen Teil von ihm ergreife
1
). Aber mit den Relationen fallen auch die Probleme weg; es können
weder bestimmte Fragen gestellt, noch bestimmte Antworten gegeben werden.
Konsequent weist daher Bergson auf ein unmittelbares Schauen, eine Intuition
hin, als den einzigen Weg, auf welchem die Wahrheit erreicht und das innerste
Wesen des Daseins gegeben werden könne. In der näheren Durchführung
macht er aber doch von Analogieschlüssen
2
) und damit auch von Relationen Gebrauch; Analogie ist ja ein Ähnlichkeitsverhältnis.
Die Relation drängt sich also hervor, eben als man glaubt, sie
ausgeschlossen zu haben. - Die wichtigste Einwendung gegen die Philosophie
Bergson's ist von einem philosophischen Gesichtspunkte nicht diejenige, die
Henri Poincaré in dem Satze: le monde Bergsonien n'a pas des lois!
ausgedrückt hat, sondern die: daß diese Philosophie keine Probleme
anerkennt, sondern eine Verherrlichung des problemlosen Zustandes ist.
Das Leben des menschlichen Denkens äußert sich in den
Relationen, die hervorgezogen und bestimmt werden können. Jede solche
Bestimmung ist ein Sieg über ein Chaos. In einer
1
)
Bulletin
de la société française de Philosophie.
VIII. S. 341.
2
) Vgl.
La philosophie de Henri Bergson.
(Trad. du Danois.) § 29. [93/94]
chaotischen Verschiedenheitsreihe sind keine bestimmte
Relationen nachweisbar; es gibt absolute Umtauschbarkeit. Daß Hervorziehen
und Bestimmen von Relationen die wesentliche Eigenschaft des Denkens ist, folgt,
wie mehrmals bemerkt, daraus, daß Relation das Korrelat von Synthese ist.
Die Einheit und die Energie des Gedankens, des Bewußtseins äußert
sich in den Relationen, die die einzelnen Gegenstände in ihrer Eigentümlichkeit
hervortreten lassen. Ein Zusammenfassen, durch welches keine Relationen gesetzt
werden, ist ein Widerspruch. Selbst in Träumen herrscht das Gesetz der
Relation, so sehr sie sich auch einem Chaos nähern können.
Es ist auch nicht an und für sich eine Unvollkommenheit
unserer Erkenntnis, daß sie zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen
Orten je nach den verschiedenen Ausgangspunkten zu verschiedenen Resultaten führt.
Dadurch wird nur ein neues Problem, eine neue Aufgabe gestellt, die Möglichkeit
der verschiedenen Ausgangspunkte und damit der verschiedenen Resultate zu erklären.
Wir haben gesehen, wie der Physiker und der Historiker die Möglichkeit
verschiedener Standpunkte und Auffassungen eingesehen haben. Es ist dies eine
Aufgabe, die zwar nicht immer gelöst werden kann, die sich aber doch
notwendig darbietet, weil die Wahrheit sowohl sich selbst als die Unwahrheit
erklären können muß; dies gehört zu vollkommener Wahrheit.
Platon hat schon dies gesehen, wenn er (Staat, X, S. 602 C bis 603 A)
zeigt, daß, wenn verschiedene Beobachter dasselbe Ding in betreff der Größe
und der Figur verschieden auffassen, kann man durch Zählen und Messen zu
einer Auffassung kommen, aus welcher die verschiedenen individuellen
Auffassungen erklärt werden können. Galilei ist durch diesen Gedanken
bei der Grundlegung seiner Bewegungslehre inspiriert gewesen. Er kam aber in
Verlegenheit durch die Bilder, die ihm sein unvollkommenes Teleskop von der
Erscheinung, die wir jetzt den Ring des Saturns nennen, zeigte. Die Erscheinung
trat bald als Kanten oder Ecken am Planeten selbst, bald als zwei verschiedene
Nebenplaneten auf. Zuletzt gab Galilei alles Forschen hierüber auf. Später
sah Huy-[94/95]ghuens mit seinem verbesserten Teleskop deutlich, daß
Saturn von einem Ringe umgeben war, und zeigte, wie frühere Auffassungen
von dieser Auffassung aus erklärt werden konnten
1
). Es ist auf allen Gebieten der Triumph des Gedankens, wenn
eine vollkommene" Erkenntnis gewonnen werden kann, von welcher aus
die unvollkommenen" Auffassungen erklärt werden können.
