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Der Relationsbegriff




Eine erkenntnistheoretische Untersuchung





Von



Harald Höffding














Leipzig



O. R. Reisland



1922




[unpag. I/II]















Alle Rechte vorbehalten.





















Altenburg


Pierersche Hofbuchdruckerei


Stephan Geibel & Co.


[unpag. II/III]


Inhalt.



Seite
1. Die Geschichte des Relationsbegriffs1
2. Der Relationsbegriff in der Psychologie14
3. Der Relationsbegriff in der Erkenntnistheorie23
a) Der Relationsbegriff und die anderen Fundamentalkategorien23
b) Der Relationsbegriff und die formalen Kategorien30
a ) Reine Qualitätsreihen30
b ) Identität und Relation36
g ) Die Relationen der Negation und der Rationalität39
c) Der Relationsbegriff und die realen Kategorien41
a ) Kausalität, Realität und Relation41
b ) Die Relationen der Totalität und der Entwicklung50
d) Die Relation Subjekt-Objekt52
a ) Einleitung52
b ) Kopernikanismus57
g ) Philosophische Gesichtspunkte61
d ) Die neue Relativitätstheorie65
4. Der Relationsbegriff in der Ethik71
a) Geschichtsforschung und Relationsbegriff71
b) Die Ethik und die psychologischen Relationen74
c) Die Ethik und die historischen Relationen79
d) Die Ethik und die individuellen Relationen82
e) Kants Ethik und der Relationsbegriff84
f) Religionsphilosophie und der Relationsbegriff85
5. Der Relationsbegriff in der Kosmologie91

[unpag. III/IV] [IV leer, unpag. IV/1]


I.


Die Geschichte des Relationsbegriffs.



D iese Abhandlung ist, wie eine frühere Abhandlung „Der Totalitätsbegriff" (deutsche Übersetzung 1917), ein Versuch, einen einzelnen Punkt in meinem Buche „Der menschliche Gedanke" (deutsche Übersetzung 1911), näher zu entwickeln. In diesem Buche war es mein Bestreben gewesen, eine Darstellung der Hauptformen, in denen menschliches Denken arbeitet, und im Zusammenhang damit die Hauptprobleme, mit welchen es arbeitet, zu geben. Der Zusammenhang zwischen Gedankenformen und Gedankenproblemen zeigt sich am deutlichsten darin, daß die Gedankenformen allen Fragen zugrunde liegen, Fragen, die, wenn sie in scharfer und bestimmter Form gestellt sind, Probleme werden.

Nachdem das Interesse für Erkenntnistheorie am Schlusse des vorigen Jahrhunderts wieder erweckt war, wurden die ersten Grundsätze der menschlichen Erkenntnis besonders diskutiert. Man untersuchte die Möglichkeit, sie zu begründen oder abzuleiten, und die Möglichkeit ihrer vollständigen Durchführung auf allen Gebieten. Aber solche Grundsätze enthalten gewisse Grundbegriffe, die mehr oder minder unwillkürlich teils von dem gesunden Menschenverstande (sens commun), dem vorwissenschaftlichen Denken, teils von dem wissenschaftlichen Denken, wie dieses sich in der Geschichte der Wissenschaft kundgibt, angewandt werden. Sowohl in den Fragen, die vom Denken gestellt werden, als in den Antworten, die es anerkennt, geben sich gewisse Formen kund, die von der Kategorienlehre, der deskriptiven Erkenntnistheorie, hervorgezogen und geordnet werden sollen. Die zwei Hauptquellen der Kategorienlehre sind die psychologische Analyse des „gesunden Menschenverstandes" und das historische Studium der Entwicklung der Wissenschaft auf ihren ver-[1/2]schiedenen Stadien. Diese Quellen stehen in beständiger Wechselwirkung miteinander, indem die Wissenschaft sich aus dem unwillkürlichen Denken des gesunden Menschenverstandes sukzessiv entwickelt, besonders wenn ein Zweifel sich kundgibt, und indem anderseits der Gedankengang und die Resultate der Wissenschaft, langsam, aber fortwährend, auf die Form und den Inhalt des gemeinen Verstandes Einfluß üben, so daß der gesunde Menschenverstand nicht zu allen Zeiten der gleiche ist.

Während die frühere Abhandlung den Totalitätsbegriff und die mit ihm zusammenhängenden Gedankentendenzen behandelte, soll die hier vorliegende Abhandlung den Relationsbegriff und die mit ihm zusammenhängenden Prinzipien der Forschung zu beleuchten versuchen. Die zwei Begriffe zeigen gegenseitig aufeinander hin. Auf zwei verschiedenen Wegen gibt sich der Totalitätsbegriff kund. Alle Erkenntnis besteht in Zusammenfassen, in einem unwillkürlichen Streben, Ganzen zu bilden, wo solche nicht unmittelbar gegeben sind. Aber das unmittelbar Gegebene, die vorliegenden Gegenstände (Erlebnisse) können als Ganzes hervortreten (und bei näherer Untersuchung wird dies gewiß immer so sein) und können nur verstanden werden mittels Analyse des Zusammenhanges zwischen ihren Elementen und zwischen ihnen und andern Ganzen und Elementen. Das menschliche Erkennen bildet Totalitäten, wo solche nicht unmittelbar gegeben sind, und löst sie auf, wo sie unmittelbar vorliegen. In beiden Fällen offenbart sich der Zusammenhang zwischen dem Totalitätsbegriffe und dem Relationsbegriffe. Totalitäten können nur dadurch gebildet werden, daß Gegenstände in bestimmte Verhältnisse zu einander gebracht werden, und gegebene Totalitäten können nur durch Aufweisung der für ihr Bestehen entscheidenden inneren und äußeren Relationen verstanden werden. Relation ist daher auf allen Gebieten eine wesentliche Gedankenform. Denken ist bestimmte Verhältnisse zu finden, einen Gegenstand in Relation zu einem anderen zu setzen. Die allgemeinsten Relationen sind Kontinuität und Diskontinuität, Ähnlichkeit und Verschiedenheit; ich [2/3] nenne sie fundamentale Kategorien. Sie nehmen in den formalen Kategorien (Identität, Analogie, Negation, Rationalität), in den realen Kategorien (Kausalität, Totalität, Entwicklung) und in den idealen Kategorien (den Wertbegriffen) speziellere Formen an. Die nähere Darlegung hiervon ist in „Der menschliche Gedanke" gegeben.

Im folgenden wird der Relationsbegriff durch Untersuchung der Art, in welcher er sich in der Aufstellung und der Behandlung der philosophischen Hauptprobleme kundgibt, beleuchtet werden. In „Philosophische Probleme" (deutsche Übersetzung 1903) und in „Der menschliche Gedanke" (S. 269-278) habe ich behauptet, daß es vier solche Probleme gibt: das psychologische, das erkenntnistheoretische, das ethische und das metaphysische (oder, wie es ich lieber nenne: das kosmologische), und ich habe die Analogien zwischen ihnen hervorgehoben. -



Ein Überblick über die Geschichte der Kategorienlehre (siehe „Der menschliche Gedanke" S. 147-168) zeigt eine entschiedene Tendenz dazu, den Relationsbegriff in erste Linie zu stellen. Aristoteles, der erste, der eine Kategorienlehre aufgestellt hat, faßt freilich die Relation ( p r o V t i ) nur als eine unter zehn Kategorien auf, aber eine nähere Untersuchung zeigt, daß die meisten (im Grunde alle) anderen aristotelischen Kategorien besondere Arten von Relation ausdrücken. Als Beispiele der Relation nennt Aristoteles selbst: Gleichheit und Ungleichheit der Größe, Ursache und Wirkung, Erkanntes und Erkenntnis. Aber in späterem griechischen Denken spielte die Relation eine ganz entscheidende Rolle. (Hier bedarf die in „Der menschliche Gedanke" gegebene Übersicht einer wichtigen Supplierung.) Charakteristisch für dieses spätere griechische Denken, ehe die Mystik ihren Einfluß geltend machte, war die kritisch-skeptische Richtung. Platon steht, trotz seines spekulativen Strebens, als der Vorgänger dieser Richtung da, teils durch die Einwendungen, die er in „Parmenides" gegen die Ideenlehre darstellt, teils in dem Gewichte, das in späteren Dialogen darauf gelegt wird, daß [3/4] die Erkenntnis im Urteilen, also in Bestimmung der gegenseitigen Relationen der Begriffe, Ausdruck findet  1 ). Während aber Platon trotzdem doch immer davon überzeugt war, daß die Wahrheit gefunden ist und in einer Welt ewiger Ideen hervortritt, kam die spätere akademische Schule zu dem Resultat, daß die Wahrheit nicht nur nicht gefunden war, sondern daß sie auch nicht gefunden werden konnte; was man finden konnte, war nur Wahrscheinlichkeit. Der bedeutendste Mann dieser Schule ist Karneades (2. Jahrh. v. Chr.), der mit Recht der mächtigste Geist in Griechenland in diesen Jahrhunderten genannt worden ist. Von entscheidender Bedeutung für den Relationsbegriff war es, daß er die Frage entwarf, worin eigentlich unser Kriterium der Wahrheit und der Wirklichkeit bestehe. Den Stoikern gegenüber, die sich dadurch beruhigten, daß es Vorstellungen gäbe, in welchen die Wahrheit ganz unmittelbar ergriffen werden könnte ( j a n t a s i a i k a t a l h p t i k a i 2 ), behauptet er, daß, weil mehrere einander widersprechende Vorstellungen mit diesem Gepräge auftreten können, man zu keiner einzelnen Vorstellung Zuversicht haben könne. Die Gültigkeit einer Vorstellung könne nur auf ihrer Übereinstimmung mit anderen Vorstellungen beruhen. Sie soll nicht nur a p e r i s t a t o V , von anderen Vorstellungen nicht widersprochen sein, sondern müsse durch Zusammenhang mit anderen Vorstellungen Bestätigung finden, wie die Ärzte sich in ihren Diagnosen an keine einzelnen Kennzeichen, sondern an den Zusammenhang aller Kennzeichen ( s u n d r o m h t o n s h m e i w n ) halten. Ferner müsse in allen wichtigen Fällen ein analysierendes Durchgehen aller den Vorstellungsinhalt betreffenden Verhältnisse stattfinden (so daß die Vorstellung eine f a n t a s i a d i e x w d e u m e n h werde)  3 ).

Es wäre unrichtig, Karneades Skeptiker zu nennen. Er



1 ) Vgl. meine Bemerkungen über den platonischen Dialog Parmenides. (Deutsche Übersetzung in Bibliothek für Philosophie. Herausg. von Ludwig Stein. 1921.)
2 ) Über die Bedeutung dieses Ausdruckes vgl. Paul Barth: Die Stoa. S. 66 f.
3 ) Sextus Empiricus . ed. Bekker. S. 225-232. [4/5]

glaubt zwar nicht, daß eine Vorstellung, abgesehen von ihrem Verhältnisse zu anderen Vorstellungen, Gültigkeit behaupten kann, aber hierdurch zeigt er eigentlich nur auf den Weg hin, den der gesunde Menschenverstand unwillkürlich geht, wenn ein Zweifel sich regt, und er formuliert die Methode der Erfahrungswissenschaft. In seiner Darstellung der Lehre des Karneades vergleicht Sextus seine Methode mit der von den „empirischen" Ärzten angewandten, und man hat sogar vermutet  1 ), daß diese Ärzteschule ihn beeinflußt hat. In dem von Karneades behaupteten Wahrheitskriterium gibt sich der Relationsbegriff deutlich kund, und zwar in einer Weise, die schon von Platon (Staat X 602 B-603 A) angedeutet wird, wie wir späterhin wieder erwähnen wollen.

Wenn nun das Wahrheitskriterium das widerspruchsfreie Verhältnis geprüfter und durchgedachter Vorstellungen ist, wird dadurch eine Aufgabe gestellt, die nimmer absolut gelöst werden kann. Es gibt keine Grenze dafür, in wie vielen Verhältnissen eine Vorstellung untersucht werden soll, damit sie ihre Probe vollständig bestehen könne. Es zeigt sich hier, was sich im folgenden immer wieder zeigen wird, daß der Relationsbegriff auf einmal eine Grenze und eine Aufgabe bedingt. Wegen der vorherrschenden Bedeutung dieses Begriffs in unserer Erkenntnis drückt jedes erreichte Verständnis gewisse bestimmte Verhältnisse aus und gilt nur für diese, ist also insoweit „relativ". Anderseits aber führt uns die Relation als Kategorie immer über jedes erreichte Verständnis hinaus, indem sie die Wichtigkeit oder die Notwendigkeit, neue Relationen zu suchen, einschärft, damit die Bestimmung des verstandenen Gegenstandes tiefer werden könne. Was dem Gedanken Widerstand macht, was ihn hemmt oder begrenzt, stellt ihm aber dadurch neue Aufgaben und gibt ihm neue Anregungen. Charles Renouvier hat daher mit Recht von der Relation als Methode (la méthode des relations) gesprochen. In der Geschichte des Relationsbegriffes bis in die neueste



1 ) Victor Brochard: Les Sceptiques Grecs (1889). p. 183. [5/6]

Zeit treten immer wieder die beiden Tendenzen Begrenzung und Aufgabe (Widerstand und Arbeit, Abschluß und Erweiterung) auf. Und sie haben beide in der Relation als Kategorie ihren Ursprung.

Schon im Altertum tritt diese doppelte Seite des Relationsbegriffs hervor. Nach der Zeit des Karneades waren die Akademiker am meisten vor dem Drange nach Abschluß beherrscht und näherten sich den Stoikern mit ihrem Glauben an eine einmal für alle gegebene Wahrheit. Die Skeptiker dagegen meinten, daß, wenn man nimmer die volle Wahrheit gewinnen kann, hat man kein Recht, an sie zu glauben. Außerdem könne man ja wieder fragen, durch welches Kriterium wir die Gültigkeit des von Karneades behaupteten Kriteriums entscheiden können. - Während die Dogmatiker den Relationsbegriff verwerfen und sich an gewisse Vorstellungen als definitive halten, schließen die Skeptiker kraft des Relationsbegriffes, daß es keine Wahrheit gibt: relative Wahrheit sei keine Wahrheit!

Der hervorragendste dieser Skeptiker, Ainesidemos (wahrscheinlich im ersten Jahrhundert v. Chr.), hat eine systematische Darstellung der verschiedenen Verhältnisse, die seiner Meinung nach wahre Erkenntnis unmöglich machen, gegeben. Er weist auf die Verschiedenheiten der organischen Wesen, besonders der Menschen, hin, auf die Verschiedenheiten unserer Sinne, mittels welcher „dasselbe Ding" sich für verschiedene Sinne verschieden zeigt, auf die Bedingtheit unserer Auffassung durch Raum- und Zeitverhältnisse, besonders durch unseren Abstand vom Gegenstande, auf den Einfluß von Gewohnheiten und Überlieferungen. Es gibt überhaupt zehn Arten von Verhältnissen, die unsere Erkenntnis unsicher machen. Sextus Empirikus (ed. Becker [Bekker] S. 10) zeigt, daß die zehn Arten ( t r o p o i ) auf drei zurückgeführt werden können, indem die Auffassung entweder durch das auffassende und urteilende Subjekt ( o k r i n w n ) oder durch das aufgefaßte Objekt ( t o k r i n o m e n o n ) oder durch beides auf einmal bestimmt werden kann. Und diese „drei Tropen" führt er dann zuletzt auf den allgemeinen Relationsbegriff ( o p r o V t i t r o p o V ) zurück. [6/7] Hier wird zum erstenmal die Relation als allgemeine Kategorie aufgestellt.

Mit Unrecht hat man in der Rolle, welche die Erörterungen über das Wirklichkeitskriterium in den späteren Zeiten des Altertums spielen, ein Zeichen der Abschwächung des Forschungsdranges gesehen  1 ). Es sind eben neue und bedeutungsvolle Gedanken, die in der akademischen und skeptischen Schule hervortreten, Gesichtspunkte, die Platon und Aristoteles in ihrer intellektuellen Begeisterung nicht recht gewürdigt hatten. Die Einsicht, daß die Entwicklung darüber, was als Wirklichkeit anerkannt werden soll, teils durch das Verhältnis zwischen Gegenständen untereinander, teils durch das Verhältnis zwischen den Gegenständen und dem auffassenden und denkenden Subjekt bestimmt wird, ist von der akademischen und skeptischen Schule zur Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit übergegangen  2 ), wie es sich im folgenden zeigen wird. Im Altertum selbst bildete die Erörterung dieser Frage eine Einleitung zu einer rein empirischen Wissenschaft, besonders in den ärztlichen Schulen, und eine wissenschaftliche Bewegung in dieser Richtung war vielleicht, wie schon bemerkt, mitwirkend bei der prinzipiellen Entstehung der Frage. -

In neuerer Zeit haben besonders Kritizismus und Positivismus auf den Relationsbegriff Gewicht gelegt. Kant, dessen Kategorienlehre die bedeutendste seit Aristoteles ist, kam zu seiner Philosophie mittels der Einsicht, daß die Kategorie der Relation die wichtigste von allem ist, indem unsere Erkenntnis überall darauf ausgeht, Gegenstände mittels Bestimmung ihrer gegenseitigen Verhältnisse zu verbinden. Zwei Arten von Verhältnissen sind von besonderer Bedeutung, Abhängigkeit und Ähnlichkeit, und in der Arbeit, solche Verhältnisse zu denken, offenbart sich die Erkenntnis als Synthese  3 ). Auch bei Kant machten sich die zwei obenerwähnten



1 ) Deussen, Die Philosophie der Griechen. S. 410.
2 ) Der menschliche Gedanke. S. 113.
3 ) Vgl. meine Abhandlung Die Kontinuität im philosophischen [7/8]

verschiedenen Gesichtspunkte dem Relationsbegriff gegenüber geltend. Er hat eine gewisse Neigung, es als eine Unvollkommenheit an unserer Erkenntnis zu betrachten, daß alles in Relationen gestellt wird, und er setzt daher ein „Ding an sich" als über alle Relationen hinaus liegend voraus. Einige Kantianer, besonders William Hamilton, haben dies noch stärker betont und es als eine durchgehende Begrenzung unserer Erkenntnis betrachtet, daß ihre Arbeit immer darin besteht, das eine ins Verhältnis zu einem anderen zu setzen. In ähnlicher Weise erklärte Herbart, daß unser Beziehen uns nur eine zufällige Ansicht der Dinge geben könne, und daß wahre Realität gar nicht in Beziehung stehe. Für Kant war doch der wesentliche Gesichtspunkt der, daß alle Wissenschaft durch die in bestimmten Gesetzen ausgedrückten Verhältnisse zwischen den Gegenständen charakterisiert ist. Und von diesem Gesichtspunkt aus ist die Notwendigkeit der Relation eben eine Quelle der Fülle und des Reichtums für unsere Erkenntnis. Je mehr Relationen wir finden und bestimmen können, um so größere Einheit und um so größere Mannigfaltigkeit wird es gleichzeitig in unserer Erkenntnis geben.

Für die spekulativen Nachfolger Kant's wurde die Relation mehr und mehr eine Schranke, über die man hinaus strebt, um eine höchste, allumfassende Einheit zu suchen, innerhalb welcher alle Relationen, besonders alle Gegensätze als einseitige und unvollkommene Auffassungen stehen sollten. Fichte steht hier als ein charakteristischer Übergangstypus. Er hat einen klaren Blick dafür, daß, wenn wir Verhältnisse finden und bestimmen wollen, sich darin eine geistige Aktivität kundgibt. Ohne geistige Wirksamkeit kein Setzen von Relationen: „Die reine Tätigkeit ist Bedingung des Beziehens" (Wissenschaftslehre 2 S. 244). Relation ist nicht ein Empfangenes oder Aufgezwungenes, sondern setzt einen Gedankenakt voraus. Und wenn durch einen solchen Akt eine Schranke gesetzt wird, bedeutet dies bloß, daß eine Aktivität notwendig


[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 7] Entwicklungsgang Kant's. (Deutsche Übers. in Archiv für die Gesch. d. Pilos. [Philos.] VII.) § 27. [8/9]

ist. Geistige Arbeit, theoretischer oder praktischer Art, führt dazu, Schranken zu überwinden, und die vollkommene Schrankenfreiheit steht als das erhabene Ideal, das in keinem geistigen Zustande verwirklicht werden kann. In seiner späteren Philosophie wurde das Problem Fichtes doch ein anderes. Es war nicht mehr die Frage, wie wir durch Setzen von Relationen und durch Kampf mit den so gesetzten Schranken eine immer reichere Wahrheit gewinnen können, sondern es wird jetzt in neuplatonischer Weise gefragt, wie ein Streben nach Wahrheit überhaupt möglich sei, wenn ein absolutes Sein der Grund von allem sei.