Wenn Spinoza lehrt (Ethik II, 36. Dem.), daß unsere unvollkommenen"
Vorstellungen mit gleicher Notwendigkeit wie die vollkommenen"
Vorstellungen entstehen, ist es eben, weil diese Notwendigkeit mit Hilfe der vollkommenen"
Vorstellung eingesehen wird. Dies ist die Bedeutung des berühmten Satzes
des Spinoza: veritas est norma sui et falsi (Ethik II, 43. Schol.). -
Der Gedanke stellt also seine Grenzprobleme kraft seines eigenen
Gesetzes, und kraft dieses Gesetzes vermag er seine eigenen Irrungen zu erklären.
b) Aber das Zählen und Messen, auf welches Platon hinwies,
und von welchem Galilei prinzipiellen Gebrauch machte, ist ja menschlicher
Geisteswirksamkeit zu verdanken, und welches Recht haben wir dann dazu, ihren
Resultaten Gültigkeit beizulegen? Wir wollen ja doch die Welt, wie sie ist,
verstehen, nicht nur, wie sie sich für menschliche Berechnung darstellt.
Schon oben (S. 52 ff.) ist einer solche Betrachtung
gegenüber eingeschärft, daß der Relationsbegriff nicht nur
zwischen Gegenständen, sondern auch zwischen dem erkennenden Subjekt und
den Gegenständen Anwendung hat, - oder richtiger, daß das erkennende
Subjekt selbst ein Gegenstand ist. Auch the percipient event", um
Whitehead's Ausdruck zu gebrauchen, gehört zu den Begebenheiten in der
Welt. Wir haben kein Recht, im voraus einen absoluten Gegensatz zwischen Subjekt
und Objekt zu behaupten. Selbst wenn man bestrebt ist, alle Wissenschaften in
formale Wissenschaft zu verwandeln, und alles, was sich nicht in diese Form
bringen kann, zu den Anthropomorphismen" rechnet, sind diese
1
) Hoefer:
Histoire de l'Astronomie.
S. 445-447. [95/96]
Anthropomorphismen nun einmal ein Faktum, das auch
wissenschaftliche Untersuchung fordert.
Jenen Fragen liegt eigentlich die populäre und dogmatische
Definition der Wahrheit als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zugrunde.
Dieser statische Wahrheitsbegriff ist, wie oft bewiesen, widersprechend. Die
Wirklichkeit steht nicht ganz fertig da, so daß wir nur hingehen könnten,
um sie zu betrachten. Sie entsteht nur für uns durch strenge geistige
Arbeit im Beobachten und Denken. Die Geschichte dieser Arbeit ist die Geschichte
der Wahrheit. Es dient zur Charakteristik des Daseins, daß es sich auf
einer gewissen Stufe der Entwicklung der menschlichen Erkenntnis in einer
bestimmten Weise hervortreten mußte. Wir brauchen uns nur z. B. in
alle Voraussetzungen des mittelalterlichen Glaubens an Antipoden hineinzudenken,
um zu verstehen, welche Wahrheit auf diesem Standpunkte als notwendig stehen mußte.
Was für Menschen auf einer gegebenen Stufe wirklich ist, beruht darauf, wie
weit die geistige Arbeit auf diese Stufe gekommen ist. Später kann dann
diese Wirklichkeit als ein unvollkommener Anlauf stehen. Die Ewigkeit der
Wahrheit beruht auf der Kontinuität der geistigen Arbeit.
Dies ist kein geistesaristokratischer Gedankengang. Eben der
Relationsbegriff führt nur zu der Einsicht, daß in jedem ehrlichen
Streben nach Klarheit Wahrheit enthalten ist. Wir schaffen nicht selbst die
Voraussetzungen, aus welchen wir denken; wir werden uns ihrer nicht einmal voll
bewußt. Es ist hier eine Analogie zwischen dem intellektuellen und dem
ethischen Leben (vgl. oben S. 74 ff.). In der Notwendigkeit, mit
welcher die unvollkommenen" Vorstellungen auftreten, ist die ewige
Wahrheit selbst zugegen. Und oft ist es sogar eine Bedingung eines Fortschritts
in Wahrheitserkenntnis gewesen, daß die (wie es sich später erwies)
falschen Vorstellungen ernst genommen wurden. Wie William Hamilton gesagt hat:
eine lebendige Unwahrheit ist besser als eine tote Wahrheit.
Über dem beständigen Streben, auf welches der
dynamische, Wahrheitsbegriff hinweist, hinaus kommen wir nicht. Unser
Ge-[96/97]danke kann nicht über seinen eigenen Schatten springen. Unsere
letzte Grundlage ist das arbeitende Gedankenleben selbst in dem beständigen
Entdecken und Bestimmen der Relationen.
Bacon und Comte behaupteten, daß der Mensch durch die
Welt, nicht die Welt durch den Menschen erklärt werden soll. Aber hier ist
kein Dilemma. Wie wir gesehen haben, haben wir niemals ein absolutes Subjekt
einem absoluten Objekt gegenüber, sondern immer ein objektiv bestimmtes
Subjekt (S
O
) einem subjektiv bestimmten Objekte (O
S
) gegenüber, und beide fordern eingehende Charakteristik.
Und wenn sie verglichen werden, dann wird ja diese Vergleichung von einem
Subjekt unternommen, so daß das Problem immer aufs neue sich stellt. Wer
den Menschen durch die Welt erklären will, darf nicht vergessen, daß
die Welt nur durch menschliches Forschen erkannt wird, und daß eine
Untersuchung des Verhältnisses zwischen Welt und Mensch von einem
menschlichen Denker angestellt wird.
c) Wenn wir glauben, daß das Dasein mehr umfassend ist,
als was von unseren Gedanken in irgendeiner Zeit oder in irgendeiner Form
umspannt werden kann, ist dies dadurch begründet, daß wir immer
wieder erfahren, wie neue Relationen und dadurch neue Fragen auftauchen. Daher
haben wir, wie oben hervorgehoben, kein Recht, zu glauben, daß das Dasein
durch die zwei Urphänomene oder Attribute, die kurz als Geist und Materie
bezeichnet werden können, erschöpfend bestimmt sei. Es ist das
Neckende im Relationsbegriffe, daß er uns immer wieder ein Loch in unseren
Systemen anzeigt. Selbst wenn wir die schönsten Totalitäten in unseren
Gedanken geformt haben, wird die Frage auftauchen, in welcher Relation zu
anderen Elementen des Daseins eine solche Totalität steht.
Die Untersuchung des Totalitätsbegriffs in seiner Bedeutung
für die Weltanschauung endet, wie ich anderwärts (Der Totalitätsbegriff,
Kap. 6) zu zeigen versucht habe, in zwei Problemen: einer Frage um die Möglichkeit,
etwas über das Dasein im allgemeinen auszusagen, und einer Frage um die
Stellung des Wertvollen innerhalb einer solchen Totalität, also in einem
kosmologischen und in einem religiösen Problem. [97/98] Wenn strenge und
bestimmte Forderungen an Begründung gestellt werden, können diese
Probleme nur auf dem Wege der Analogie gelöst werden. Hiervon zeugt auch
eine kritische Untersuchung kosmologischer und religiöser Probleme. (Vgl.