Die Philosophie Hegels ging in ihrer historischen Orientierung von einem Stadium aus, auf welchem die menschlichen Gedanken friedlich beieinander wohnten, ohne daß sich ein Bedürfnis regte, ihre gegenseitigen Verhältnisse zu bestimmen. Das Entstehen eines solchen Bedürfnisses ist für Hegel ein Auflösungsphänomen. Dann entstehe ein „unglückliches Bewußtsein", in welchem die Harmonie der Gedanken zerbrochen sei, und strenge geistige Arbeit sei erfordert, damit die einzelnen Gedanken, trotz oder eben mittels ihrer Gegensätze, als die Glieder eines großen Ganzen stehen können. Dies wird durch die dialektische Methode, die eigentlich eine Systematisierung von Relationsbegriffen bedeutet, möglich. Der einzelne Gedanke wird über sich selbst zu anderen Gedanken geführt, indem seine Begrenzung eingesehen wird. Dadurch werden die Widersprüche, die durch die Isolation der Gedanken hervorgerufen wurden, aufgehoben. - Doch wird eine kritische Untersuchung zeigen, daß Hegel eigentlich selbst die Begriffe isoliert, um dann hinterher die höhere Einheit siegreich aufweisen zu können. So z. B., wenn er gleich am Anfange seiner Logik „Sein" als etwas für sich und „Nichts" als etwas für sich aufstellt, um dann zu zeigen, daß sie einander nicht entbehren können. Jedes Sein hat ja seine Grenze, über die hinaus es nichts gibt, wenn eine neue Form des Seins nicht gefunden werden kann, - und „Nichts" bedeutet eben nur eine solche Grenze des Seins. Es ist die Erfahrung von einem begrenzten Sein, die von Hegel in zwei einander widersprechende [9/10] Begriffe aufgelöst wird  1 ). - Obgleich aber Hegel die Widersprüche, die seine Dialektik überwinden soll, oft selbst erschafft, und obgleich es ihm allzuleicht gelingt, von Relation zu Relation zu kommen, ist seine Philosophie doch ein großer Ausdruck für die Wahrheit, daß man die Welt nur dadurch denken kann, daß man sich von Relation zu Relation fortarbeitet, und sie zeigt zugleich, daß in dieser Arbeit das Höchste, was gedacht werden kann, als vorwärts führende Kraft zugegen ist. -

Mit vollem Bewußtsein hat der französische Neukantianer Charles Renouvier den Relationsbegriff an die Spitze seiner Kategorienlehre gestellt. Daß alles relativ ist - sagt er , dieses starke Wort des Skeptizismus, war das letzte Wort der kritischen Philosophie des Altertums und muß das erste Wort der modernen Methode sein. Er findet in dieser Kategorie eine ganze Methode enthalten: es gilt unsere Gegenstände durch so viele Relationen als möglich zu bestimmen. - Der Kritizismus begegnet hier dem Positivismus. Für Comte liegt der Relationsbegriff in dem Begriffe von „positiver" Wissenschaft enthalten, indem diese überall bestimmte, in Gesetzen ausgedrückte Relationen statt der absoluten, aber unbestimmten Wesen oder Kräfte der Theologie und der Metaphysik zu setzen sucht. Von diesem Gesichtspunkte betrachtet Comte ausdrücklich Kant als seinen Vorgänger, wie er auch darin mit ihm einig ist, daß die Erkenntnisarbeit in einer Verbindung der Gegenstände besteht (tout se réduit toujours à lier), - einer Verbindung, die teils durch Klassifikation (par similitude), teils durch Ableitung (par filiation) geschähe  2 ). - Wie Dauriac gezeigt hat  3 ), ist Comte's Klassifikation der Wissenschaften nach



1) Wissenschaft der Logik . 1812. I. S. 22-26. - Neuere Hegelianer stellen sich hier dem Meister kritisch gegenüber. So B. Croce: Cio che è vivo e cio che è morto della filosofia di Hegel. (1907). S. 21-33. Mc Taggart: A Commentary on Hegels Logic. (1910). S. 17.
2) Discours sur l'esprit positif. (1844.) S. 20.
3) Contingence et catégorie . (Revue de Métaphysique et de Morale. 1916.) S. 499. [10/11]

demselben Prinzip angelegt wie Renouvier's Ordnung der Kategorien, nämlich so, daß von dem Einfachen und Fundamentalen zum Komplexen und Abgeleiteten fortgeschritten wird.

Goblot  1 ) wendet gegen jeden Versuch einer Kategorienlehre ein, daß unser Wissen noch zu provisorisch ist, sowohl was die letzten Schlüsse als was die fundamentalen Prinzipien betrifft, um ein System der Grundbegriffe aufstellen zu können. Diese Einwendung trifft aber nicht Renouvier, der klar eingesehen hat, daß kein rationeller Beweis für die Gültigkeit der Kategorien oder für die Vollständigkeit der Kategorienliste geführt werden kann. Die Kategorien werden durch Analyse der Erfahrung gefunden; sie werden probeweise aufgestellt und müssen immer wieder durch Erfahrung bestätigt werden  2 ). Renouvier macht daher Kant den Vorwurf, daß er eine deduktive Begründung der Kategorienlehre versucht hat. In eigentümlichem Gegensatz hierzu hat der Schüler Renouvier's Hamelin  3 ), obgleich er die Kategorientafel seines Vorgängers festhält, eine dialektische Ableitung geben wollen, indem er meint, daß jede Kategorie in ihren Gegensatz hinüberführt. Er verwechselt aber, wie Hegel, Korrelation von Begriffen mit einem Verhältnisse des Widerspruchs oder des Gegensatzes. Ein solches Verhältnis entsteht nur, wenn die einzelnen Begriffe durch isolierende Abstraktion aus ihrer Korrelation heraus genommen werden; die Wiederaufhebung dieser Isolation kann dann einen Schein der Dialektik hervorbringen. Hamelin's dialektische Übergänge sind auch sehr künstlich. - Man kommt, wie Renouvier richtig gesehen hat, in der Kategorienlehre nicht über eine analytische Methode hinaus.

Die Kategorien werden durch Analyse der faktischen Arbeit, die von unserem Gedanken geübt wird, wenn ihm bestimmte Fragen gestellt werden, gesucht und gefunden. Jede Kategorientafel kann daher nur einen vorläufigen Charakter


1 ) Traité de Logique. (1918.) S. 138.
2 ) Vgl. Séailles: La philosophie de Renouvier S. 91 f.
3 ) Essai sur les éléments principaux de la représentation. (1907.) [11/12]

haben, und die spezielleren Kategorien können nicht aus den allgemeineren und mehr umfassenden abgeleitet werden, obgleich sie sich bei näherer Untersuchung als spezielle Formen von diesen zeigen können. Wie überall, wo wir mit Begriffen zu tun haben, die aus der Erfahrung (in diesem Fall aus der faktischen Gedankenarbeit) gezogen sind, besteht hier ein umgekehrtes Verhältnis zwischen Inhalt und Umfang. Je mehr Elemente ein Begriff enthält, um so enger ist der Kreis von Gegenständen, für den der Begriff gilt. In der Kategorienlehre ist dies von besonderer Wichtigkeit durch das Verhältnis zwischen den Wertbegriffen und den mehr universalen (fundamentalen, formalen und realen) Kategorien. Weil aber, wie ich in meiner Abhandlung über den Totalitätsbegriff zu zeigen versucht habe, aller Wert in Relation zu einem Ganzen und seinen Existenzbedingungen steht, gibt es doch einen inneren Zusammenhang zwischen den Wertbegriffen und den anderen Kategorien.

Es ist nun die Aufgabe gegenwärtiger Abhandlung, den Relationsbegriff dadurch zu beleuchten, daß er in seiner Bedeutung für die verschiedenen philosophischen Probleme betrachtet wird. Es wird hierbei zweckmäßig sein, nicht nur den Begriff der Relation, sondern auch das ihm entsprechende Prinzip der Relation zu untersuchen. In „Der menschliche Gedanke" (S. 279) habe ich dieses Prinzip in folgender Weise formuliert: Jeder Gegenstand (Erlebnis oder Element) soll in so vielen Beziehungen wie möglich betrachtet, mit so vielen anderen Gegenständen zusammengestellt werden, daß er möglichst vollkommen bestimmt werden kann. Wo wir keine Relationen finden können, gewinnen wir auch keine Erkenntnis. Das Verhältnislose ist daher mit Recht von Kant als außer aller Wissenschaft liegend erklärt; es kann nur ein rein negativer Begriff sein. Unser Denken wirkt wie ein Zirkel: beide Beine sollen eine Stellung finden, und unsere Erkenntnis beruht auf dem Verhältnisse zwischen diesen zwei Stellungen. -

Wenn die Abhandlung von „Relation", nicht von „Relativität" handelt, so geschieht dies, weil der Ausdruck „Rela-[12/13]tivität" oft mißverstanden wird, indem man (wie in ihrer Weise die alten Skeptiker) meint, daß, wenn etwas „relativ" sei, es dann ungültig oder gleichgültig, sei, keine objektive Bedeutung habe. Ganz im Gegensatz zu einer solchen Auffassung muß behauptet werden, daß jede Wahrheit in ganz bestimmten Relationen ihren Ausdruck findet und nur innerhalb solcher Relationen gilt, aber dann absolut gilt (wenn die Relationen richtig bestimmt sind). Daß alle Notwendigkeit, wie schon Kant lehrte, hypothetisch ist, also nur in Relation zu ihren Voraussetzungen gilt, bedeutet nicht, daß eine solche Notwendigkeit keine wirkliche Notwendigkeit wäre. Bei jeder Notwendigkeit muß nach den Voraussetzungen gefragt werden, denn Notwendigkeit besteht eben in einem Verhältnisse von Grund und Folge. Nur durch Gedankenwirksamkeit wird ein solches Verhältnis gefunden. Und auch von diesem Gesichtspunkte aus ist der Ausdruck „Relativität" unzweckmäßig, indem er die Vorstellung von einer ruhenden Eigenschaft oder von einem abgeschlossenen Zustande erwecken kann. Relation besteht aber in einem Referieren, in einer beziehenden Aktivität, einem bestimmten Einstellen der zwei Zirkelbeine des Gedankens. In dem Begriff der Relation liegt eine Anweisung zur Gedankenarbeit. [13/14]




II.



Der Relationsbegriff in der Psychologie.




B ei jedem Versuch, eine, wenn auch nur vorläufige Erklärung davon zu geben, was man unter „Bewußtseinsleben" oder „Seelenleben" versteht, muß man besonderes Gewicht auf die Tatsache legen, daß alles, was empfunden, vorgestellt, gefühlt und gewollt wird, gewisse bestimmte Verhältnisse darbietet, ohne welche es nicht gedacht werden kann. Man hat freilich versucht, das Seelenleben als ein Chaos relationsloser Elemente aufzufassen; aber solche Versuche haben, trotz der Energie, mit welcher sie bisweilen gemacht waren, zu keiner verständlichen Psychologie führen können. Die Sache ist nämlich, daß jedes seelische Element von seiner ersten Entstehung an in einen Zusammenhang hineingewoben ist, durch welchen es bestimmt wird, und mittels welchem es einen bestimmenden Einfluß auf das Seelenleben üben kann. Dadurch macht das Seelenleben ein Ganzes aus und ist ein Beispiel der oben erwähnten Verbindung der Begriffe Totalität und Relation. In Erscheinungen wie Erinnerung, Vergleichung, Verwunderung und Vorziehen offenbart sich die Eigentümlichkeit des Bewußtseinslebens in besonders klarer Weise, und in ihnen ist eben mehr als ein Chaos gegeben, indem die verschiedenen Elemente, die durch psychologische Analyse gefunden werden können, ganz und gar durch ihre gegenseitigen Relationen in ihrer Eigentümlichkeit bestimmt sind. Und alle Erfahrungen deuten darauf hin, daß auch die mehr primitiven und einfachen seelischen Erscheinungen in Analogie mit ihnen aufgefaßt werden müssen; jedenfalls hat die Sprache keine Bezeichnungen, die den Unterschied ausdrücken könnten, gebildet. Es wird sich im folgenden zeigen, daß dies mit dem Grade der Bewußtheit von den Verhältnissen des Seelenlebens zusammenhängt. [14/15]

Durch die durchgehende Bedeutung des Relationsbegriffes innerhalb des Bewußtseinslebens ist es berechtigt, wie besonders Leibniz und Kant eingeschärft haben, das Bewußtsein als eine Synthese zu charakterisieren. Eine Relation kann sich nur geltend machen, wenn ihre Glieder zusammengefaßt werden; Relation bedeutet ja eben, daß gewisse Erscheinungen Glieder eines Ganzen sind und dadurch bestimmt werden.

Der schon erwähnte doppelte Charakter der Relation, als begrenzend und als weiterführend, gibt sich in der Psychologie deutlich kund. Die Eigentümlichkeit jedes seelischen Elements beruht auf seinem Verhältnisse zu anderen seelischen Elementen und ist insoweit begrenzt; aber eben durch diese Relationsbestimmtheit zeigt jedes Element, wenn es plötzlich und ohne deutlichen Zusammenhang mit anderen Elementen, auftritt, über sich selbst hinaus und ruft ein Bedürfnis der Supplierung hervor  1 ). -

Einzelheiten betreffend, muß ich hier auf meine Darstellung der Psychologie hinweisen, die eben auf dem Grundgedanken aufgebaut ist, daß die Gültigkeit des Verhältnisgesetzes für alle seelischen Erscheinungen den Charakter des Bewußtseins als Synthese bezeugt. Nur einzelne Hauptzüge sollen hier hervorgezogen werden.

In betreff der Sinnesempfindungen war man lange nicht darüber klar, daß der Relationsbegriff, und mit ihm der Synthesebegriff, für sie Gültigkeit hatte. Hobbes hatte zwar energisch behauptet, daß eine einzige unveränderliche Empfindung dasselbe wie gar keine Empfindung wäre. Man war



1 ) In meiner Abhandlung über Platons „Parmenides" (Bibliothek für Philosophie. Herausg. von Ludwig Stein) Kapitel 3 habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß, während Platon den logischem Übergang von einem Begriffe (Idee) zu einem anderen sehr schwierig fand, hatte er als Psychologe keinem Zweifel darüber, daß selbst ein plötzlich auftauchendes und höchst wertvolles Erlebnis seinen bestimmten Platz in der Reihe der Erlebnisse hatte und dadurch bedingt war, daß eine ganze Reihe Bestrebungen und Erfahrungen in einer bestimmten Ordnung vorausgegangen war. [15/16]

aber immer geneigt, die Empfindungen als ein Chaos, das erst von dem „Verstande" geordnet werden sollte, aufzufassen. Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts kam man zu einer anderen Auffassung. Die Entdeckung der Kontrastwirkung durch Chevreul zeigte, daß die Qualität der Empfindungen durch das Verhältnis zur Qualität vorhergehender und gleichzeitiger Empfindungen bedingt war, und Fechner fand ein analoges Verhältnis für die Intensität, mit welcher die einzelnen Empfindungen sich geltend machen. - Man ist geneigt gewesen, es als eine Unvollkommenheit zu betrachten, daß wir keine „absoluten" Empfindungen besitzen, und selbst Helmholtz betrachtete sukzessive Kontrastwirkung als eine Illusion. Man kann aber keine „Normalempfindung" aufzeigen, dessen Qualität die „richtige" sein sollte, und jedenfalls würde auch eine solche durch gewisse Empfindungsrelationen bedingt sein. - Wir sehen schon hier, bei diesen elementaren Erscheinungen, etwas, das auch bei den höchsten intellektuellen Funktionen hervortreten wird. -

Gehen wir von den Empfindungen zu den Vorstellungen (die in ihrer einfachsten Form reproduzierte Empfindungen sind), so sehen wir, daß das Auftauchen einer bestimmten Vorstellung in einem bestimmten Augenblicke durch das Verhältnis dieser Vorstellung zu anderen Vorstellungen bedingt ist. Man hat zwar versucht, jeder Vorstellung eine Art Selbsterhaltungsdrang zuzuschreiben, so daß sie „wie von selbst" in dem Bewußtsein auftauchen sollte, sobald andere Vorstellungen (oder Empfindungen) die psychische Energie nicht in Anspruch nehmen. Auch dann aber hängt ja das Auftreten der Vorstellung von bestimmten Verhältnissen (Hemmung oder Nichthemmung) ab. Die Selbständigkeit, mit der sich die einzelne Vorstellung geltend macht, ist, wie die Erfahrung zeigt, durch ihr Verhältnis zum ganzen übrigen Bewußtseinsleben bedingt und ist nur dadurch verständlich. Es wird immer unnatürlich, zuletzt unmöglich sein, eine Vorstellung von dem übrigen Inhalt des Bewußtseins isoliert zu halten. Jede einzelne Vorstellung hat eine Tendenz, andere Vorstellungen nach bestimmten Gesetzen hervorgerufen. Auch hier offenbart [16/17] sich der synthetische Charakter des Seelenlebens. Die meisten Psychologen sind denn auch darin einig, daß die sogenannten Assoziationsgesetze verschiedene Formen der Totalitätsassoziation sind, verschiedene Formen, in welchen sich der Drang nach Wiederhervorrufung des ganzen Bewußtseinszustandes, dessen Glied die einzelne Vorstellung einmal gewesen ist, äußert.

Auf dem Gebiete des Gefühlslebens ist das Verhältnisgesetz früh bemerkt worden. Am deutlichsten tritt es in der Verwunderung hervor, diese sei nun ein selbständiges Gefühl oder ein Glied eines komplizierten Gefühls. Aber in aller Lust und Unlust, in Freude und Leid ist das Verhältnis zwischen dem vorhandenen Zustande und vorausgehenden Zuständen von entscheidendem Einfluß. Das Glück, das gefühlt wird, hängt nicht nur von der „absoluten" Größe des erfahrenen Gewinnes oder Fortschritts, sondern auch von dem Verhältnisse zu dem schon voraus vorhandenen Gefühlsniveau ab. Je mehr verschiedene Relationen sich bei dem Entstehen eines Gefühls geltend machen, um so eigentümlicher und reicher wird dieses Gefühl sein. Bei jedem solcher reich ausgeformten Gefühle wird es die Frage sein, ob es den neuen Relationen, denen das Seelenleben unterliegen wird, gegenüber bestehen kann. So z. B., wenn der Humorist tragischen Schicksalen begegnet  1 ).

Wollen ist vorziehen, ist daher in ganz einförmigen inneren und äußeren Zuständen ebenso unmöglich wie Empfindung, Vorstellung und Gefühl. Es müssen innere oder äußere Unterschiede gegeben sein, damit ein Wollen möglich sei. Schon Reflexbewegung und Instinkt setzen Änderungen im inneren, organischen Zustande oder in den äußeren Verhältnissen voraus. Reaktion setzt Aktion voraus. Dies gilt sowohl für das unwillkürliche als für das willkürliche Wollen. Es gibt viele Grade des Wählens, aber immer ist eine Verschiedenheitsrelation eine Voraussetzung. Alle Überlegung, die unwillkürliche sowohl als die willkürliche, geht nur darauf aus,



1 ) Der große Humor. (Deutsche Übers.) S. 118-121. [17/18]

solche Verschiedenheitsrelationen so deutlich wie möglich hervortreten zu lassen. Die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten werden nach ihrem Verhältnisse zum jetzigen oder bisherigen Zustande des Seelenlebens gemessen. Hier kann ein Kampf entstehen, dessen Ausgang auf der Relation zum Charakter und zur Geschichte des Individuums beruhen wird. Man hat bisweilen die Motive als absolut selbständige, vom Willen unabhängige Elemente betrachtet. Jedes Motiv ist aber selbst ein Wollen, ein Vorziehen. Was für ein Individuum Motiv werden kann, beruht auf dem Charakter und der Vorgeschichte des Individuums. Motive sind nimmer relationslos. Es ist von entscheidender Wichtigkeit, auf welchem Punkte der Entwicklung eines Individuums eine Handlungsmöglichkeit auftritt; davon hängt es ab, ob ein gewisses Motiv überhaupt entstehen kann, und ob es siegen können wird. -
Es ist eine besondere Frage, ob das Bewußtsein selbst auf die entscheidenden Relationen aufmerksam wird. Viele psychologische Probleme entstehen dadurch, daß die Relationen nicht entdeckt werden, indem sie nur durch eine objektive, historische Untersuchung dargetan werden können, eine Untersuchung, die vom Individuum selbst, jedenfalls in der Zeit des unmittelbaren Erlebnisses, nicht unternommen werden kann.

Kontrastrelationen machen sich, sowohl was Qualitäten als was Intimitäten betrifft, von Anfang an geltend, ohne daß wir es merken. Wir sind von dem Leben und der Stärke des neuen, eben durch den Kontrast hervorgehobenen Elements aufgenommen. So vergessen wir, wenn eine Farbe „gesättigt" dasteht, sehr leicht die Relation, durch welche die Sättigung bedingt ist. Wir wenden uns einem neuen Gefühl, das nach einem Gefühle entgegengesetzter Art mit Leben und Fülle auftritt, entgegen und vergessen den Besiegten über dem Sieger. Ein Vorsatz oder ein entscheidender Beschluß kann sich wie „ein Schlag auf den Kopf" (um Dostojewkis Ausdruck in „Raskolnikow" zu gebrauchen) melden, indem wir die unwillkürliche oder willkürliche Überlegung vergessen, die mittels eines Zusammenspiels von Erinnerungen, Gefühlen [18/19] und Trieben den Weg gebahnt haben. Wir merken nicht immer den Assoziationsverlauf, dem eine Vorstellung ihr Entstehen verdankt, und sie kann dann als eine plötzliche, unmotivierte Eingebung stehen.

Wir haben überhaupt die Neigung, bei gewissen hervorspringenden Punkten unseres Seelenlebens zu verweilen und die Relationen zu übersehen, die die Übergänge zwischen solchen Punkten bedingen. William James, der diese Eigentümlichkeit des Seelenlebens trefflich beleuchtet hat, machte einen Unterschied zwischen Ruheplätzen und Flugplätzen innerhalb des Stromes des Bewußtseins und meinte, daß wir geneigt sind, uns an den Ruheplätzen zu halten. Noch deutlicher hat er sich ausgedrückt, wenn er von substantivischen und transitiven Teilen unseres inneren Lebens spricht, und zeigt, daß wir geneigt sind, jenen ein absolutes, unabhängiges Bestehen zuzuschreiben, weil die Übergänge oft nicht direkt wahrgenommen, nur geschlossen werden können  1 ). Solche substantivische Elemente haben wir eben in kontrastbestimmten Qualitäten oder Intensitäten, in unmittelbarem Wiedererkennen (Bekanntheitsqualität), in einer plötzlich auftauchenden Vorstellung, einem ausgeprägten Gefühl, einem überraschenden Beschluß.

James hat ferner darauf aufmerksam gemacht, daß Relationen bisweilen als Qualitäten gemerkt werden, so in den seelischen Zuständen, die in der Sprache durch „auch", „aber", „trotz" u. a. ausgedrückt werden. Es ist dies eine Art Empfindung (oder Gefühl) von Verbindung oder von Gegensätzlichkeit, die ebenso unmittelbar sein kann wie die gewöhnlich so genannten Empfindungen.

Hierhin gehört auch die merkliche Empfindung von einer Richtung in unserem Seelenleben, die wir haben können. Um den Vergleich mit dem Zirkel zu gebrauchen, können wir sagen, daß wir, während das eine Zirkelbein feststeht (durch unsere Vorgeschichte und ihre Folgen bestimmt), merken, daß das andere Zirkelbein in eine gewisse Richtung ausgespannt


1 ) Principles of psychology . I. p. 243 ff. [19/20]

ist, ohne daß wir darüber klar werden können, an welchem bestimmten Orte es sich stellen wird. Hier tritt bald mehr eine unbestimmte Erwartung, bald mehr ein unbestimmtes Streben hervor. -

Auf dem Übergange zwischen Psychologie und Erkenntnistheorie liegt die Frage, ob und wie eine Relation, deren man sich mehr oder minder klar bewußt geworden ist, auf andere Glieder als die ursprünglichen überführt werden kann. Eine wichtige Art, in welcher dies geschehen kann, ist folgende. Wir ordnen unwillkürlich die Gegenstände nach Ähnlichkeit und Verschiedenheit. Dadurch werden Reihen gebildet, und es kann sich dann zeigen, daß ein Glied einer solchen Reihe ausgeschoben werden kann, und daß das Verhältnis doch immer zwischen seinem früheren Vorgänger und seinem früheren Nachfolger bestehen kann. In der Reihe ABC kann vielleicht B ausgeschoben werden und das Verhältnis zwischen A und C das gleiche sein wie das zwischen A und B  1 ). Es ist ein solcher Fall, der in der formellen Logik als ein Verhältnis zwischen Prämissen und Konklusion konstruiert wird. Die Prämisse sind z. B. A = B und B = C, und die Konklusion wird A = B [A = C]. Überhaupt macht sich die Relation (die eben darum zu den fundamentalen Kategorien gehört) früher als alles Begriffsbilden, Urteilen und Schließen geltend. Schon innerhalb der Sinnes-, Erinnerungs- und Phantasieanschauung werden Elemente wegen ihres gegenseitigen Verhältnisses geordnet und umgeordnet, ohne daß ein Denken im engeren Sinne des Wortes stattfindet. Ich verweise hier auf meine Untersuchungen über das Verhältnis zwischen Anschauen und Urteilen in „Der menschliche Gedanke" S. 39-76 (vgl. schon meine Abhandlung „Le fondement psychologique du jugement" in „Revue Philosophique" 1901). Von besonderem Interesse ist die Art, in welcher eine Anschauung ganz unwillkürlich und unbewußt artikuliert werden kann, ohne daß ein Urteil gebildet . wird. Wir streben, so lange als möglich im Anschauen zu verweilen, ohne Begriffe und Urteile zu bilden und ohne Schlüsse zu ziehen.


1 ) Vgl. Der menschliche Gedanke. S. 177 f. [20/21]


In der Reihe ABC blieb oben A stehen, aber C konnte in dieselbe Relation zu A treten wie, früher B. Die Frage entsteht nun, ob man nicht beide Zirkelbeine anderswohin stellen kann, so daß das Verhältnis zwischen ihnen in der neuen Stellung dasselbe bleibt. In einem einfachen Beispiele geschieht dies, wenn eine Relation zwischen zwei neuen Gliedern (X und Y) vorliegt und diese Relation dann als dieselbe, die schon zwischen zwei früheren Gliedern (A und B) wiedererkannt wird. Solches Wiedererkennen kann - wie das Wiedererkennen von Qualitäten - entweder unmittelbar oder mittelbar sein; im letztern Falle setzt es ausdrückliche Ausmessung voraus, oder auch wirken mehrere Relationen als Mittelglieder zwischen den beiden Relationen, die identifiziert werden. Die Intuition, in welcher es, der Sage zufolge, für Newton aufging, daß das Verhältnis des fallenden Apfels zur Erde dasselbe war wie das Verhältnis der Planeten zur Sonne, ist zuerst unmittelbar gewesen, wurde aber mittelbar mittels der Messungen und Rechnungen, die zur definitiven Aufstellung seiner Gravitationslehre führten. Überhaupt entstehen viele Fragen und Probleme eben dadurch, daß die Möglichkeit von identischen Relationen auf dem einen oder dem andern Wege für das Bewußtsein auftritt. Sowohl Bestimmungsfragen, die fehlenden Relationen zu verdanken sind, als Entscheidungsfragen, die durch Streit zwischen verschiedenen möglichen Relationen entstehen, können das Denken weiterführen. Schon innerhalb des gemeinen Bewußtseins (sens commun) können solche Fragen mit Versuchen der Beantwortung auftreten, und was wir Wissenschaft nennen, beruht nur auf strenger Begründung und Formulierung der Fragen und scharfer Untersuchung der Gültigkeit der Antworten.

Ein steigender Grad des ausdrücklichen Bewußtseins von Relationen führt vom unwillkürlichen Denken zum logischen und mathematischen Denken, das mit Relationen wie mit einfachen Qualitäten operiert, Reihen von Relationen und wieder Reihen von solchen Reihen bildet. Ein Beispiel dieses Überganges gibt die Entwicklung des Zahlbegriffes von Zahl-[21/22]qualität durch Laufnummer zur Anzahl und weiter zu den verschiedenen Funktionsbegriffen  1 ).

Eine bestimmte Grenze des Denkens würde vorliegen, wenn es Reihen geben sollte, deren Glieder ohne weiteres vertauscht werden könnten, weil das Ähnlichkeits- oder Verschiedenheitsverhältnis absolut das gleiche zwischen allen Gliedern wäre. Solche Reihen würden entweder chaotische Verschiedenheitsreihen oder absolute Identitätsreihen sein. Ob sie im Dasein vorkommen, kann von vornherein nicht entschieden werden. Aber vom Standpunkt der Psychologie muß gesagt werden, daß sie im faktischen Seelenleben nicht vorkommen; höchstens Annäherungen finden sich. Es ist ein Grundgesetz in der Psychologie, daß die Ordnung der Addende nicht gleichgültig ist. Wo Chaos oder absolute Identität zwischen psychischen Elemten [Elementen] vorzuliegen scheinen, wird es die Aufgabe der Psychologie sein, im ersten Falle Ähnlichkeiten oder bestimmte Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den anscheinend absolut verschiedenen Elementen im zweiten Falle Verschiedenheiten und damit zusammenhängende Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den anscheinend identischen Elementen zu finden. Von Chaos oder von absoluter Identität kann man nur von bestimmten Gesichtspunkten und in Relation zu diesen sprechen  2 ). Das Relationsprinzip macht sich also auch hier geltend. Die Gedankenarbeit setzt ein beständiges Wechselverhältnis oder eine beständige Brechung zwischen Kontinuität und Diskontinuität, Ähnlichkeit und Verschiedenheit voraus; nur durch solche Brechung werden dem Gedanken bestimmte Aufgaben gestellt, so daß seine Arbeit anfangen kann. Humes Behauptung, daß chaotische Elemente das eigentlich Gegebene wären, machte jeden Anfang einer Gedankenarbeit unmöglich. Spinoza's Aufstellung ewiger Attribute als absoluter Identitäten setzte einen Abschluß aller Gedankenarbeit voraus. Die zwei Denker endeten, jeder in seiner Weise, in Relationen, die eigentlich keine Relationen mehr waren.



1 ) Der menschliche Gedanke. S. 207-211.
2 ) Der menschliche Gedanke. S. 179 f.; 185-187. [22/23]




III.


Der Relationsbegriff in der Erkenntnistheorie.




a) Der Relationsbegriff und die anderen fundamentalen Kategorien.




D ie Analyse, die zur Auffindung der Formen und Voraussetzungen der Erkenntnis führen soll, muß nicht nur gegen die in strengerem Sinne wissenschaftliche Arbeit gerichtet werden, sondern auch gegen das unwillkürliche Denken, das wir alle im täglichen Leben anwenden, und das für den sogenannten gesunden Menschenverstand charakteristisch ist. Aus diesem unwillkürlichen Denken hat sich das wissenschaftliche Denken, das von bestimmten Begriffen ausgeht und genaue Begründung sucht, Schritt für Schritt entwickelt, und beim Übergange zur Wissenschaft kann, so groß und auffallend der Gegensatz auch sei, keine vollständige Änderung in der Art des Denkens eintreten. Kant hat dies eingesehen, wenn er sagt, daß auch „der gemeine Verstand" gewisse „apriorische Erkenntnisse" hat (Kritik der reinen Vernunft  2 S. 3), und er zeigt es noch bestimmter in seiner Lehre von der Synthese als der Grundform des Bewußtseins, Wirkung „einer Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind" (Kritik der reinen Vernunft  1 [)] S. 78). Wir haben gesehen, welche Bedeutung dieser Begriff für die Psychologie hat. Wie die anderen fundamentalen Kategorien, ist er ein solcher, in welchem sich Psychologie und Erkenntnistheorie begegnen. Neulich hat Meyerson  1 ) mit Nachdruck und in sehr lehrreicher Weise hervorgehoben, daß ganz dasselbe Denken in Naturwissenschaft, Philosophie und gesundem Menschenverstand (sens commun) geübt wird.


1 ) De l'Explication dans les Sciences. (1921). I. S. IX-XIV. [23/24]

Doch geht er auf die Stufen und Wege, auf welchen sich das gemeine Denken sukzessiv der Wissenschaft nähert, nicht näher ein. So betont er nicht die Bedeutung des Zweifels als eines Störenfriedes. Die praktische Orientierung in der Welt ist nicht immer hinlänglich, oder sie führt zu widersprechenden Möglichkeiten, denen gegenüber man ratlos steht. In der Schule des Zweifels kommt der Gedanke dazu, strengere Forderungen in sich selbst zu stellen.

Wenn man das Wort „Vernunft" so definieren wollte, daß es von dem vorwissenschaftlichen sowohl als von dem wissenschaftlichen Denken gebraucht werden könnte, könnte man sagen, daß sie ein Inbegriff von Kategorien sei, besonders von fundamentalen Kategorien, das heißt solchen, die auf allen Stufen angewandt werden müssen. Zu diesen fundamentalen Kategorien gehören die drei Begriffspaare Synthese - Relation, Kontinuität - Diskontinuität, Ähnlichkeit - Unterschied.

Relation ist (wie ihr Korrelat Synthese) eine Grundform, die sich in allen speziellen Gedankenformen, auch in den oben genannten Begriffspaaren kundgibt. So besteht Relation zwischen Synthese und Relation. Diese zwei Begriffe können nämlich, trotz der Korrelation, in Gegensatz zueinander treten, so daß Zusammenfassen und Einheit auf Kosten der Verhältnisbestimmtheit vorherrscht, oder umgekehrt, die Glieder der Relation können sich so selbständig geltend machen, daß sie nicht Glieder desselben Ganzen zu sein scheinen. Anderseits wird der Drang zur Synthese stärker, je stärker die gegenseitige Spannung der Glieder ist. Wenn Kant sagt, daß wir uns selten der Funktion, die der Synthese zugrunde liegt, bewußt werden, dann ist es eben, weil die Relation den Charakter von Gegensatz, Streit und Spannung annehmen muß, damit wir uns der zusammenfassenden Arbeit oder doch des Dranges dazu, bewußt werden können. Hier liegt eben die Bedeutung des Zweifels. Und die beständige Korrelation zwischen Synthese und Relation zeigt sich darin, daß Zweifel und Probleme nur so lange existieren, als verschiedene Gegenstände, trotz alles Gegensatzes und Widerspruches, in ausdrück-[24/25]licher Relation zueinander festgehalten werden. Ein Problem. fällt weg, wenn das eine der streitenden Glieder wegfällt, oder wenn der Gegensatz zwischen den Gliedern abgeschwächt wird.

Es kann sich eine Furcht vor der Mannigfaltigkeit und der Schärfe der Relationen regen im Gegensatz zur zuversichtlichen Ruhe in einer unwillkürlichen Synthese. Dadurch wird eine solche Reaktion hervorgerufen, wie sie Hamann, Herder und Jacobi Kants kritischer Philosophie gegenüber, James und Bergson der Wissenschaft unserer Zeit gegenüber repräsentieren. Und wenn Tagore die Westeuropäer auffordert, indische Gedanken aufzunehmen, dann liegt darin eine Aufforderung, von allen scharfen und spannenden Relationen, die in der europäischen Zivilisation ausgeprägt worden sind, wegzugehen und zu einem relationslosen Zustande zurückzukehren. Aber so groß und tief das Einheitssuchen der Vedantalehre, deren moderner Prophet Tagore ist, auch sei, es gibt für uns keinen Weg zurück. Entweder sind die Relationen, die sich geltend machen, künstlich und unbegründet, und dann wird die Kritik sie fällen, oder sie sind in Tatsachen gegründet, und dann können sie nur durch geistige Arbeit beherrscht werden. Ein Zweifel wird nur aufgehoben entweder durch Aufweisung seiner Unbegründetheit, oder durch Problemlösung, oder dadurch, daß eine unlösbare Grenzfrage dargetan wird. Wenn Descartes eben aus der Möglichkeit des Zweifels die Existenz des Denkens schließt, dann liegt hierin eine Erkenntnis des genauen Zusammenhanges der Kategorien der Synthese und der Relation.

Das Verhältnis zwischen Kontinuität und Diskontinuität ist dem zwischen Synthese und Relation analog oder ist eine speziellere Form davon. Die Synthese geht um so leichter, je weniger Unterbrechungen es gibt. Wenn möglich, werden solche Unterbrechungen selbst in die Anschauung (die dann artikuliert wird) oder in das Urteil (dessen Glieder dann begrenzt oder erweitert werden) einbezogen. Unter der Herrschaft der Kontinuität haben Anschauen und Nachdenken den Charakter eines gleichmäßig hingleitenden Stromes ohne Strudel und ohne Wasserfälle. Man fragt nicht. Keine Stockung und keine [25/26] Verwunderung motiviert ein Fragen. Oder wenn man fragt, lautet die Frage: Warum nicht? Warum nicht fortsetzen wie bisher, wenn nur hinlängliche Energie zur Fortsetzung der Expansion zugegen ist? - Aber sowohl im Leben als in der Wissenschaft werden sich mehr oder minder scharfe Arbeitsteilungen geltend machen und dadurch auch Widerstände und Gegensätze, an denen man nicht ohne weiteres vorbeigehen können wird. Man muß dann Mittelglieder zwischen den vorläufig isolierten Gliedern suchen, oder man muß eine Kontinuität suchen, die tiefer als die vorliegende Diskontinuität liegt, und innerhalb welcher die vorliegenden Sprünge oder Brüche als abgeleitet stehen können. Von rein pschologischer [psychologischer] Seite ist dies schon oben erwähnt; es ist überhaupt die Aufgabe der Psychologie zwischen den oft so scharfen Gegensätzen und Katastrophen, die sich innerhalb des Seelenlebens der unmittelbaren Wahrnehmung darstellen können, zu unterscheiden. Besonders ist hier James' Aufweisung transitiver im Gegensatz zu substantivischen Zuständen von Interesse. Psychologische Diskontinuität kann überhaupt nur ein Problem, nimmer eine Lösung bezeichnen. Analogerweise bedeutet in der Biologie die Mutationslehre, die plötzliches, von äußeren Verhältnissen unabhängiges Entstehen neuer organischer Arten annimmt, ein Auftreten neuer Probleme. Der Grundleger der Mutationslehre, Hugo von Vries, sprach gleich aus, daß Mutationen ebenso viele Probleme bezeichneten. Die moderne Quantenlehre in der Physik, infolge welcher Energie nicht kontinuierlich, sondern sprungweise ausgelöst wird  1 ), wird näher begründet durch mathematische Gesetze, nach welchen die springende Auslösung als notwendig dasteht. Jedenfalls sucht man theoretische Gesichtspunkte zum Verständnis der Diskontinuität. Sobald die Sprünge in einer Reihe geordnet werden können, ist die Arbeit, neue Konitnuität [Kontinuität] zu finden, schon begonnen.

Die hier liegenden Probleme wurden schon in der griechischen



1 ) Henri Poincaré: L'Hypothèse de Quanta. (Dernières Pensées. Chap. 6.) [26/27]

Philosophie gestellt. Das „Eine" des Parmenides bedeutet auf einmal Kontinuität und Identität; diese waren für ihn nicht verschieden. Dagegen wurde die Diskontinuität von Herakleitos und Demokritos behauptet. Durch den Platonismus und seine Widersacher setzt sich der Streit in der neueren Zeit fort. Kant betrachtete diesen Streit als eine rationale Notwendigkeit. Seine Lehre von den Antinomien will hier eine absolute Grenze der Vernunft aufzeigen. Der große Grundleger der kritischen Philosophie sah nicht, daß Diskontinuität nur in der Form eines Problems das letzte Wort des Gedankens werden kann, und seine „Antithesen", die ebendies aussagen, haben daher entschieden recht gegen die [,]„Thesen", die absolute Diskontinuitäten behaupten.

Kontinuität und Diskontinuität sind Korrelata, die einander gegenseitig supplieren. Sie bezeichnen verschiedene Gesichtspunkte und Funktionen, und die Geschichte der Wissenschaft zeigt, wie bald die eine, bald die andere dieser Kategorien in erster Reihe stehen, aber so, daß ihr Kampf immer wieder anfangen wird. Kein Forscher hat dieses Verhältnis besser beleuchtet als Henri Poincaré, besonders in folgender Äußerung  1 ): „Dieser Kampf wird dauern, solange man Wissenschaft treiben wird, solange die Menschheit denkt, denn sie entspringt aus zwei unversöhnlichen Tendenzen des menschlichen Geistes, zwei Tendenzen, die er nicht verlieren kann, ohne daß er zu existieren aufhört - nämlich dem Drange, zu begreifen (und wir begreifen nur das Begrenzte), und dem Drange, anzuschauen (und wir können nur Ausdehnung, die unbegrenzt ist, anschauen). Obgleich dieser Kampf nicht mit dem schließlichen Siege eines der Kämpfenden enden sollte, wäre er doch dafür nicht unfruchtbar, denn in jedem neuen Kampfe ist der Kampfplatz ein anderer; jedesmal wird daher ein Schritt vorwärts getan, und es wird eine Eroberung gemacht nicht für einen der Kämpfenden, sondern



1 ) Les conceptions nouvelles de la matière. (In dem Sammelwerke „Le Matérialisme contemporain". 1913.) S. 67. - Vgl. auch die interessante Diskussion in Bulletin de la société française de Philosophie. Vol. X. (1910.) [27/28]

für die Menschheit." - Zu dieser schönen und treffenden Äußerung muß ich doch die Bemerkung fügen, daß das Verhältnis zwischen Anschauen und Denken auch einen anderen Charakter als den von Poincaré angegebenen haben kann. Oft wird eben die Anschauung begrenzte Bilder festhalten, während der Gedanke mittels Gesetzeserkenntnis die Begrenzung jeder Anschauung und die Möglichkeit neuer Glieder in der Reihe der Bilder einsieht. Außerdem gibt es, wie schon oben angedeutet, mehrere Übergangsformen zwischen Anschauen und Denken, und in jedem einzelnen Falle werden bestimmte, in der Erfahrung gegebene Gegenstände entscheiden, ob Anschauen oder Denken das Wort führen soll.