den erkenntnistheoretischen Teil meiner Religionsphilosophie.) Für den
Philosophen werden solche Analogien am nächsten liegen, die von dem
arbeitenden Gedanken- und Willenleben, dessen Geschichte für uns die
Geschichte des Wahren und des Guten ist, geholt sind. Es ist einem mystischen
Drange zu verdanken, wenn Spinoza den Gedankenzusammenhang, der ihm das Urphänomen
war, als eine ruhende Substanz projizierte. Unsere letzten Analogien müssen
sich auf unsere bedeutungsvollsten Erfahrungen stützen, und die haben
Arbeit, Streben und Kampf zum Inhalt, dem beständigen Zweikampfe zwischen
unseren fundamentalsten Kategorien, Synthese und Relation, entsprechend. Ohne
Gegensätze und ohne ein Streben, sie zu überwinden, kann das Dasein
philosophisch nicht gedacht werden. Am stärksten macht sich praktisch der
Gegensatz zwischen dem Wertvollen und dem Werthemmenden geltend. Obgleich keine
begründete Gewißheit davon gewonnen werden kann, daß alle
Gegensätze und Hemmungen je harmonisiert werden, dann kann doch das
arbeitende Gedanken- und Willenleben ein poetischer und symbolischer Ausdruck
von der Überzeugung sein, daß die Arbeit, in welcher wir stehen, kein
isolierter Zug in der Wirklichkeit sei; dazu hängen Relation und Kampf mit
der Relation allzu genau mit der Erkenntnis des Daseins, die wir überhaupt
gewinnen können, zusammen.
d) Nur in der ruhenden Form des Bildes können wir für
eine Weile über die beständige Unruhe, die durch den Relationsbegriff
charakteristisch für jeden wachen Gedanken ist, gelangen. Zur Welt der
Bilder nimmt dann auch seine Zuflucht, wer Ruhe und Frieden sucht. Ein berühmter
dänischer Theolog hat gesagt, daß wir ohne den Gebrauch der Bilder
ins Leere geraten würden, indem wir uns dann an einige arme Begriffe halten
müßten, die kein Licht geben könnten. Ja, der Philosoph hat nur
seine armen Begriffe, an die er sich halten muß. [98/99] Wenn sich aber
diese Begriffe bei beständig erneutem Nachdenken in der Natur des
Gedankenlebens und der Erfahrung gegründet zeigen, dann kann es berechtigt
sein zu glauben, daß der Puls des Daseins in den besten und klarsten
Gedanken, die Menschen ausformen können, pocht und vielleicht nicht am schwächsten
da pocht, wo neue Fragen kraft des Relationsbegriffes gestellt werden. Der
Philosoph behält sich sein Urteil vor über die Analogien, die im
einzelnen Falle dem Bilde zugrunde liegen. Ebensowenig wie irgendein Gedanke
wird irgendein Bild, das unabschließbare Dasein, in dem wir Glieder sind,
ausdrücken können. In der Tatsache, daß jedes Gleichnis hinkt,
meldet sich der Relationsbegriff immer wieder.
In Obstfelder's Das Tagebuch eines Predigers" ist auf
tiefsinnige und stimmungsvolle Weise der Kampf zwischen Gedanke und Bild
geschildert, wie er oft in einem strebenden Gemüt geführt wird. Der
Dichter ist - wie auch der Philosoph es sein kann - darüber klar, daß
das Höchste tiefer in uns wohnt, als wir selbst hineindringen können".
Er ist aber durch diese Überzeugung nicht befriedigt. Er will es sich gegenübergestellt
haben, sich dem gegenüberstellen, was in uns ist -, du dazu
sagen können", ein Bild davon haben. Wenn es ihm geglückt wäre,
dieses Ziel zu erreichen, würde er gewiß die Erfahrung gemacht haben,
daß kein Bild hinlänglich ist, sondern ein beständiger Drang
nach neuen Bildern sich regt, ebenso wie der Forscher immer neue Relationen
entdeckt, durch welche seine bisher ausgeformten Begriffe gesprengt werden.
Die Welt der Poesie steht allen, auch dem Philosophen offen. Der
Philosoph kann aber kein einmal für alle erschaffenes Bild anerkennen. Und
er wird darüber klar sein, daß, wenn er in die Welt der Poesie hinübergegangen
ist, schweigen die Gedanken, wie für den anakreontischen Dichter die
Sorgen schweigen", wenn er seinen Becher greift. Es wird immer neue Arbeit
erfordert, sowohl mit Bildern als mit Gedanken, damit das Leben zu seinem Recht
kommen kann. Vielleicht ist, was ein ägyptischer Weiser ein
strebendes Gemüt, dessen Worte alle verborgen sind", nannte, die
innerlichste und höchse [höchste] Form des geistigen Lebens.
Zurück zur Startseite.