Wo die Kontinuität festgehalten werden kann, wird es dadurch möglich sein, daß keine großen Verschiedenheiten in Zeit, Zahl, Intensität und Qualität zwischen den Gegenständen (Erlebnissen) des Bewußtseins hervortreten. Wo Ähnlichkeit vorherrscht, wird leicht und (jedenfalls anscheinend) kontinuierlich von dem einen Gegenstande zum anderen übergegangen. Ähnlichkeit und Verschiedenheit sind ein Begriffspaar, das dem Paare Kontinuität und Diskontinuität analog ist. Während es aber von der Kontinuität gesagt werden kann, daß sie nicht bemerkt wird, bevor sie vorbei ist, hat Ähnlichkeit einen etwas mehr bewußten Charakter. Sie steht nicht in dem genauen Verhältnis zum Anschauen wie die Kontinuität. - Je größer die Ähnlichkeit ist, um so leichter wird die Kontinuität erhalten werden können. Erst durch ausdrückliches, vielleicht willkürliches Vergleichen wird der Unterschied zwischen den verschiedenen Graden oder Arten der Ähnlichkeit entdeckt werden können. In meiner Psychologie und in „Der menschliche Gedanke" (S. 69 f.) habe ich fünf Arten der Ähnlichkeit unterschieden: Identität, Deckungsähnlichkeit, zusammnegesetzte [zusammengesetzte] Ähnlichkeit, Qualitätsähnlichkeit und Verhältnisähnlichkeit (Analogie). In dieser Reihe tritt das Verschiedenheitselement immer mehr hervor, und es ist wesentlich durch wachsende Verschiedenheit oder durch abnehmende Ähnlichkeit, daß wir von Kontinuität zu Diskontinuität kommen. [28/29]

Die Relationen Ähnlichkeit und Verschiedenheit sind von so wesentlicher Bedeutung, daß es berechtigt ist, Denken als Vergleichen zu definieren. Daß die zwei Relationen alles Denken, alle Kategorien beherrschen, sah schon Porphyrios, als er es für notwendig fand, eine Einleitung zu der aristotelischen Schrift von den Kategorien  1 ) zu schreiben, in welcher er die Begriffe Geschlecht, Unterschied, Art, Individuum und Eigenschaft erklärte. Diese Einleitung ward die Grundlage der vielen Diskussionen des Mittelalters über die objektive Bedeutung der Gemeinbegriffe (des Streites zwischen Nominalismus und Realismus). Die fünf Begriffe bilden eine fortschreitende Reihe in bezug auf Verschiedenheiten, also vom Abstrakten oder Allgemeinen zum Konkreten oder Speziellen. Für das Denken des Mittelalters, das überwiegend klassifikatorisch oder syllogistisch war, war die Frage, welche von diesen Begriffen im einzelnen Falle angewandt werden sollte, und mit welchem Recht sie angewandt wurden. Die neuere Wissenschaft unternimmt hier eine große Reduktion. Für sie ist nicht das Verhältnis zwischen höheren und niederen Begriffen entscheidend, sondern es kommt darauf an, ob ein Begriff einem anderen Begriffe in allen Rücksichten substituiert werden kann. Die Identität stellt jetzt alle anderen Arten von Ähnlichkeit in den Schatten. Und eben durch den grundlegenden Charakter des Identitätsprinzips als des Nerven alles Schließens und durch die davon bedingte scharfe Bestimmung des Identitätsbegriffs unterscheidet sich moderne Wissenschaft von dem gemeinen Denken, das es mit dem Verhältnis zwischen Identität und Ähnlichkeit nicht so genau nimmt. Parmenides hatte zwar gesehen, daß der Nerv des Denkens hier liegt, aber erst Leibniz legte den Identitätsbegriff zu grunde für die Logik, weil er Substitution möglich machte. Es ist in diesem Zusammenhange gleichgültig, ob man Identität als möglichst große Ähnlichkeit oder als möglichst kleine Verschiedenheit definiert; beide Definitionen erinnern an das korrelate Verhältnis zwischen



1 ) Isagoge in categorias. (Scholia in Aristotelem. ed. Brandis. S. 1.) [29/30]

Ähnlichkeit und Verschiedenheit. - Aber an dem entscheidenden Wendepunkte, der durch die Herrschaft des Identitätsbegriffs bezeichnet wird, gehen wir von den fundamentalen zu den formalen Kategorien über.


b) Der Relationsbegriff und die formalen Kategorien.





a ) Durch die Ausbildung der formalen Kategorien (Identität, Analogie, Negation, Rationalität) wird es möglich, genau bestimmte Relationen zu erreichen.

Der Identitätsbegriff wird gebildet als eine natürliche Fortsetzung der schon im praktischen Denken hervortretenden Tendenz, Reihen von Gegenständen zu bilden, die nach zunehmender Ähnlichkeit oder abnehmender Verschiedenheit geordnet sind. Durch diesen Begriff werden Gesichtspunkte ermöglicht, aus welchem nicht bloß eine Übersicht über die Relationen gewonnen werden kann, sondern auch die eine Relation vielleicht aus der anderen abgeleitet werden kann. Erst hier treten die erkenntnistheoretische und die psychologische Betrachtungsweise entschieden in Gegensatz zueinander. Psychologisch und historisch gibt es höchstens nur Annäherungen zur Identität, und der reine Identitätsbegriff wird vielleicht sogar abgewiesen, damit die von der Wahrnehmung dargebotenen Verschiedenheiten und Veränderungen zu ihrem vollen Rechte kommen können. Erkenntnistheoretisch wird die Sache von der entgegengesetzten Seite betrachtet: Verschiedenheiten und Veränderungen stehen als Unterbrechungen der Identität, die die erste Voraussetzung aller Wissenschaft und die Bedingung aller ernsten Problemstellung ist.

Die grundlegende Bedeutung des Identitätsbegriffs für wissenschaftliches Denken beruht darauf, daß seine Anwendung eine Voraussetzung der zwei wichtigsten Gedankenfunktionen, Klassifikation und Beweisführung, ist.

Eine Einteilung verschiedener Gegenstände kann nur dann von entscheidender Bedeutung werden, wenn es einen Gesichtspunkt gibt, aus welchem die Gegenstände trotz aller Verschiedenheit als identisch betrachtet werden können. [30/31] In Geschlechts- und Artbegriffen sind solche Gesichtspunkte gegeben. Die einzelnen Gegenstände, für welche solche Begriffe gelten, können, vom Gesichtspunkte des betreffenden Begriffs, als ein und derselbe Gegenstand betrachtet werden, was sich dadurch kundgibt, daß jeder von ihnen als Beispiel des Begriffs gebraucht werden kann. Die Verschiedenheiten der individuellen Gegenstände fallen nicht weg; sie können im Gegenteil als sehr scharfe Gegensätze hervortreten, eben weil man sie unter demselben Gesichtspunkte vereinigt. Nicht eine einzige der Eigenschaften, die infolge des Begriffs als „gemeinsam" betrachtet werden, wird vielleicht in den einzelnen Beispielen in ganz derselben Weise vorkommen. Es besteht aber eine Analogie zwischen den verschiedenen Gegenständen, indem das Verhältnis zwischen den Eigenschaften das gleiche sein wird.

Aristoteles behauptete mit großem Nachdruck, sowohl, daß die Wissenschaft nur mit dem Allgemeinen (dem Inhalte der Geschlechts- und Artbegriffe ) zu tun habe, als auch, daß das wirklich Existierende immer individuell sei. Vom Individuellen könnte man, seiner Auffassung nach, keinen Begriff bilden. Er hat dadurch, ohne sich dessen bewußt zu sein, ein großes Problem gestellt, das sich unter verschiedenen Formen durch die ganze spätere Geschichte des wissenschaftlichen Denkens streckt. Indem wir hier vorläufig die Frage nur vom Gesichtspunkte der Klassifikation betrachten, bemerken wir, daß doch Begriffe gebildet werden können, deren Inhalt solche Eigenschaften oder Verhältnisse ist, die, trotz aller Verschiedenheiten in den einzelnen Zuständen eines individuellen Gegenstandes, die Identität des Gegenstandes mit sich selbst ausdrücken kann. Solche typischen Individualbegriffe werden besonders innerhalb der Geisteswissenschaften möglich und notwendig sein. Zwischen den verschiedenen Zuständen eines und desselben Gegenstandes gilt, wie zwischen den verschiedenen Beispielen eines Allgemeinbegriffs, nur Analogie, keine Identität.

Wo weder Analogie noch Identität nachgewiesen werden kann, stehen wir einem Chaos gegenüber. Aber der Begriff des Chaos selber hat nur Bedeutung durch den Gegensatz [31/32] zur Identität. Es besteht ein Unterschied zwischen demjenigen Chaos, das für das gemeine Bewußtsein steht, wenn es von den Verschiedenheiten überwältigt wird, und demjenigen Chaos, das von einem Gedanken statuiert wird, der in ernster Arbeit nach Analogien und Identitäten geforscht hat und nun zuletzt die Arbeit niederlegen muß. Aber selbst in diesem letzten Falle kann es niemals mit Sicherheit behauptet werden, daß wir einer chaotischen Verschiedenheitsreihe gegenüberstehen. Streng genommen können wir nur sagen, daß es bisher nicht geglückt ist, Einheitspunkte für die Gegenstände, die solche Reihen bilden, zu finden. Wie Identität durch die möglichst große Ähnlichkeit oder die möglichst kleine Verschiedenheit definiert werden kann, so kann Chaos durch die möglichst große Verschiedenheit oder die möglichst kleine Ähnlichkeit definiert werden. Die Ähnlichkeit kann so klein sein, daß sie bisher nicht bemerkt worden ist, wie wir bei den Gegenständen, die wir als identisch betrachten, sagen können, daß die Verschiedenheiten so klein sind, daß sie nicht bemerkt werden.

Der Begriff der Negation taucht hier auf als Ausdruck einer Unterbrechung der Gedankenarbeit - hier der einteilenden Gedankenarbeit - wegen fehlender Ähnlichkeitspunkte. Die Geschichte der Klassifikation zeigt uns, daß man in solchen Fällen oft negative Begriffe (oder Begriffe, die nur negative Merkmale enthalten) bildet. Lamarck teilte die Tiere in Wirbeltiere und wirbellose Tiere ein; später aber fand Cuvier positive Merkmale und Grundlagen für eine positive Einteilung der Wirbellosen.

Die chaotische Verschiedenheitsreihe und die absolute Identitätsreihen bezeichnen zwei ideale Grenzlinien für unsere Erkenntnis, Grenzlinien, die in wirklicher Erkenntnis niemals nachgewiesen werden können. Die eine bezeichnet die Unmöglichkeit der Erkenntnis  1 ), die andere ihren Abschluß.



1 ) Stuart Mill versuchte alles Schließen auf einen assoziativen Übergang von einer Einzelheit zu einer davon verschiedenen Einzelheit zurückzuführen. Ein solcher Übergang ist aber schon rein psychologisch nur möglich, wenn die erste Einzel-[32/33]

Zwischen beiden liegt eine Stufenreihe von Gedankenreihen (einige der wichtigsten sind in „Der menschliche Gedanke" S. 162-174 dargestellt), die verschiedene Stufen, auf welchen die Erkenntnis sich seinem Ideal zu nähern sucht, aufweist.

Solange die Erkenntnis nur nach einer Klassifikation strebt, läßt sie die Verschiedenheiten bestehen und sucht nur eine geordnete Übersicht zu erreichen. In der Beweisführung dagegen hat der Identitätsbegriff aktive oder produktive Bedeutung als ein Mittel, neue Wahrheiten aufzuzeigen, vielleicht neue Gegenstände ohne Hilfe der Wahrnehmung zu finden. Hier tritt die Kategorie der Rationalität, die der Relation von Grund und Folge zugrunde liegt, hervor. Ihre Voraussetzung ist eine Identität von zwei Gegenständen, die uns dazu berechtigt, den einen statt des anderen zu setzen. Die zwei Prämissen, aus welchen der Schlußsatz hervorgeht, müssen einen Begriff enthalten, der in beiden identisch ist. Schon die Klassifikation macht Schließen möglich, sobald Art- und Geschlechtsbegriffe (oder typische Individualbegriffe) gebildet sind. Aber die Wissenschaft sucht einen Schritt weiter zu gehen. Sie bildet nicht nur Reihen von erkannten Gliedern, die nur durch neue Wahrnehmungen fortgesetzt werden können, sondern auch Reihen, die nach demselben Gesetze, nach welchem sie angefangen sind, fortgesetzt werden können. Hier tritt der Unterschied zwischen Logik und Mathematik hervor. Der Mathematiker stellt nicht nur das Identitätsprinzip als für die Einer, mit welchen er arbeitet, gültig auf, also 1 = 1;


[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 32]heit wiedererkannt wird; nur dann kann verstanden werden, wie sie die andere Einzelheit, mit der sie vorher zusammen vorgekommen war, hervorruft. Es ist doch eigentlich. die Analogie, die einen Schluß „von Einzelheit zu Einzelheit" möglich macht: wie sich A in einer früheren Wahrnehmung zu B verhielt, verhält sich jetzt A 1 zu B 1 . Auch nach dieser Auffassung muß doch Ähnlichkeit zwischen A und A 1 bestehen. In meiner Kritik von Stuart Mill habe ich dies schon hervorgehoben. Vgl. meine Geschichte der neueren Philosophie (in der zweiten Ausgabe II, S. 417 f.). Neulich ist dieser Punkt von Ettore Galli (Nel regno di cognoscere 1919, S. 159-167) sehr klar entwickelt worden. [33/34]

er behauptet auch, daß er aus diesen Einern eine Reihe bilden kann dadurch, daß Einer immer in derselben Weise zu Einer gefügt wird: also 1 + 1 + 1 . . . Eine Voraussetzung wie diese letzte kennt die reine Logik nicht. Für sie hat Wiederholung keine gedankenmäßige Bedeutung, so große psychologische und pädagogische Bedeutung sie auch haben kann. Die Logik hält sich an das Identitätsprinzip (und die damit mehr oder minder direkt zusammenhängenden Prinzipien). Die mathematische Grundvoraussetzung ist dagegen (außer dem Identitätsprinzip) die positive und produktive Bedeutung der Wiederholung. Diese Voraussetzung hat Henri Poincaré loi de recurrence genannt; er sieht in ihr das Prinzip dessen, was Kant ein apriorisch-synthetisches Urteil genannt hat  1 ).

Während die Klassifikation die qualitativen Verschiedenheiten bestehen ließ, indem sie nur geordnet wurden, sucht die moderne Naturwissenschaft die Qualitätsverschiedenheiten so zu bearbeiten oder zu reinigen, daß rein formale Reihen wie die oben erwähnten gebildet werden können, solche also, in denen neue Glieder immer nach demselben Gesetz, das schon den vorhergehenden Gliedern ihren Platz gegeben hat, konstruiert werden können. Es gibt vier Arten von Qualitätsverschiedenheiten, die besonders zu solcher Reinigung geeignet waren: Zeit, Zahl, Grad und Ort. Für die unmittelbare Wahrnehmung treten sie nicht als „rein", sondern als Qualitäten auf. Der Unterschied zwischen Zeiten, zwischen Orten, zwischen Zahlen und zwischen Graden ist ursprünglich ebenso qualitativ wie der zwischen Gelb und Blau, Härte und Weichheit. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt, welche Gedankenarbeit nötig war, damit die genannten vier Qualitätsreihen zu Reihen ausgebildet werden konnten, in welchen jedes Glied durch seinen Platz in der Reihe vollständig bestimmt ist, einen Platz, der durch das Verhältnis zu den anderen Gliedern bestimmt ist. Es ist nun gleichgültig, was die Augenblicke erfüllt oder an den verschiedenen Orten geschieht, was gezählt oder graduell bestimmt wird. Jedes einzelne Glied der Reihe



1 ) Vgl. Der Totalitätsbegriff. S. 54-58. [34/35]

wird betrachtet, als hätte es ganz den gleichen Inhalt wie die anderen Glieder; nur der Platz macht einen Unterschied. In kurzen Zügen habe ich diesen Reinigungsprozeß in „Der menschliche Gedanke" (S. 203 -220) geschildert, und ich gehe hier nicht näher darauf ein. Ich füge nur hinzu, daß die vier Reinigungsprozesse nicht unabhängig von einander verlaufen, sondern einander gegenseitig stützen. Dies wird dadurch möglich, daß die Kategorien periodisch entstehen; dadurch kann eine gewisse Entwicklung der einen Kategorie für die Entwicklung der anderen Bedeutung haben. Der Zeitbegriff hat sich so mit Hilfe des Zahlbegriffs und des Raumbegriffs entwickelt. Überhaupt hat besonders der Zahlbegriff den drei anderen Kategorien zu voller Entwicklung geholfen. Der Prozeß, durch welchen Einer zu Einer gefügt wird, ist einfacher und leichter als der, durch welchen Augenblick zu Augenblick, Grad zu Grad und Ort zu Ort gefügt wird. Schon Kant sah, daß wir im Zählen das einfachste Beispiel der „Synthesis des Gleichartigen" haben. Comte hat dies noch stärker hervorgehoben, und Gauß hat behauptet, daß die Zahl in höherem Grade als der Raum ein Produkt unseres eigenen Geistes ist  1 ).

Während solche typische Individualbegriffe, die konkrete Gegenstände angeben, nur durch beständigen Hinblick auf Wahrnehmung und durch Anlehnen an diese entwickelt werden können, gibt der erwähnte Reinigungsprozeß Möglichkeit für Bildung von Gedankenreihen, die nach demselben Prinzip, nach welchem sie angefangen sind, fortgesetzt werden können, und aus welchen Forderungen an die von der Wahrnehmung dargebotenen Gegenstände gestellt werden können.



1 ) In den von Erdmann herausgegebenen „Reflexionen" sagt Kant, daß eigentlich nur Zahl und Größe aus reiner Vernunft konstruiert werden können, weil bei ihnen nur Wiederholung erforderlich ist. (Vgl. Der Totalitätsbegriff, S. 56 Anm.) - Comte fand in den reinen Zahlspekulationen „la véritable origine de tout le système scientifique". (Discours sur l'esprit positif. 1844. S. 100.) - Gauß erklärte in einem Briefe die Zahl als ein Produkt unseres Geistes, während der Raum auch eine Realität außer diesem hätte. (Siehe die Zitate bei E. Mach: Erkenntnis und Irrtum. S. 384.) [35/36]


b ) Bei der Bildung der erwähnten reinen Qualitätsreihen liegt überall der Identitätsbegriff zugrunde, indem sie dadurch charakterisiert sind, daß die Begriffe Zeit, Zahl, Grad und Ort von jedem Inhalte, der die Zeit ausfüllt, die Zahl ausmacht, den Grad hat und den Ort annimmt, freigemacht sind; mit dem Inhalt fallen auch die realen Verschiedenheiten innerhalb derselben Reihe weg. Wenn sie noch Qualitätsreihen genannt werden, ist es, weil die gegenseitigen Unterschiede zwischen Zeit, Zahl, Grad und Ort fortwährend bestehen. Es gibt, wie später näher besprochen werden wird, eine Tendenz dazu, die Zahl als zuletzt herrschend und alle Erkenntnis als ein System von Gleichungen aufzufassen. Doch kämpfen hier, wie Meyerson gezeigt hat  1 ), Algebra und Geometrie um den Vorrang. Die Frage selbst gehört unter die realen Kategorien.

So hohen Grad der Exaktheit nun auch von der mit den erwähnten Reihen arbeitenden Erkenntnis erreicht werden kann, meldet sich der Relationsbegriff doch wieder in diesen reinen Regionen. Auf drei Punkten tritt dies hervor.

Identität ist selbst eine Relation: das Verhältnis eines Gedankens oder eines Gegenstandes zu sich selbst unter verschiedenen Umständen. Diese Verhältnisbestimmtheit kann bei keiner Definition der Identität wegfallen. Ob man nun von der möglichst großen Ähnlichkeit oder von der möglichst kleinen Verschiedenheit spricht, die Relation wird nicht ausgeschlossen. Und besonders deutlich wird dies, wenn man die experimentale Definition Leibniz' anwendet: identisch sind die Gedanken oder Gegenstände, die überall einander ohne Aufhebung der Gültigkeit (salva veritate) substituirt werden können  2 ). Wenn die Möglichkeit der Substitution



1 ) De l'Explication dans les Sciences. I. S. 264; II. S. 167; 204-220.
[1]2 ) Wie in „Der Totalitätsbegriff" (S. 65) erwähnt, haben sich unter dänischen Mathematikern verschiedene Auffassungen der Frage geltend gemacht, ob ihrer Wissenschaft Grundsätze, die absolute Identität ausdrücken, notwendig sind, oder ob Annäherungen zu einer solchen hinlänglich sind. Dieser Gegensatz erinnert an die zwei verschiedenen Definitionen der Identität [36/37]

entscheidend ist, macht man ja von der Relation zwischen den betreffenden Gedanken oder Gegenständen Gebrauch; die Gültigkeit hört auf, wenn solche Relation durch die Substitution geändert wird. Sogar bei der Identität 1 = 1 muß die Frage entstehen, ob wir wirklich Einer haben, die einander substituiert werden können. In der Diskussion über Fechners Versuch, dem Weberschen Gesetze eine streng mathematische Formulierung zu geben, wurde diese Frage erhoben.

Zweitens setzt die Aufstellung und die Anwendung des Identitätsbegriffs immer einen bestimmten Gesichtspunkt voraus, aus welchem er gilt. Bei der Klassifikation ist es deutlich, daß die Identität nur für gewisse Kennzeichen, die immer wiederkommen, gilt, während in den einzelnen Fällen wenigstens Analogie vorliegt. Aber auch die Identität, die der Nerv jeder Beweisführung ist, gilt nur von einem gewissen Gesichtspunkte aus. Die Identität ist stets durch Reinigung erreicht, das heißt dadurch, daß von Gesichtspunkten, welche die betreffende Sache nicht angehen, weggesehen wird. Wenn die verschiedenen Naturkräfte als Energien bestimmt, das heißt durch das Vermögen, eine Arbeit auszuführen, gemessen werden, dann ist damit ein einheitlicher Gesichtspunkt erreicht, ebenso, wie wenn man sonst höchst verschiedene Dinge allein unter dem Gesichtspunkte


[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 36] als möglichst großer Ähnlichkeit und als möglichst kleiner Verschiedenheit. In der letzten Arbeit, die von der Hand Zeuthens vorliegt (Hoorleden Mathematiken i Tiden fra Platon il Euklid blev rational Videnskab. [Wie die Mathematik in der Zeit von Platon zu Euklid rationale Wissenschaft ward.] Schriften der dän. Gesellsch. der Wissenschaften, 1917, S. 80), sagt er, daß die Anwendbarkeit des geometrischen Systems Euklids darauf beruht, daß die empirischen Linien die in den Postulaten angegebenen Eigenschaften haben, was Euklid voraussetzt, oder, wenn man will, inwiefern sie sie haben. Durch dieses „inwiefern" wird sicher auf die von Hjelmslev geltend gemachte Auffassung hingedeutet, nach welcher ideale Definitionen wie die euklidische nicht notwendig sind, man aber von solchen Linien und Figuren, die gezeichnet werden können, ausgehen kann. [37/38]

der Schwere betrachtet. Bis zur Entdeckung der Spektralanalyse betrachtete man, auf Grundlagen der Newtonschen Physik, die Himmelskörper wesentlich unter dem Gesichtspunkte der Schwere. Durch Anlegung eines rein quantitativen Gesichtspunktes, die nur möglich wird, wenn man sich an gewisse bestimmte Eigenschaften hält, können sonst sehr verschiedene Gegenstände als identisch betrachtet werden. Wie in den beschreibenden Wissenschaften Qualität durch Hilfe der Geschlechts- und Artbegriffe zu Identität reduziert werden kann, so kann in den exakten Wissenschaften Qualität mit Hilfe von Quantitätsbestimmungen zu Identität reduziert werden  1 ). Platon hat in beiden Richtungen tiefsinnige Andeutungen gegeben; was den letztgenannten Punkt betrifft, setzt Galilei in genialer Weise seinen Gedanken fort.

In dem griechischen Denken wurde öfter eine Art Kultus mit „dem Einen", dem Inbegriffe der reinen Identitäten, getrieben. Dies zeigt sich bei Parmenides und Platon und erreicht seinen Höhepunkt im Neuplatonismus. Für das Denken der neueren Zeit ist Identität kein Gegenstand der Kontemplation, sondern ist ein großes Gedankenmittel, wie es in Leibniz' experimentaler Definition deutlich hervortritt. Und nicht minder wesentlich ist es, daß wir jetzt einen weiteren Schritt machen, indem wir fragen, von welchem Gesichtspunkte aus die Identitäten gelten. Wir verlieren dadurch nicht die Ideenwelt. Im Gegenteil, die Gesichtspunkte, von welchen aus Identitäten möglich sind, machen für uns die wahre Ideenwelt aus, und die Erkenntnistheorie gibt durch diese Betrachtung einen wichtigen Beitrag zur Erörterung des Daseinsproblems. Die Tatsache, daß es Gesichtspunkte gibt, durch welche die strengste für Menschen erreichbare Erkenntnis möglich wird, muß von großer Bedeutung für eine letzte, abrundende Weltanschauung sein. -

Drittens bewirkt eben die Bildung von qualitativen Identitätsreihen, daß die Relationen schärfer als vor der Reinigung hervortreten. In den erwähnten Reihen ist jedes



1 ) Der menschliche Gedanke. S. 193-197. [38/39]

Glied ausschließlich durch seinen Platz im Verhältnis zu den anderen Gliedern bestimmt. Ein Augenblick hat, von seinem Inhalt ganz abgesehen, einen individuellen Charakter dadurch, daß er gewissen Augenblicken nachfolgt und gewissen anderen Augenblicken vorausgeht. Die Augenblicke dienen einander zu gegenseitiger Ausmessung ihrer Individualitäten. Das gleiche gilt von der Zahl: jede Zahl in der Zahlenreihe ist eine Individualität, eben durch ihr bestimmtes Verhältnis zu anderen Zahlen. Malebranche hat bemerkt, daß die ganzen Zahlen Relationen sind wie die Brüche, obgleich man es leicht übersieht, weil eine ganze Zahl durch ein einziges Zeichen ausgedrückt werden kann. Wie später Gauß gesagt hat: „Jede reelle ganze Zahl repräsentiert die Relation eines beliebig als Anfang gewählten Gliedes zu einem bestimmten Gliede der Reihe"  1 ). Der Kultus gewisser Zahlen, die in den Volksreligionen so häufig sind, wurden nur dadurch möglich, daß man solche Zahlen aus der Reihe, innerhalb welcher sie allein ihre Individualität haben, herausnahm. - Was für Augenblicke und Zahlen gilt, gilt analog auch für Grade und Orte. Dies bedarf hier keines näheren Nachweises. Was den Ort (den Raum) betrifft, wird uns ein speziellerer Zusammenhang Gelegenheit geben, die Frage wieder aufzunehmen. Interessant ist doch eben im gegenwärtigen Zusammenhange die Bemerkung von Poincaré, daß die Relativität und die Gleichartigkeit des Raumes ein und dieselbe Sache sei  2 ). -

g ) Zu den formalen Kategorien haben wir außer Identität und Analogie auch Negation und Rationalität gerechnet.



1 ) Malebranche - Recherche de la Vérité. VI, 1, 5. Gauß, zitiert bei Cassirer: Substanz und Funktion. S. 72. - Dies wird doch ausdrücklich von Bertrand Russell (Introduction to Mathematical Philosophy. S. 64) verneint. Für ihn ist die Zahl an sich keine Relation; anders verhält es sich mit + m und - m. Eine Zahl ist für Russell's platonisierende Auffassung ein an und für sich Existierendes, von den Relationen, in welchen sie gesehen werden, ganz abgesehen. Russell unterscheidet auch bestimmt zwischen m und m/1, das eine Relation sei.
2 ) Science et Méthode. S. 113. [39/40]

Auch hier ist kein ausführlicher Nachweis der beständigen Geltung des Relationsbegriffes notwendig.

Jedes Nein setzt ein (wirkliches oder mögliches) Ja voraus. Eine Negation ist rein logisch das Zeichen eines Weges, der nicht befahren werden kann, und setzt also Versuche, einen solchen Weg zu gehen, voraus. Oder sie setzt einen Vergleich zwischen zwei Anschauungen voraus, von welchen die eine Elemente enthält, die in der anderen fehlen. Mathematisch kann Negation eine Aufforderung sein zur Reihenbildung in einer anderen Richtung als der früheren.

Rationalität bedeutet in sich selbst die Relation zwischen Prämissen und Konklusion. Und überall, wo Begründung gefordert wird, wird nach den Voraussetzungen unseres Urteils gefragt. Eine unbedingte Notwendigkeit gibt es nicht. Notwendigkeit drückt eben nur das Verhältnis von Grund und Folge aus, ein Verhältnis, das immer wieder in Frage kommen muß, solange man noch denkt, es sei nun im einzelnen Falle möglich, dieses Verhältnis zu finden oder nicht.

Wie wir bei der Klassifikation zu dem Analogiebegriffe kamen, wenn Artbegriffe nicht mehr gebildet und nur Analogien zwischen individuellen Gegenständen möglicherweise gefunden werden konnten, so kommen wir, was Beweisführung betrifft, zu den sogenannten Analogieschlüssen, die Aristoteles treffend Schlüsse aus einzelnen Beispielen genannt hat. Durch die Verhältnisse innerhalb eines Gegenstandes werden wir veranlaßt, entsprechende Verhältnisse innerhalb eines anderen Gegenstandes zu vermuten. Je mehr Beispiele wir hier finden können, um so mehr nähert die Analogie sich der Induktion. Sie hat übrigens (gleich wie die Induktion) nur Bedeutung als Entdeckungsmethode, das heißt als Veranlassung, Sätze, die näher geprüft werden können, aufzustellen; Beweis kann sie niemals werden. Man hat sie daher treffend einen guten Diener, aber einen schlechten Herrn genannt. Daß aber auch die Analogie immer auf bestimmten Voraussetzungen beruht, bedarf keines näheren Nachweises. [40/41]


c) Der Relationsbegriff und die realen Kategorien.





a ) Die Frage entsteht natürlich, ob es möglich ist, solche Reihen, deren Möglichkeit die formalen Kategorien uns gezeigt haben, auf Gegenstände, die uns ganz abgesehen von unseren Konstruktionen gegeben sind, anzuwenden; anders ausgedrückt: ob wir von solchen Gegenständen Reihen bilden können, die in dem einen oder dem anderen Grade jenen formalen Reihen entsprechen und dadurch der Notwendigkeit, die diese auszeichnet, teilhaft werden können, - also ob eine Rationalisierung gegebener Gegenstände möglich ist. Die Relation zwischen Grund und Folge ist nun einmal das Vorbild aller Notwendigkeit.

Diese Frage veranlaßt eine Erörterung der realen Kategorien (Kausalität, Totalität, Entwicklung), die ich in „Der menschliche Gedanke" (S. 226-260) angestellt habe. Hier beschränke ich mich darauf, die Bedeutung des Relationsbegriffes auf dem Gebiete dieser Kategorien zu beleuchten.

Historisch haben die realen Kategorien nicht auf die formalen gewartet; eher sind sie es, die die Entwicklung der formalen veranlaßt haben. Es zeigt sich hier deutlich, daß die Wissenschaft sich aus dem praktischen Leben und dem gesunden Menschenverstande entwickelt hat. Die realen Kategorien, besonders der Kausalitätsbegriff, haben ihren faktischen Ursprung in dem Bedürfnis nach Orientierung im Dasein, die sowohl für Tiere als für Menschen eine Lebensbedingung ist. Hier zeigt sich deutlich, wie das Denken sich aus dem Zweifel entwickelt. Wenn Enttäuschung, Widerstand oder Widerspruch der unwillkürlichen Zuversicht zu allen auftauchenden Empfindungen und Vorstellungen ein Ende machen, gibt es keinen anderen Ausweg als den, neue Empfindungen und Vorstellungen zu suchen, die einen festeren Zusammenhang als den zerbrochenen darbieten und dadurch zuversichtliche Weiterführung des Lebens möglich machen können. Dies heißt aber, daß der Kreis der Relationen erweitert wird, bis die verschiedenen Gegenstände in festen, unumgänglichen [41/42] Verhältnissen zueinander erscheinen. Kausalität oder gesetzmäßiger Zusammenhang liegt aller Überzeugung von Realität zugrunde, wenn eine solche Überzeugung nach der Zerstörung der unwillkürlichen Zuversicht zum unmittelbar gegebenen Zusammenhang möglich sein soll. Dieses Wirklichkeitskriterium wird in der Wissenschaft durch nähere Prüfung und Bestimmung der den Zusammenhang der Gegenstände bedingenden Relationen vertieft und präzisiert. Über alle Relationen hinaus kommt der Gedanke nicht. Die Wirklichkeit von irgend etwas, das in gar keiner Relation stehen sollte, kann nicht begründet oder bewiesen werden. Wirklichkeit und Relation gehören nun einmal zusammen. Jede Konstatierung der Wirklichkeit eines Dinges besteht in dem Nachweis einer festen Relation zwischen diesem Dinge und dem Kreise von Dingen, die bisher durch gegenseitigem festen Zusammenhang als wirklich dastehen; das eine Zirkelbein des Gedankens steht in diesem Kreise, und durch das andere Zirkelbein wird die Relation zwischen dem Kreise und dem Dinge, dessen Wirklichkeit in Frage ist, ausgemessen. Erhebt sich ein Zweifel wegen der bisher anerkannten Wirklichkeit, muß auch das erste Zirkelbein anderswohin gestellt werden, und so fort. Beide Zirkelbeine müssen bei jeder Erkenntnis eines Wirklichen gebraucht werden. Wird man genötigt, auf dem einen zu stehen, ohne einen sicheren Platz für den anderen finden zu können, ist man in einem Zustande von Zweifel, Erwartung oder Sehnsucht  1 ).



1 ) Thomas Aquinas versuchte den theologischen Gottesbegriff von aller Relation dadurch zu befreien, daß er behauptete, die Welt stehe zwar in Relation zu Gott, Gott aber nicht zur Welt. (Vgl. hierüber meine Religionsphilosophie § 22.) Thomas schloß sich hier der Mystik, besonders Hugo a St. Victore an, und die ist wieder vom Neuplatonismus beeinflußt. Von diesem Gedankengange aus hat ein moderner katholischer Theologe Spinoza kritisiert, weil er die Behauptung nicht gewagt hat, daß der Abhängigkeit der Welt von Gott keine Abhängigkeit Gottes von der Welt entspreche. (Dunin-Borkowski: Der junge Spinoza. S. 357.) Eine Relation setzt nun aber immer zwei Glieder voraus, und wie man sich auch [42/43]


Wegen der genauen Verbindung, die zwischen Kausalität und Wirklichkeitskriterium besteht, und die sich darin zeigt, daß wir nur dann eine begründete Überzeugung von Wirklichhaben können, wenn wir Gegenstände als Ursache und Wirkung verbinden können, war es ein revolutionärer Schritt von Hume, die Berechtigung der Anwendung des Kausalitätsbegriffes zu bezweifeln. Es war ein Angriff sowohl auf die wissenschaftliche Erkenntnis des Daseins als auf das praktische Wirklichkeitskriterium. Seine Kritik beruht aber auf der Voraussetzung, daß Ursache und Wirkung zwei ganz verschiedene Dinge wären - Glieder einer chaotischen Verschiedenheitsreihe. In einer solchen Reihe fehlt der feste Zusammenhang, indem man ihre Glieder in jede mögliche Ordnung stellen kann. Nun ist es doch eine Tatsache, daß bisweilen Reihen gegenüberstehen, deren Glieder nicht vertauscht werden können, und in dieser Tatsache sah Kant einen Ausgangspunkt sowohl für die Kausalitätstheorie als für den Wirklichkeitsbegriff. Und die Geschichte der Wissenschaft zeigt, wie das äußerliche Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung auf vielen Gebieten mehr und mehr von einem Kontinuitätsverhältnisse zwischen den Dingen, die im Kausalitätsverhältnis zueinander stehen, und dieses wieder von einem Rationalitätsverhältnisse (indem spätere Glieder in der Reihe der Begebenheiten aus dem Gesetze der Reihenfolge der früheren abgeleitet werden können) abgelöst wird.

Selbst wenn die Reihen, die in dieser Weise gebildet werden, im höchsten Grade kontinuierlich und rational werden, bleibt der Wirklichkeitsbegriff doch immer ein Ideal, das nimmer vollständig mit Wahrnehmung belegt werden kann. Es werden immer neue Mittelglieder gefunden werden können, und neue Gegenstände können auftauchen, deren kontinuierliche und rationale Verhältnisse zu den früheren nachgewiesen werden müssen. Wirklichkeit bedeutet immer eine Relation


[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 42] zum Gottesbegriffe Spinozas stellt, muß man die Konsequenz anerkennen, mit welcher er auf diesem Punkt den Relationsbegriff festhält. [43/44]

zu den bisher gebildeten kontinuierlichen und rationalen Reihen. Und die Möglichkeit kann nie ausgeschlossen werden, daß diese Reihen mit ganz anderen Reihen ersetzt werden müssen, oder daß (um das oben gebrauchte Bild anzuwenden) beide Zirkelbeine neue Stellungen einnehmen müssen.

Herbert Bradley hat mit Recht den Erfahrungsbegriff bei der für uns unabschließbaren Charakteristik des Daseins benutzt. Erfahrung ist für Bradley der Maßstab der Realität; weil aber Erfahrung immer durch Nachweis von Relationen gewonnen wird und neue Relationen sich immer geltend machen können, sei eine vollständige Erfüllung der Forderungen dieses Maßstabes unmöglich. Bradley ist auf einmal davon überzeugt, daß wir immer in Relationen denken, und daß eine vollständige Lösung des Wirklichkeitsproblems von dem Relationsbegriffe (the relational point of view) unmöglich ist  1 ).

Die Lösung kann, darin behält Bradley recht, nimmer vollständig erreicht werden. Die Erkenntnisarbeit geht aber immer darauf aus, neue Relationen zu finden und einen Zusammenhang zwischen ihnen und den früher gefundenen Relationen nachzuweisen, vielleicht so, daß diese durch jene berichtigt werden. Ohne hier auf Fragen, die unter das Daseinsproblem gehören, zu kommen, muß behauptet werden, daß die Erkenntnisarbeit selbst eine Wirklichkeit ist, ein Glied der großen Wirklichkeit, die vielleicht mehr umfaßt, als was irgendeine Gedankenarbeit umspannen können wird. Und wenn der Teil der Wirklichkeit, die in Erkenntnisarbeit besteht, nimmer abgeschlossen werden können wird, kann man vielleicht daraus schließen, daß das Dasein selbst nicht fertig ist oder fertig werden kann. Eine solche Vermutung  2 ) setzt freilich voraus, daß die Zeitform für das Dasein, nicht nur für



1 ) Appearance and Reality. S. 171: When thought begins to be more than relational, it ceases to be mere thinking. S. auch S. 445; 519.
2 ) Vgl. schon meine Philosophische Probleme (Deutsche Übers. 1903) und A philosophical confession (Journal of Philosophy, Psychology and Scientific Method 1904). [44/45]

unser Denken gilt. Bradley aber verneint entschieden, daß Denken ein Teil der Realität ist: The process which moves within Reality, is not Reality itself. Philosophy is itself but appearance  1 ).

Das tiefsinnige Hauptwerk Bradleys ist Kosmologie („Metaphysik"), nicht eigentlich Erkenntnistheorie. Er stellt Realität in Gegensatz zu Wahrheit: wenn die Wahrheit vollkommen wäre, hörte sie auf, Wahrheit zu sein, denn dann träte die Realität in ihrer Reinheit auf. Aus diesem Standpunkte folgt, daß, obgleich Bradley auf den Relationsbegriff so großes Gewicht legt, daß er Denken als Suchen nach Relationen definiert, faßt er doch dieses Suchen als eine Unvollkommenheit auf, weil Abschluß und Totalität dadurch ausgeschlossen werden. Und hiermit hängt es ferner zusammen, daß er die Bedeutung der Relationen, mit welchen die speziellen Wissenschaften, jede auf ihrem Gebiete, arbeiten, verkennt. Er hat den Relationsbegriff als Grundlage und Maßstab alles Wahrheitsuchens klar gesehen; aber sein eigenes System ist eigentlich ein kristallisiertes Wahrheitsideal, ein Versuch, die Erfahrung als vollständig (experience entire, containing all elements in harmony S. 172) zu denken - ein Versuch, der unmöglich durchgeführt werden kann, wenn wir, wie Bradley, das Denken als relational auffassen  2 ). -

Der Nachweis kontinuierlicher Reihen von Gegenständen mit unvertauschbaren Gliedern ist noch nicht das höchste Ideal der Wissenschaft. Zwar wird dadurch das äußerliche Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung vorläufig aufgehoben, aber es verschwindet nicht ganz. Einen Schritt weiter führt der Nachweis gegenseitiger Äquivalenz zwischen verschiedenen Gegenständen (Erlebnissen). Dann kann der erste Gegenstand aus dem zweiten und dieser aus jenem abgeleitet werden.



1 ) Appearance and Reality. S. 448; 554.
2 ) In derselben Richtung wie die hier gegebene Kritik von Bradley gehen die kritischen Bemerkungen von Haldane (The Reign of Relativity. 1921. S. 203-211), der sonst Bradley nahe steht. - Haldane's Buch kam erst in meine Hände, nachdem meine Abhandlung abgeschlossen war. [45/46]

Dies tritt deutlich hervor, wenn das Äquivalenzverhältnis als eine Gleichung formuliert wird. Es ist dann (in der Theorie) gleichgültig, von welcher Seite des Gleichheitszeichens man beginnt, und weder der qualitative Unterschied noch der Zeitunterschied zwischen den beiden Gegenständen hat dann Bedeutung; ein absolutes Identitätsverhältnis ist erreicht. Die Qualitäten (zu denen auch die Zeit, die Sukzession gerechnet werden kann) stehen dann als bloße „Anthropomorphismen", als subjektive Gegenstände (Erlebnisse), die von der strengen Wissenschaft nicht beachtet werden. Man geht hier einen Schritt weiter als die mechanische Naturauffassung, die zwar von den eigentlichen Qualitäten wegsah, aber die Zeit noch als objektive Form anerkannte, indem Bewegung das einzige Existierende war; freilich wurde dieses Existierende durch die subjektive Auffassung „verfälscht"  1 ). Man geht einen bedeutenden Schritt weiter, wenn man annimmt, daß die Zeit umgekehrt werden kann, so daß die Ordnung der Begebenheiten zuletzt gleichgültig wird.

Im Gegensatz zu einer solchen Auffassung, die oft von mathematischer und naturwissenschaftlicher Seite behauptet wird, und die in philosophischer Form von der Marburger Schule durchgeführt ist, muß erklärt werden, daß die Welt reiner Gleichungen, in welcher strenge Wissenschaft endet, oder nach der sie jedenfalls strebt, ihre Bedeutung nicht verliert, weil die Behauptung festgehalten wird, daß ein Verhältnis zwischen „vor" und „nach" nimmer vollständig in ein Verhältnis der reinen Identität aufgehen kann. Weil ein gegenseitiges Äquivalenzverhältnis zwischen zwei qualitativ verschiedenen Dingen (wie Wärme und Bewegung) besteht, ist es doch nicht gleichgültig, welches von ihnen zuerst auf-



1 ) Thomas Hobbes hat, teils auf eigenem Wege, teils unter persönlichem Einfluß von Galilei, eines der ersten Vorkämpfer einer streng mechanischen Naturanschauung, in seiner poetischen Selbstbiographie die gewonnene Einsicht (Bewegung, als das Einzige) so ausgedrückt:
Et mihi visa qvidem est toto res unica modo
Vera, licet multis falsificata modis. [46/47]

tritt und welches nachfolgt. Es geschieht etwas Verschiedenes in den zwei Fällen, was deutlich gesehen wird, wenn die Reihe in neuen Gliedern weitergeführt wird: selbst wenn A und B äquivalent sind, wird doch von B ein Übergang zu C möglich sein können, der nicht von A aus möglich wäre. Carnot's Satz zeigt, daß der Übergang zwischen Wärme und Bewegung nicht in beiden Richtungen gleich leicht geschieht. Aber der streng mathematische Abschluß der Naturerkenntnis hat seine Bedeutung darin, daß dem rein zeitlosen, logisch-mathematischen Verhältnisse zwischen den Gliedern der Gleichungen ein zeitlicher Übergang zwischen verschiedenen Erlebnissen entspricht. Es ist mittels Analogie, daß die logisch-mathematische Erkenntnis ihre unschätzbare Bedeutung zu erweisen hat. In den Gleichungen kann der Kundige den Verlauf der Erscheinungen ablesen, wie der Musiker in der Partitur den Lauf der Töne ablesen kann.

Diese Auffassung wird schon von Kant angedeutet, wenn er lehrt, daß zwischen Grund und Folge einerseits, Ursache und Wirkung anderseits ein Analogieverhältnis, aber kein Identitätsverhältnis besteht. Später ist sie in bedeutungsvoller Weise von Clerk Maxwell (im zweiten Bande seiner „Scientific Papers") geltend gemacht worden. In meinem „Philosophische Probleme" (1903), in „Der menschliche Gedanke" (1910) und in „Der Totalitätsbegriff" (1917) habe ich dieselbe Auffassung entwickelt.

Daß das Verhältnis zwischen einer Reihe von Gleichungen und einer Reihe von qualitativen Veränderungen kein logisches Identitätsverhältnis ist, kann daraus eingesehen werden, daß man aus der reinen Logik und Mathematik das Bestehen einer zeitlichen Welt mit qualitativen Unterschieden nimmer ableiten könnte. Es geht mit jener Welt der Gleichungen wie mit der Ideenwelt Platon's (die hier in einer neuen Form auftritt): man kann vielleicht zu ihr aufsteigen, aber die Leiter fällt weg, sobald man hinauf gekommen ist. (Vgl. die dritte Einwendung gegen die Ideenlehre in Platon's „Parmenides".) Und dazu kommt noch, daß ein abschließender Beweis der realen Gültigkeit der absoluten Ideenreihen nicht [47/48] gegeben werden kann, weil neue Relationen immer möglich sind, deren Analogien mit den gefundenen Identitätsreihen erst nachgewiesen werden müssen. Auch hier zeigt es sich, daß der Relationsbegriff Wahrheit und Wirklichkeit als Ideale stehen läßt, die nur unter fortwährender Arbeit annähernd erreicht werden können. -

Emile Meyerson hat in seinen erkenntnistheoretischen Werken auf den Unterschied zwischen der Erkenntnis eines gesetzmäßigen Verlaufs von Erlebnissen und der rationalen Erklärung eines solchen Verlaufs sehr großes Gewicht gelegt. Besonders in dem neulich erschienenen großen und tiefgehenden Werke „De l'Explication dans les Sciences" (1921) sucht er diesen Unterschied durch einen Reichtum von Beispielen aus der Geschichte der Naturwissenschaften zu beweisen, um welchen jeder, der sich mit Erkenntnistheorie beschäftigt, ihn beneiden könnte. Ich bin im ganzen mit ihm einig; nur benutze ich eine andere Terminologie. Schon in dem Abschnitte meiner Psychologie, der von dem Übergange von Psychologie zu Erkenntnistheorie handelt, zeigte ich, daß die Wissenschaft bei der bloßen Konstatierung einer unumgänglichen und unvertauschbaren Reihenfolge zweier Erlebnisse nicht stehen bleibt und nicht stehen bleiben kann, daß sie aber, nachdem eine solche Reihenfolge (und damit ein „Gesetz" in der populären Bedeutung der Worte) nachgewiesen ist, die Aufgabe sich stellt, einen kontinuierlichen Übergang von dem einen Gliede des Kausalitätsverhältnisses zum anderen zu finden, so daß die „Wirkung" als eine Fortsetzung der „Ursache" dastehen kann, eine Fortsetzung, die eine Analogie zu der Weise, in welcher in einem Schlusse die Konklusion aus den Prämissen „folgt", bildet. Es ist dies das große Ideal, das von den Denkern des siebzehnten Jahrhunderts aufgestellt wurde, wenn sie forderten, daß nichts in der Wirkung sein dürfte, das nicht schon in der Ursache enthalten war. Die Kontinuität, die erreicht wird, wenn dieses Ideal wenigstens annähernd erreicht wird, ist, soviel ich sehe, was Meyerson Rationalität nennt, die durch „Erklärung" erreicht wird. In einem sehr lehrreichen Beispiel (I, S. 315) zeigt er, wie die Wissenschaft nicht nur ein gesetz-[48/49]mäßiges Verhältnis zwischen gewissen optischen Erscheinungen und der chemischen Struktur eines Stoffes nachweist, sondern auch einen zusammenhängenden Prozeß zu finden sucht, der mit der Einwirkung des Lichts anfängt und durch die Bewegungen fortgesetzt wird, die durch diese Einwirkung im Inneren der Moleküle hervorgerufen werden, und die wieder gewisse Bewegungen in den vom betreffenden Stoffe beeinflußten Sinnesorgan hervorrufen. Es ist also eine kontinuierliche Reihe von Bewegungen, die konstatiert werden. Aber sofern es möglich ist, dieses Schema durchzuführen (und Meyerson hebt die Schwierigkeiten stark hervor), kann es doch nur durch den Nachweis einer Reihe von Gesetzen (für die Reflektion des Lichts, für den inneren Bau der Moleküle usw.) geschehen, und ich sehe nicht, welcher Unterschied dann zuletzt zwischen Gesetzmäßigkeit (légalité) und Rationalität übrig sein wird. Meyerson sieht denn auch klar, daß jede Gesetzeserkenntnis, oft dem Entdecker unbewußt, ein inneres Band zwischen den Gegenständen, die durch das Gesetz verbunden werden, voraussetzt (II, S. 289), und er gesteht (II, S. 337), daß Legalität und Rationalität in der Wirklichkeit so genau (inextricablement) verbunden sind, daß man nur beim Nachdenken über die Grundlage der Wissenschaft die zwei Prinzipien voneinander scheiden kann. Nach meiner Auffassung gibt es hier nicht zwei Prinzipien, sondern ein und dasselbe Prinzip wird mit steigender Genauigkeit und Konsequenz durchgeführt.

Daher glaube ich nicht, daß Meyerson in seiner Kritik von Comte ganz recht hat, wenn er diese Kritik so formuliert, daß Comte zwar Gesetzmäßigkeit, aber nicht Rationalität als die Aufgabe der Wissenschaft anerkennt. Comte selbst spricht (im „Discours sur l'esprit positif" S. 20-21) bestimmt aus, daß die Aufgabe der Wissenschaft sowohl Erklärung als Voraussehen ist, und daß die Wissenschaft „durch ihre systematischen Spekulationen dem unwillkürlichen Einheitsdrange unseres Verstandes entgegenkommt, indem die Kontinuität und Gleichartigkeit der verschiedenen Begriffe durchgeführt wird". Eine andere Sache ist es, daß Comte [49/50] nicht der Meinung war, daß dieses Ideal ganz realisiert werden könnte, teils, weil die faktischen Diskontinuitäten ihm unüberwindlich vorkamen, teils, weil er eine Religion stiften wollte, deren Dogma in den bisher (c: bis 1830) gewonnenen Resultaten der Wissenschaft enthalten sein sollten. Die Kritik von Comte muß so formuliert werden: er forderte einen Abschluß der Gesetzeserkenntnis und glaubt nicht an die Möglichkeit, sie in spezielleren Formen als bisher durchzuführen. Noch einen Punkt gibt es, wo ich mit dem ausgezeichneten französischen Denker, von dessen Werken ich so viel gelernt habe, nicht einig sein kann. Ich glaube nicht, daß das letzte Ziel der Wissenschaft die Aufstellung allgemeiner, so exakt als möglich formulierter Sätze sei. Es gibt noch eine Arbeit zu tun, die nämlich, die allgemeinen Sätze, die rationalen Gesichtspunkte zum Verständnis der individuellen Existenzen, die nur durch das Zusammenspiel von Gesetzmäßigkeiten bestehen können, anzuwenden. Aristoteles hatte darin unrecht, daß das Individuelle kein Gegenstand der Wissenschaft wäre. Eher verhält sich die Sache so, daß die ungeheure Arbeit, Gesetzmäßigkeit und Rationalität zu finden, selbst wieder eine Bedingung ist, Verständnis der individuellen Totalitäten, die das faktisch Existierende wird, zu gewinnen. Nur wenn man diese Aufgabe nicht vergißt, wird der Blick für das große, unendliche Ziel der Wissenschaft geöffnet.

b ) Wir werden hierdurch daran erinnert, daß nicht nur Kausalität, sondern auch Totalität und Entwicklung als reelle Kategorien betrachtet werden müssen. Und dies eben kraft des Relationsbegriffes. Denn die gefundenen rationalen Gesichtspunkte müssen untereinander verbunden werden, und sie werden dadurch in bestimmten Relationen zueinander gestellt, und durch die Arbeit hierauf findet der Gedanke neue Totalitäten, wo bisher nur sporadische Wahrnehmungen vorzuliegen schienen. Jede solche Totalität steht aber in Verhältnis zu äußeren Gegenständen und Elementen, und dadurch werden neue Aufgaben gestellt. Wenn anderseits gegebene Zustände unmittelbar als Totalitäten auftreten, wird die Aufgabe nicht synthetisch, sondern analytisch; es [50/51] gilt dann den Zusammenhang, das Zusammenspiel zu finden, wodurch solche Totalitäten möglich sind. Wir kennen die Dinge nur durch ihre Eigenschaften, und diese bedeuten ebenso viele Relationen zu anderen Dingen. Auch Moleküle, Atome und Elektrone sind Totalitäten, die durch ihre Relationen erkannt werden  1 ). -

Der Entwicklungsbegriff ist schon angedeutet, wenn Kausalität als ein kontinuierlicher Prozeß aufgefaßt wird. Es können dann verschiedene Stadien unterschieden werden, bis ein gewisser Abschluß erreicht ist, und eine Charakteristik dieser verschiedenen Stadien kann versucht werden. Dann hängt der Entwicklungsbegriff auch eng mit dem Totalitätsbegriffe zusammen, indem jede Totalität ihre Geschichte hat.

Es wird auf dem Gesichtspunkte beruhen, was im einzelnen Falle eine Totalität oder ein Stadium genannt wird. Was für eine Betrachtung als Ganzes dasteht, ist für eine andere Betrachtung vielleicht nur ein Teil; was für eine Betrachtung als ein Entwicklungsstadium steht, ist für eine andere Betrachtung vielleicht ein Auflösungsstadium. Ein näheres Eingehen auf die hier aufsteigende Frage würde unter die Erörterung der Relation Subjekt Objekt oder auch unter die Erörterung des Relationsbegriffes auf dem Gebiete der Werte gehören und muß späteren Abschnitten dieser Abhandlung vorbehalten werden. -

Karneades hat Recht bekommen. Wir kennen nur die Wirklichkeit durch die festen, mehr oder minder durchsichtlichen Relationen zwischen den in der Erfahrung gegebenen Gegenständen. Die Fortschritte der modernen Forscher im Vergleich mit den alten Akademikern und Skeptikern beruhen auf der Genauigkeit, mit welcher die einzelnen Relationen bestimmt werden, auf der steigenden Anzahl Relationen, die nachgewiesen werden, und auf dem Zusammenspiele dieser Relationen, das entdeckt werden kann. Dadurch ist der Wirklichkeitsbegriff Schritt für Schritt ent-



1 ) Eine nähere Entwicklung des hier Angedeuteten ist in Der Totalitätsbegriff gegeben. [51/52]

wickelt und erweitert worden. Die alten Akademiker sahen nicht die Entwicklungsmöglichkeiten, die durch den Relationsbegriff gegeben werden. Sie konnten nicht mit Humor auf die Unvollkommenheiten der Erkenntnis sehen, weil sie die Bedeutung einer fortschreitenden Anwendung des Relationsbegriffes nicht sahen. Eine besondere Form von Humor ist dagegen in neurerer Zeit möglich geworden, indem das große Ideal der Erkenntnis ohne Überschätzung der einzelnen Schritte, die gemacht werden können, festgehalten wird  1 ).

Dazu kommt noch, daß die skeptische Haltung der Akademiker im Grunde ihre Voraussetzung in dem populären Wirklichkeitsbegriffe hatte, nach welchem die Wirklichkeit ein für allemal feststehe als eine absolute Ordnung der Dinge, mit welcher neue Gedanken stimmen müßten, wenn unsere Erkenntnis wahr sein sollte. Es ist eine unmögliche Relation, die hier angenommen wird. Die Wirklichkeit kann nicht selbst ein Glied einer Relation sein; dies würde ja voraussetzen, daß wir sie schon kannten. Sie beruht dagegen selbst auf den Relationen zwischen unseren Wahrnehmungen. Unser Gedanke kann nicht das eine Zirkelbein auf sich selbst und das andere auf etwas, das ihm noch gar nicht zugänglich ist, setzen. Wahrheit ist nicht Entschleierung, sondern Hervorbringen; sie wird nur durch beständige Arbeit gewonnen.


d) Die Relation Subjekt - Objekt.





a ) Einleitung. - Die bisher erwähnten Relationen bestehen zwischen Gegenständen (Erlebnissen) und zeugen von verschiedenen Seiten von der Tatsache, daß der menschliche Gedanke darin besteht, einen Gegenstand in ein Verhältnis zu anderen Gegenständen zu setzen, und daß er auf diesem Wege zu dem Verständnis gelangt, das ihm überhaupt möglich ist. Zuletzt gilt es, alle Gegenstände auf gewisse Grunderlebnisse (Urphänomene) zurückzuführen, die vorläufig feststehen, obgleich die spätere Forschung vielleicht weiter zurückzugehen



1 ) Vgl. Humor als Lebensgefühl (Deutsche Übers. 1918). Kap. 6 (Verständnis und Humor). Vgl. Kap. 9 § 54 (Humor und kritischer Realismus). [52/53]

versuchen wird. Wie Ernst Mach (Erhaltung der Arbeit, 1872) bemerkte: daß man eben bei gewissen bestimmten Gegenständen stehen bleibt, kann nur historisch erklärt werden. Er führt ein großes Beispiel an (S. 32): „Wenn wir heute glauben, daß die mechanischen Tatsachen verständlicher sind wie andere, . . . so ist dies eine Täuschung. Es liegt dies daran, daß die Geschichte der Mechanik älter ist als jene der Physik, daß wir mit mechanischen Tatsachen länger auf einem vertrauten Fuß gestanden. Wer darf behaupten, daß uns einmal elektrische und Wärmeerscheinungen nicht ähnlich erscheinen werden, wenn wir ihre einfachsten Regeln kennen gelernt haben und mit ihnen vertraut gewesen sind . . . . Nimmer ist eine Grundtatsache verständlicher als eine andere." - Daß die Stellung der Grundtatsachen (der Urphänomene oder Grundgegenstände) innerhalb unserer Erkenntnis nur historisch erklärt werden kann, bedeutet, daß wir nur mit Hilfe der Geschichte der Wissenschaft verstehen können, warum man zu einer gegebenen Zeit bei gewissen bestimmten Tatsachen haltmachen und eine vollständige Erklärung in der Zurückführung anderer Tatsachen auf sie finden mußte. Mach hat in der angeführten Äußerung vorausgesagt, was wirklich geschehen ist. Im zwanzigsten Jahrhundert betrachtet die Naturwissenschaft nicht mehr Inertie, Schwere und Energiebestehen als Grundtatsachen; jedenfalls stellt sie sich die Aufgabe, sie auf andere Tatsachen zurückzuführen. - In der Philosophie hat man sich oft bei einer gewissen Anzahl von Grundbegriffen (Kategorien) befriedigt gefunden, und selbst Kant meinte hier ein Ende erreicht zu haben. Es zeigt sich aber, daß die Grundbegriffe, von welchen die Erkenntnis in seiner Arbeit Gebrauch macht, ebensowenig wie die Grundtatsachen der Naturwissenschaft zu allen Zeiten dieselben sind, obgleich sie einen gewissen durchgehenden Typus zu allen Zeiten darbieten.

Es ist verständlich, daß die Forscher mitten in ihrer energischen Arbeit sich nicht immer gleichzeitig des historisch bedingten Charakters der Grenzen ihrer Resultate klar bewußt sind. Meyerson drückt dies so aus: die Wissenschaft [53/54] ist ontologisch, nur daß sie eine andere Ontologie an die Stelle der Ontologie des gesunden Menschenverstandes setzt; diese neue Ontologie sei nun Atomistik, Energetik oder reiner Materialismus  1 ). Es ist doch nicht notwendig, daß naive Ontologie immer für wissenschaftliche Arbeit charakteristisch sein soll. Erstens löst, wie Meyerson selbst zeigt  2 ), die Wissenschaft selbst die Ontologie, die vorläufig notwendig schien, auf. Zweitens muß doch natürlich, selbst für den am meisten begeisterten Forscher, die Frage auftauchen, mit welchem Recht er „das Ding an sich" erreicht zu haben glaubt; die Geschichte der Wissenschaft zeigt, daß dies keine fremde, außer der Wissenschaft liegende Frage ist. Und drittens muß unumgänglich die Frage entstehen, wie man von der Ontologie, zu welcher man gekommen ist, zurückgehend die Welt der Qualitäten und der Sukzessionen, von welcher aus man sein Aufsteigen zur vermeintlichen absoluten Ordnung der Dinge begann, erklären kann. Diese Frage hat die gleiche Bedeutung jetzt wie im Altertum Platon und Demokritos gegenüber. -

Aber außer den objektiven Relationen, durch welche Gegenstände einander gegenüber beleuchtet und bestimmt werden, macht sich immer, nur mehr verdeckt, eine Relation zwischen dem erkennenden Subjekt und den Gegenständen, die seine Objekte sind, geltend. Schon die alten Skeptiker sahen ein, daß hier eine Grundrelation vorlag (oben S. 6 f.). Alle objektiven Relationen werden von einem menschlichen Subjekt aufgefaßt und durchdacht und gelten vorläufig in Relation auf dieses. Mit einer Änderung dieses Subjekts, seiner Organisation und seiner Situation wird auch seine Erkenntnis eine andere werden können. Hier, wie bei den



1 ) La science de nos jours est saturée d'ontologie, et les savants, en dépit de ce qu'ils affirment expressément euxmêmes, font de la métaphysique comme ont fait, de tout temps, leurs dévanciers. De l'Explication dans les Sciences II, S. 174.
2 ) Les sciences, en menant ses explications jusqu'au bout, finit par détruire cette ontologie qui, d'abord, paraissait lui etre indispensable. I. S. 50. [54/55]

objektiven Grundgegenständen, stellt sich eine historische Aufgabe ein, nämlich die, den Grund zu finden, warum das Erkenntnissubjekt eben mit diesen bestimmten Voraussetzungen auftritt und diese bestimmten Fragen stellt. Diese Aufgabe gehört unter die vergleichende Psychologie und die Geschichte der Wissenschaft. Hier haben wir es nur mit dem allgemeinen Gesichtspunkte: ohne Subjekt kein Objekt, zu tun.

Der umgekehrte Gesichtspunkt gilt aber auch: ohne Objekt kein Subjekt. Wir haben nämlich nimmer ein reines Subjekt ohne objektiven Inhalt, und ohne daß es durch diesen Inhalt bedingt und bestimmt ist, ebensowenig wie wir je ein reines Objekt haben, sondern stets (obgleich nicht immer mit vollem Bewußtsein) einen möglichen Beobachter oder Denker voraussetzen. Die Begriffe Subjekt und Objekt sind korrelat, wie die Begriffe Synthese und Relation, Kontinuität und Diskontinuität, Ähnlichkeit und Verschiedenheit usw. Jede Darstellung der Entstehung einer Welt, von der mosaischen Schöpfungsgeschichte bis zu modernen kosmogonischen Versuchen, gibt eine Beschreibung davon, wie das Ganze sich für einen Zuschauer mit gewissen Sinnen und Voraussetzungen ausnehmen würde. Das erkennende Subjekt, der Zuschauer oder Denker, hat selbst eine Geschichte, die durch die Erfahrungen, die er gemacht hat, und durch die Weise, in welcher er diese Erfahrungen bearbeitet hat, bestimmt ist. Die moderne Erkenntnistheorie ist darüber klar, daß sich mittels wissenschaftlicher Arbeit eine Subjektivität entwickeln kann, die Vermögen und Drang besitzt, die Gegenstände in ihren Relationen zu sehen, und die ein Verständnis davon hat, wie sie selbst zu dem Standpunkte, aus welchem sie ihre Aufgaben stellt und die möglichen Lösungen untersucht, gekommen ist  1 ). Man kann eine solche Subjektivität die erkenntnistheoretische Subjektivität nennen. Heinrich Rickert, der diesen Punkt klar beleuchtet hat, nennt treffend das erkenntnistheoretische Subjekt einen Grenzbegriff im Verhältnis zum psychologischen



1 ) Über die Wechselwirkung zwischen dem psychologischen und dem erkenntnistheoretischen Gesichtspunkte vgl. Der menschliche Gedanke. S. 326-333. [55/56]

Subjekte  1 ). Daß keine Kategorielehre definitiv sein kann, ist eben eine Folge davon, daß dieser Grenzbegriff immer wieder von neuem bestimmt werden kann und muß, weil er durch den jeweiligen objektiven Inhalt bedingt ist. Die Welt wird von der menschlichen Natur und vom menschlichen Standpunkte aus verstanden - aber die Natur und der Standpunkt des Menschen werden wieder aus den Weltgesetzen und der Weltentwicklung verstanden. Über dieses Wechselspiel hinaus kommt man nicht, obgleich die zwei Gesichtspunkte zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenem Gewichte in der wissenschaftlichen Diskussion auftreten können.

Die Betonung der Relation Subjekt - Objekt führt keineswegs zum Subjektivismus, weil es, wie schon gesagt, kein reines Subjekt gibt, das alles aus sich selbst hervorbringen könnte. Es gibt stets nur ein objektiv bestimmtes S (ein S O ), wie es stets nur ein subjektiv bestimmtes O (ein O S ) gibt. Daß man sich dieser Relation nicht ohne weiteres bewußt wird, ist eine Folge von der unwillkürlichen Zuversicht, mit welcher wir vom Anfang an jeder Empfindung, jeder Erinnerung, jeder Phantasie, jedem Gedanken begegnen. Darauf gründet sich der Gedanke, von dem sich die Griechen nie recht freimachen konnten, und die man noch immer selbst in klaren Köpfen spüren kann: was ich erkenne, muß doch etwas sein; wäre es nichts, gäbe es auch kein Erkennen! - Es ist ja auch nicht gleich Grund dazu, die Gültigkeit der Gedankenformen, in welcher wir unsere Probleme erörtern, zu bezweifeln. Und vorläufig denken wir nicht daran, daß wir selbst ein Zirkelbein sind, das auf einem bestimmten Orte steht, von welchem aus das andere Zirkelbein an verschiedenen Orten, aber immer in Relation zu der Stellung des ersten, angebracht werden kann. Die antike Skepsis hat es entdeckt. Und wir wollen jetzt einige Beispiele anführen, die zeigen werden, wie man in neuerer Zeit mehr und mehr die Bedeutung dieser Relation für unsere Erkenntnis eingesehen hat. Welche Rolle die



1 ) Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung 2 . S. 134 bis 138; 308. [56/57]

subjektive Relation (wie wir sie kurz nennen können) im einzelnen Falle spiele, kann natürlich nicht im voraus gesagt werden. Der Anteil, den der Mensch, das Subjekt, an unserer Erkenntnis habe, kann nur durch Analyse der fortschreitenden Erkenntnis der Welt dargelegt werden. Es sind drei Beispiele aus der Geschichte der neueren Naturwissenschaft und Philosophie, die wir jetzt vorlegen wollen.

b ) Kopernikanismus und Relationsbegriff  1 ). - Der subjektive Relationsbegriff war ein Teil der Grundlage, auf welcher Kopernikus seine Hypothese aufbaute. Sinneswahrnehmung kann uns, sagt er, nicht unmittelbar sagen, was sich bewegt, ob es das wahrgenommene Ding ist, oder das wahrnehmende Subjekt, oder vielleicht beide (mit verschiedener Hastigkeit oder in verschiedener Richtung). Wenn sich nun die Erde bewegte, würden sich die wahrnehmenden Subjekte auch bewegen, und es wäre kein Grund, die Sonne als bewegt anzunehmen. Schon ein Jahrhundert vor Kopernikus war ein ähnlicher Gedankengang von dem tiefsinnigen Denker Nikolaus Cusanus geltend gemacht worden. Er sah, daß, wo ein Mensch sich auch befinde, würde er meinen im Zentrum zu sein, er befinde sich nun an einem Orte der Erde oder auf der Sonne oder auf anderen Sternen. Man hat daher kein Recht, von einem Mittelpunkte der Welt zu reden, folglich auch kein Recht, die Erde als diesen Mittelpunkt zu behaupten. Und daraus folgt wieder, daß man kein Recht hat, die Erde als ruhend zu behaupten. Wenn wir keine Bewegung merken, kann dies ja daraus kommen, daß wir keinen absolut ruhenden Punkt haben, in Verhältnis zu welchem die Bewegung hervortreten könnte. Dieser Gedankengang ist bei Cusanus ein Glied einer ganzen Auffassungsart, die die Verhältnisbestimmtheit (die Relativität) aller Gedanken einschärft, und diese Auffassungsart wird wieder dadurch begründet, daß alle Erkenntnis mittels einer Verbindung einer Mehrheit von Erlebnissen entsteht, durch welche Verbindung die Erlebnisse



1 ) In diesem und dem nächstfolgenden Stücke baue ich auf meiner Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie. [57/58]

notwendig in Verhältniss zueinander gesetzt werden und dadurch einander gegenseitig bestimmen. Cusanus hat überhaupt ein wunderbares Vermögen, jeden Gegenstand in seinen bestimmten Relationen zu denken. Dadurch ist er ein Vorläufer des Kopernikus, dessen Tat der Nachweis des neuen Weltbildes war, der eine Folge dieser Auffassungsart werden könnte, und des Giordano Bruno, der wie Cusanus den Relationsbegriff aus der Natur unserer Erkenntnis (del modo nostro de intendere) ableitet. Unser Denken arbeitet immer dadurch, daß ein Gegenstand durch einen anderen bestimmt wird; es setzt Grenzen und hebt wieder Grenzen auf kraft eines und desselben Prinzips. So wird ein Ort im Verhältnis zu einem anderen Ort und Bewegung im Verhältnis zu einem vorausgesetzten festen Punkte bestimmt. Suche ich einen solchen Punkt auf der Sonne, wird eine Bewegung sich anders ausnehmen, als wenn ich ihn auf der Erde suche. Das alte Weltbild setzte voraus, was eben bewiesen werden sollte, daß die Erde der eine feste Punkt wäre, im Verhältnis zu welchem alle wahre Bewegung erwiesen werden mußte. Von Zentrum, Pol, Zenit oder Nadir als Absolutem können wir nur sprechen, wenn wir die Erde als ruhend voraussetzen. Besonders interessant ist es, daß für Bruno die Relativität der Zeit eine ebenso notwendige Folge wie die Relativität des Ortes und der Bewegung war. Aristoteles hatte (Physica IV, 4) gelehrt, daß die Begriffe Zeit und Bewegung genau zusammenhängen und gegenseitig durcheinander gemessen werden; ihm war der Maßstab in den regelmäßigen Bewegungen der Himmelskörper gegeben. Hierzu bemerkt Bruno  1 ), daß, weil eine und dieselbe Bewegung sich von den verschiedenen Weltkörpern aus verschieden ausnehmen muß, es ebenso viele verschiedene Zeiten geben muß, wie es Sterne gibt! - Interessant ist bei Bruno die Weise, in welcher der Relationsbegriff ihn dazu führt, neue Wahrnehmungen und Versuche zu fordern, wo man sich bisher zuversichtlich am unmittelbar



1 ) Acrotismus. Art. 38. (Opera latina, Ed. Fiorentino I. S. 143-146.) [58/59]

Gegebenen als seine Erklärung in sich selbst enthaltend gehalten hatte.

Galilei macht die Wendung, zwischen der mathematischen und der sinnlichen Auffassung scharf zu unterscheiden. In der mathematischen Erkenntnis fällt für Galilei der Unterschied zwischen göttlichem und menschlichem Denken weg. Es sind seine Platonstudien, die wirken, wenn er behauptet, daß in der Mathematik kein Unterschied zwischen dem Dasein in sich selbst und unserer Auffassung gilt: hier ist das menschliche Erkennen der Notwendigkeit teilhaft, mit welcher die Gottheit die den Zusammenhang des Daseins tragenden Gedanken denkt. Nur der Unterschied bleibt zurück, daß das Verständnis, das Menschen nur durch mühsame Arbeit und sukzessiv erreichen können, für die Gottheit in unmittelbarem Schauen hervortritt, und ferner, daß der Umfang der göttlichen Erkenntnis den der menschlichen weit übergeht. Nur für die mathematische (göttliche) Auffassung existieren ein absoluter Raum und eine absolute Bewegung. Für unsere sinnliche Auffassung ist alle Bewegung relativ, weil wir nach dem Umsturz der antiken, begrenzten Weltbilder kein absolutes Unbewegtes haben, im Verhältnis zu welchem Bewegung konstatiert werden könnte. Unsere sinnliche Auffassung ist durch unseren Standpunkt auf der Erde bedingt. „Denke nur die Erde weg, dann existiert kein Sonnenaufgang oder Sonnenniedergang, kein Meridian, kein Tag und keine Nacht!" Und hier auf der Erde ist es wieder unser körperlicher Organismus, der die Eigenschaften bestimmt, die wir - von den rein mathematischen Eigenschaften (primi e reali accidenti) abgesehen - den Dingen beilegen, also alle eigentlichen Sinnesqualitäten (Farbe, Geruch, Geschmack usw.). Nimm den Körper weg, dann fallen auch alle Sinnesqualitäten weg, und unsere Erkenntnis wird mit der göttlichen Erkenntnis ganz in eins gehen.

Der scharfe Gegensatz zwischen mathematischer (göttlicher) Erkenntnis, für welche absoluter Raum und absolute Bewegung existiert, und sinnlicher (menschlicher) Erkenntnis tritt um so sonderbarer bei Galilei hervor, als seine Großtat [59/60] eben das methodische Zusammenwirken von Deduktion und Induktion, von Mathematik und Experiment war. Dieser scharfe Gegensatz bekam aber großen Einfluß in den folgenden Jahrhunderten, besonders weil sie durch die große Autorität Newton's gestützt wurde.

Auf Grundlage der Lehre von der Relativität der Bewegung konnten rein formell (mathematisch) die Himmelserscheinungen ebensogut dadurch erklärt werden, daß die Sonne sich um die Erde bewegte, als dadurch, daß die Erde sich um die Sonne bewegte. Und Tycho Brahe hatte eine Zwischenform aufgestellt, nach welcher die Erde fest stand, während sich die Sonne und die Planeten um sie bewegten. Gascendi verglich die drei so aufgestellten Hypothesen und suchte zu zeigen, daß man rein wissenschaftlich nicht zwischen ihnen wählen konnte. Dann wies aber Newton in seinem berühmten Werke nach, daß die Keplerschen Gesetze der Planetenbewegung abgeleitet werden konnten, wenn man dem Gesetz der Schwere auf alle Himmelskörper Anwendung gab, und dann mußten die Erde und die Planeten sich um die Sonne drehen, nicht umgekehrt die Sonne um die Erde. Kraft der Gesetze der Fallbewegung wurde also zuletzt nur eine Hypothese möglich. Analogerweise führte ungefähr gleichzeitig Leibniz über die Skepsis hinaus, die durch die Relativität der Bewegung anscheinend motiviert wurde, indem er als das für die Erkenntnis Entscheidende das Gesetz der Bewegung, nicht die Bewegung selbst behauptete, und indem er ferner - unter Kritik der kartesischen Lehre vom Bestehen der Bewegung - den Satz von dem Bestehen der Kraft aufstellte. Hier gab es dann eine Realität, die von dem Standpunkte des Beobachters im Raume nicht abhängig war. Die zwei großen Forscher führten, jeder in seiner Weise, über die Relativität der Bewegung hinaus und fanden den entscheidenden Standpunkt in den Gesetzen der Bewegung.

Doch behauptete Newton (hier gewiß unter dem Einflusse des Platonikers Henry Morus), wie Galilei, einen scharfen Gegensatz zwischen dem sinnlichen Raum, an dem die populäre Auffassung sich hält, der aber keine absolute Ortsbestimmung [60/61] möglich macht, sondern nur relative Bewegung aufzeigt, und dem absoluten Raume, der in keiner äußeren Relation steht und daher absolute Ortsbestimmung, absolute Bewegung möglich macht. In der wissenschaftlichen Orientierung in der Welt (in rebus philosophicis) benutzen wir die absoluten Orte (loca primaria), und dabei liegt der mathematische Raum zugrunde. In dem praktischen Leben (in rebus humanis) aber begnügen wir uns mit dem sinnlichen Raume, der keine absoluten Bestimmungen möglich macht. Diese Auffassung, die mit der eigentümlichen Metaphysik Newton's zusammenhängt, wurde vorläufig in der Naturwissenschaft herrschend. Ein starker Schlagbaum war dadurch für die fortgesetzte Anwendung des Relationsbegriffs gesetzt. Weil man nicht mehr, wie noch Kopernikus, die Fixsternsphäre („die achte Sphäre") als unbeweglich annahm, so daß sie als ein communis universorum locus (um den Ausdruck des Kopernikus zu Gebrauchen) als Grundlage (point de repère) absoluter Ortsbestimmung dienen könnte, war es eigentlich eine rein mystische Hinweisung, wenn man an den absoluten Raum, der keiner menschlichen Erfahrung zugänglich war, appellierte. - Auf diesem Punkte der Diskussion greifen nun zwei philosophische Denker auf eigentümliche Weise ein.

g ) Philosophische Gesichtspunkte. - Ein neuer Platonismus hatte mit Galilei und Newton gesiegt, ein eigentümlicher Gegensatz zu der Weise, in welcher diese großen Forscher in ihrer Naturwissenschaft die Wechselwirkung zwischen Denken und Wahrnehmung anwandten. Es erhob sich aber jetzt eine Opposition, die mit der von Karneades und Ainesidemos gegen die platonische Ideenlehre erhobenen Opposition verglichen werden kann. Es waren Berkeley und Kant, die diese Opposition erhoben. Sie kritisierten beide, jeder in seiner Weise, den absoluten Raum und behaupteten, daß, wenn man das erkennende Subjekt nicht mit in Beachtung nimmt, alle Wahrheiten und alle Rätsel wegfallen.

Der Hauptgedanke Berkeley's war, daß wir in Beispielen denken und denken müssen. Allgemeine Begriffe, Sätze und Gesetze kennen wir nur aus den speziellen Fällen, in welchen [61/62] sie sich geltend machen, und es ist unberechtigt, ihnen und den Verhältnissen, die sie ausdrücken, Existenz als eine Welt für sich hinter der Welt der für die Wahrnehmung hervortretenden Qualitäten und Qualitätsänderungen zuzuschreiben. Die „primären und realen" Eigenschaften, denen Galilei absolute Existenz zuschrieb, fassen wir doch immer nur unter bestimmten Bedingungen auf: in einem oder dem anderen Abstande, makroskopisch oder mikroskopisch usw. Ausdehnung im Raume muß mit allen anderen Eigenschaften das Schicksal teilen. Jede Bewegung muß eine bestimmte Richtung und eine bestimmte Geschwindigkeit haben. Es gibt weder Ausdehnung noch Bewegung im allgemeinen. Wenn die Frage nach dem rechten Orte, der rechten Größe, Richtung oder Geschwindigkeit aufgeworfen wird, dann kann eine solche Frage nur in Beziehung auf das auffassende und denkende Subjekt beantwortet werden. Wenn ich, sagt Berkeley, als der kindlich Glaubende er war, bei der Schöpfung zugegen gewesen wäre, würde ich die Dinge in der in der Bibel erzählten Ordnung entstehen gesehen haben. Im täglichen Leben sehen wir aber von dem Subjekt weg, obgleich es immer vorausgesetzt werden muß. - Hier tritt sehr klar der Gegensatz zu Newton hervor, nach welchem wir in strenger Wissenschaft von dem Subjekt wegsehen. Berkeley behauptet, daß in der Wissenschaft (in rebus philosophicis, um Newton's Ausdruck zu gebrauchen) ebensowohl wie im praktischen Leben (in rebus humanis) ein Subjekt vorausgesetzt werden muß. -

Kant hat, wie schon erwähnt, gesehen, daß Relation ein für alle Erkenntnis geltender Grundbegriff ist, nur daß er sich, in entschiedener Inkonsequenz, ein relationsloses „Ding an sich" vorbehielt, um das Dasein von etwas, das wir nicht selbst hervorgebracht haben, erklären zu können  1 ). Unter



1 ) Wenn „Ding an sich" den Grund des Stoffes (und der Form) unserer Erkenntnis enthalten soll, muß es doch in Relation zur Erkenntnis stehen, obgleich sie relationslos sein sollte. Oder unsere Erfahrung stände in Relation zu ihm, aber nicht umgekehrt. Nach dieser letzten Auffassung haben wir dieselbe einseitige Relation, die Thomas Aquinas in der Theologie durchzuführen versuchte. Vgl. oben S. 42 Note. [62/63]

den Relationen ist es bei ihm, wie bei Berkeley, ganz besonders die Relation Subjekt - Objekt, die das Interesse in Anspruch nimmt, und er behauptet die fundamentale Stellung des Subjekts in dieser Relation. Selbst in der reinen Mathematik und in der exakten Erfahrungswissenschaft wird ein Erkenntnissubjekt vorausgesetzt. Nur für ein solches Subjekt existiert eine Erfahrung in strenger Bedeutung, eine Erfahrung, in welcher die mathematischen Begriffe ihre Anwendung finden und ihre reale Bedeutung haben.

Kant fing als eifriger Newtonianer an, und vorläufig behauptete er, wie sein Meister, den absoluten Raum als objektive Voraussetzung für die strenge Erfahrung sowohl als für die reine Geometrie (die für ihn ihre definitive Grundlage mit Euklid gefunden hatte). Noch in der „Kritik der reinen Vernunft" behauptete er einen absoluten Raum, nur daß der newtonische Raum eine menschliche Anschauungsform statt einer göttlichen Anschauungsform, ein sensorium hominis statt eines sensorium dei geworden ist  1 ). Von besonderem Interesse ist es, daß der Begriff des Raums (wie auch der Begriff der Zeit) nach Kant nicht nur ein Allgemeinbegriff ist, sondern typischer Individualbegriff; jeder bestimmte Raum ist ein [ein] Teil des Raumes, nicht nur ein Beispiel des Begriffs Raum. Und wenn Kant den Raum eine Anschauungsform nennt, meint er nicht Anschauung als ein einmal für alle fertiges Resultat, sondern eine Funktion, ein Anschauen, das zur Bildung von Anschauungen oder Konstruktion von Schemata führt. Überhaupt meint Kant mit „Formen" Weisen, in welchen die verbindende Funktion, die Synthese, in welcher alles Bewußtsein und alle Erkenntnis besteht, in den einzelnen Fällen vor sich geht. Wir konstruieren den Baum, indem wir Punkt an Punkt, Stück an Stück nach einer bestimmten Regel fügen. In der Identität einer solchen Regel äußert sich die Einheit des Bewußtseins im einzelnen Falle.

Durch nähere Durchführung dieses Gedankenganges kam



1 ) Vgl. Die Kontinuität in Kants philosophischem Entwicklungsgange. (Archiv für Geschichte der Philosophie. 1893.) [63/64]

Kant später dazu, die subjektive Realität des absoluten Raumes zu verneinen, wie er schon in der „Kritik der reinen Vernunft" seine objektive Realität verneint hatte. Schon in der ersten Ausgabe des Hauptwerks hatte er gesagt, von allen Dingen, die ausfüllen oder begrenzen, abgesehen, ist der absolute Raum nur „die bloße Möglichkeit äußerer Erscheinungen". Einige Jahre später (in „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft") geht er einen Schritt weiter, indem er auf die Relativität jedes Ortes und jeder Bewegung hinweist. Im absoluten Raume sollte man ja von allen Relationen wegsehen können. Wann werden wir aber damit fertig, alle Punkte in Relation zueinander zu setzen, alle Linien zu ziehen usw. ? Wo ist der Punkt oder die Grenze, die selbst relationslos alle Punkte und alle Grenzen bestimmt ? Daher erklärt Kant jetzt, daß der reine, absolute Raum „für alle mögliche Erfahrung nichts ist". „Der absolute Raum ist an sich nicht und gar kein Objekt, sondern bedeutet nur einen jeden relativen Raum, den ich mir außer dem gegebenen jederzeit denken kann" (Metaphys. Anfangsgründe. 1786. S. 16; vgl. S. 3). Kant folgte hier faktisch der Lehre Berkeley's, daß wir in Beispielen denken. Der absolute Raum bedeutet nur, daß kein gegebener Raum abschließend ist. Neue Räume können immer vorgestellt werden. Es ist der Gedanke des Beziehens, der Relation, der Kant von seiner absoluten Anschauungsform wegführt. Der Raum wird eine „Idee" in kantischer Bedeutung, ein Grenzbegriff, der allen Abschluß verwirft und die Möglichkeit neuer Reihenbildungen behauptet. Der Begriff des Raumes hat also, wie alle „Ideen", nur regulative Bedeutung.

Kant hat selbst seine Philosophie mit dem Kopernikanismus verglichen. Und gewissermaßen könnten er und Berkeley in dem Abschnitte erwähnt sein, der von „Kopernikanismus und Relationsbegriff" handelte. Die beiden Philosophen waren aber doch am meisten davon aufgenommen, den Dogmatismus, der sich, mit vermeintlicher Stütze in mathematischer Wissenschaft, trotz des Sieges des Kopernikanismus erhalten hatte, zu bekämpfen. Und was besonders Kant betrifft, war [64/65] es sein Hauptbestreben, auf einmal die große Bedeutung des Newtonschen Wissenschaftsbegriffes zu behaupten und die absoluten Formen, die Newton noch hatte stehen lassen, auf Formen des arbeitenden Gedankens zurückzuführen.

Obgleich Kant immer die Zeit als dem Raum parallel auffaßt, zieht er doch für sie keine Konsequenz wie die für den Raum gezogene. Und doch wäre es ihm - besonders durch seine Lehre von den „Schematismen", die die Aktivität in der Zeitauffassung hervorhebt - natürlich gewesen, zu sehen, daß wir ebensowenig mit der Zeit wie mit dem Raume fertig werden, und daß die absolute Zeit nur bedeuten kann, daß neue Zeitrelationen immer möglich sind. -

Es ist nicht nötig, hier eine Kritik von Kant zu geben. Eine solche würde besonders zu zeigen haben, daß der Begriff der Erfahrung, in Kant's oben angegebenem strengem Sinne, auch eine „Idee", wie der Raum und die Zeit, und daß Kant nur durch eine wunderbare Inkonsequenz ein „Ding an sich" ohne Relationen annehmen konnte.

d ) Die neue Relationstheorie. - Trotz der großen Erweiterung des Horizonts, die der Kopernikanismus veranlaßte, hatte die Naturwissenschaft doch die Begriffe des absoluten Ortes und der absoluten Bewegung festgehalten, obgleich sie nur innerhalb des alten Weltbildes mit seinen begrenzten und festen Rahmen ihre Berechtigung hatten. Galilei's und Newton's absoluter Raum trat an die Stelle des durch die achte Sphäre begrenzten Raumes. Es kam aber die Zeit, da der Relationsbegriff auch hier seine Konsequenzen geltend machte, und zwar nicht nur, was das gegenseitige Verhältnis zwischen den Gegenständen, sondern auch was das Verhältnis zwischen den Gegenständen und dem erkennenden Subjekt betrifft.

Zuerst wurde der erste Satz der Bewegungslehre, und damit der Naturwissenschaft, vom Gesichtspunkt des Relationsbegriffs erörtert. Neumann (Über die Prinzipien der Galilei-Newtonschen Theorie. 1870) machte darauf aufmerksam, daß der Inertiesatz, nach welchem die Geschwindigkeit und die Richtung eines Körpers nur durch äußere Einwirkung geändert wird, eine Bestimmung des Ortes voraussetzt, im [65/66] Verhältnis zu dem die Geschwindigkeit und die Richtung erhalten wird, wenn keine äußere Einwirkung hinzukommt. Neumann fand nun keinen Ort, der als Ausgangspunkt für ein absolutes Koordinatsystem dienen könnte. Er meinte, daß man doch hypothetisch ein Zentrum annehmen müßte, damit der Begriff absoluter Bewegung seine Bedeutung bewahren könnte. Mach, der ungefähr gleichzeitig auf seinem eigenen Wege die Einsicht gewonnen hatte, daß der Inertiesatz ein bestimmtes Koordinatsystem voraus[s]setzt, fand doch nicht den Ausweg Neumanns befriedigend. Er forderte den Relationsbegriff durchgeführt. Die dogmatische Auffassung des Inertiesatzes wird nach seiner Meinung erst wegfallen, wenn man sich darüber klar wird, daß jeder Körper im Weltall an und für sich als Ausgangspunkt gebraucht werden kann, und daß wir in praxi in jedem einzelnen Falle den einen oder den anderen Körper als einen vorausgesetzten festen Ausgangspunkt für die Koordinate gebrauchen, durch welche die Geschwindigkeit und die Richtung einer Bewegung bestimmt wird. (Die Erhaltung der Arbeit. 1872.) Diesen Weg ist man faktisch immer gegangen, nur daß innerhalb des alten Weltbildes, das ja auf der Voraussetzung einer absolut festen Grenzsphäre der Welt ruhte, keine Wahl notwendig war. Mach legt überhaupt großes Gewicht auf die historischen Voraussetzungen, die der Forschung jeder einzelnen Zeit zugrunde liegen, zeigt aber dann, wie diese Voraussetzungen von Zeit zu Zeit variieren, und daß keiner Voraussetzung absolute Notwendigkeit und Verständlichkeit zukommen kann. Das Entscheidende ist hier immer, was französische Forscher points de repère nennen  1 ).

Eine noch radikalere Anwendung des Relationsbegriffes ist im Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts geschehen. Was uns in diesem Zusammenhange interessiert, ist, daß es sich als notwendig gezeigt hat, auf das auffassende Subjekt und seinen Standpunkt Rücksicht zu nehmen. Schon Kopernikus hatte



1 ) Vgl. z. B. Painlevé: Mécanique (in der Sammlung „De la Méthode dans les Sciences". 1909). S. 399: „ les mouvements absolus, c'est-à-dire au fond les mouvements convenablement repérés". [66/67]

ja dies eingeschärft, was die Auffassung der Bewegung der Himmelskörper betrifft, und Neumann und Mach, was die Geschwindigkeit und die Richtung der Bewegungen betrifft. Einstein  1 ) hat nun zu zeigen gesucht, daß das, was vom Raume, auch von der Zeit gilt. Wenn man dies nicht früher entdeckt hat, ist es nach Einstein daraus zu erklären, daß man mit Geschwindigkeiten gerechnet hat, die im Verhältnis zur Geschwindigkeit des Lichts sehr klein waren. Der letzte Zeitmaßstab wird für die moderne Physik die Geschwindigkeit des Lichts, während er für Aristoteles und noch für die Kopernikaner in den Bewegungen der Himmelskörper gefunden wurde  2 ). Auf Grundlage der elektromagnetischen Theorie der physischen Erscheinungen, für welche die mechanische Naturauffassung nur als ein spezieller Fall steht, sucht Einstein zu zeigen, daß Bedingungen gegeben werden können, unter welchen zwei Beobachter, von welchen der eine an ein festes, der andere an ein bewegliches Koordinatsystem geknüpft ist, die gleiche Zeitauffassung nicht haben können. Was für den einen Beobachter als ein Gleichzeitigkeitsverhältnis zwischen zwei Begebenheiten steht, wird für den anderen als ein Sukzessionsverhältnis stehen. Eine Zeitangabe hat überhaupt nur Meinung, wenn angegeben wird, im Verhältnis zu welchem Koordinationssystem sie gilt, und besonders, ob dieses System selbst in Ruhe oder in Bewegung ist.

Wenn man sagen wollte, daß hier bei dem einen oder dem anderen Beobachter eine Illusion vorhanden sein müsse, wird von dem Einsteinschen Standpunkt erwidert, daß jeder Beobachter hier sein Maßsystem hat, das ebenso berechtigt ist wie das eines anderen Beobachters, daß es aber sehr wohl dem einen Beobachter möglich ist, sich auf den Standpunkt eines anderen zu setzen und von diesem aus die Zeit zu beurteilen  3 ). -



1 ) Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie l916.
2 ) Brunos Lehre von der Relativität des Zeitbegriffes ruht auf diesem Maßstab. Vgl. oben S. 58.
3 ) Langevins in „Bulletin de la Société Française de Philosophie". 11. Okt. 1911. - Die Voraussetzung ist natürlich, [67/68]


Die Tatsachen und Schlüsse, auf welchen die Einsteinsche Theorie baut, sind noch in Untersuchung begriffen, und die Anschauungen stehen scharf gegeneinander. In einen solchen Streit kann der Philosoph als solcher nicht eingreifen, und die Philosophie hat dann auch Zeit zu warten. Ob die Physik wirklich Situationen nachweisen kann, wo das, was für einen Beobachter Gleichzeitigkeit ist, für einen anderen Succession ist, müssen die Physiker untereinander entscheiden. Wenn es mit ja beantwortet werden muß, stehen wir dem bedeutungsvollen Resultat gegenüber, daß die Naturwissenschaft nun wieder, wie in den Tagen des Kopernikus, auf seinem eigenen Wege die Notwendigkeit eingesehen hat, sich nicht nur an den Inhalt der Wahrnehmungen zu halten, sondern auch die Voraussetzungen des wahrnehmenden Subjekts in Betracht zu nehmen. In einer interessanten Diskussion in „Aristotelian Society" (1919) schärfte Whitehead die Bedeutung des ,[„]percipient event" ein  1 ), und Nicholson erklärte, daß zu den Data, die von entscheidender Bedeutung sind, muß auch „the essential framwork of our modes of perception" gerechnet werden.

Man hat gegen die Einsteinsche Hypothese, wie gegen frühere Nachweisungen der erkenntnistheoretischen Bedeutung des Relationsbegriffs  2 ), geltend gemacht, daß die Wahrheit doch in jedem einzelnen Falle nur eine einzige sein könne, und daß es gegen den Grundsatz des Widerspruchs streiten würde, wenn zwei Beobachter, von denen der eine als gleichzeitig behauptet, was der andere als successiv behauptet, beide recht haben sollten  3 ). Man braucht aber gar nicht


[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 67] daß der Beobachter, der sich auf den Standpunkt des anderen setzen kann, hinlängliche physische Kenntnisse hat.
1 ) Vgl. auch Whitehead's Principles of Natural Knowledge (1919). S. 68. - Die Auffassung Whitehead's ist doch darin von der Einsteinschen verschieden, daß „The percipient event" für ihn nur ein Faktor neben vielen anderen und nicht, wie bei Einstein, für die Messung von Zeit und Raum entscheidend werden kann. Vgl. hierüber: Haldane: The Reign of Relativity (1921). S. 69 f.; 107 ff.
2 ) Vgl. Der menschliche Gedanke. S. 334.
3 ) Kroman in „Fysisk Tidsskrift". XIV. S. 15. [68/69]

für die Einheit der Wahrheit zu fürchten, selbst wenn Einstein recht haben sollte. Die eigentliche Wahrheit liegt nämlich dann in der physischen Notwendigkeit, daß verschiedene Beobachter unter gewissen Bedingungen zu verschiedenen Resultaten kommen. Jeder einzelne Beobachter faßt die Zeit auf, wie er es in seiner Situation muß. Wenn ein Beobachter aber zugleich Physiker ist, wird er (die Richtigkeit der Einsteinschen Theorie vorausgesetzt) uns erklären können, warum ein anderer Beobachter eine andere Auffassung als er hat. So stellten sich ja auch Newton und Leibniz der Relativität der Bewegung gegenüber; die Objektivität war für sie durch die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen bestimmt. (Vgl. oben S. 60.) Natürlich beruht die physische Erklärung der verschiedenen Zeitauffassungen verschiedener Beobachter selbst auf gewissen Voraussetzungen; sie setzt ein Koordinatensystem voraus, von welchem aus die Koordinatensysteme der verschiedenen Beobachter bestimmt werden, und hier ist Möglichkeit für eine neue Diskussion. Wenn diese Diskussion nicht fortgesetzt werden kann, wird der Grund sein, daß keine Standpunkte von mehr fundamentalem Charakter nachgewiesen werden können. Kant hat längst behauptet, daß alle Notwendigkeit hypothetisch ist. Aber darum ist sie doch Notwendigkeit - oder richtiger, eben darum ist sie Notwendigkeit. Eine Notwendigkeit ohne Voraussetzungen kennen wir nicht.

Wenn die neue Relativitätstheorie fortgesetzte Bestätigung gewinnen wird, wird nicht nur ein an und für sich interessantes Resultat physischer Forschung vorliegen. Diese Theorie enthält zugleich, wie Einstein selbst hervorgehoben hat, einen Sporn zu fortgesetzter Forschung. Wenn es sich so verhält, daß verschiedene Relationssysteme bei der Auffassung eines Gegenstandes möglich sind, dann liegt eben hierin eine Aufforderung dazu, alle diejenigen Relationen, die in jedem einzelnen Falle zugrunde liegen, aufzusuchen, und die Forschung wird so immer weiter geführt, während sie dogmatisch abschließen würde, wenn die Voraussetzungen, mit denen man bisher gearbeitet hatte, als die einzig möglichen betrachtet [69/70] wurden. Zwei erkenntnistheoretische Interessen sind an den Relationsbegriff geknüpft: es wird über die Natur und die Bedingungen unserer Erkenntnis Licht geworfen, und indem jeder Gedanke über sich selbst hinaus weist, werden neue Aufgaben angewiesen, immer wieder ein plus ultra behauptet. -,

In seiner Apologie für Galilei sagte Campanella, daß man, wenn Galilei recht hätte, auf eine neue Weise philosophieren müßte. Wenn aber Einstein recht hat, brauchen wir darum nicht auf eine neue Weise zu philosophieren  1 ). Schon rein philosophisch ist man, wie die vorhergehende Darstellung gezeigt hat, seit lange auf den Relationsbegriff und auf seine Bedeutung für Erkenntnis und Weltanschauung aufmerksam gewesen. Wenn aber Einstein recht hat, liegt eine neue, unerwartete, bedeutungsvolle Erfahrung in dieser Richtung vor.

Durch die Notwendigkeit, auf das Erkenntnissubjekt Rücksicht zu nehmen, und durch die Möglichkeit eines Gegensatzes zwischen den jede für sich notwendigen Auffassungen verschiedener Erkenntnissubjekte bietet die Naturwissenschaft - bei Einstein wie bei Kopernikus - eine Analogie dar zu dem, was auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft - wie wir gleich sehen werden - besonders stark hervortritt.



1 ) Einstein selbst ist hiermit einverstanden. In seiner Vorrede zu Lucien Fabres Buch „Les théories d'Einstein'" (1921) sagt er: „Die Relativitätstheorie weder kann noch will ein Weltsystem geben, sondern nur eine Begrenzung für die Naturgesetze angeben." - Daß nicht nur von Grenze die Rede ist, haben wir oben gesehen. [70/71]





IV.



Der Relationsbegriff in der Ethik.





a) Die Geschichtsforschung und der Relationsbegriff.




A ristoteles lehrte, wie wir schon erwähnt haben, daß nur das Allgemeine, nicht das Individuelle als solches Gegenstand der Wissenschaft sein konnte. Dies hängt mit dem logisch-schematischen Charakter seiner Philosophie zusammen. Wissenschaft war für ihn, wie für Platon, Unterordnung des Einzelnen und Individuellen unter Allgemeinbegriffen. Nun aber war zugleich für Aristoteles alles Wirkliche einzeln und individuell; es ist auf diesem Punkte, daß er in Gegensatz zu Platon tritt. Die Schwierigkeit, die hier entsteht, und die von Zeller (Die Philosophie der Griechen, II, 2) in glänzender Weise beleuchtet worden ist, kann nur durch eine nähere Erörterung über den wissenschaftlichen Begriff der Wirklichkeit überwunden werden, und eine solche wurde, wie wir gesehen haben, von den antiken Akademikern und Skeptikern mit großer Energie eingeleitet  1 ). Schon hier kam der Gedanke auf, daß das Wirklichkeitskriterium nur in dem festen Zusammenhang zwischen den Wahrnehmungen bestehen kann. Wie die formalen Wissenschaften aus einem Streben, die Übereinstimmung mit sich selbst zu bewahren, entstehen, so die realen Wissenschaften durch ein Streben nach Übereinstimmung zwischen den für die Wahrnehmung gegebenen Gegenständen. Und dieses Wirklichkeitskriterium muß ebensowohl für das Individuelle, das Einmalige gelten,



1 ) Eine andere Frage ist, wie die Schwierigkeit innerhalb der aristotelischen Philosophie selbst geklärt werden konnte. Hans v. Arnim ( Die europäische Philosophie des Altertums. Kultur der Gegenwart. I, 6. S. 172 f.) findet die Erklärung darin, daß sowohl Arten als Individuen von Aristoteles als „Wesen" betrachtet werden. Hierdurch wird aber nur eine neue Frage hervorgerufen: wie und warum die eine Art von „Wesen" nicht wie die andere Gegenstand der Wissenschaft sei. [71/72]

als für dasjenige, das sich immer wieder wiederholt, weil es für ganze Reihen von individuellen Gegenständen gilt.

Ein Gegenstand wird als real erkannt, teils durch seinen Zusammenhang mit anderen Gegenständen, über welche kein Zweifel sich regt, teils durch den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Formen, in welchen der Gegenstand selbst zu verschiedenen Zeiten auftritt, und zwischen den verschiedenen Eigenschaften, die ihm zu einer gegebenen Zeit zukommen.

Geschichtsforschung geht auf beide Arten des Zusammenhangs aus. Die Begebenheiten, Persönlichkeiten oder Institutionen, die ihre Gegenstände sind, untersucht sie im Verhältnis zu den Umständen, unter welchen sie vorliegen, und jeden einzelnen Gegenstand untersucht sie in Rücksicht auf seinen inneren Zusammenhang. In beiden Rücksichten fängt sie mit Kritik der Berichte an, aber diese Kritik legt schon das genannte Wirklichkeitskriterium zugrunde. Nachher wird es Aufgabe, das Band, das den Gegenstand mit anderen Gegenständen verbindet, und das Band, das die verschiedenen Seiten und Stadien des Gegenstandes verknüpft, zu finden.

Der Gegenstand der Wissenschaft ist weder das Allgemeine noch das Individuelle an und für sich, sondern die Wirklichkeit, die nur durch die Verknüpfung der Gegenstände miteinander und der Elemente des einzelnen Gegenstandes verstanden werden kann  1 ). Was durch Anwendung des Relationsbegriffes nicht verstanden werden kann, kann überhaupt nicht verstanden werden.

Geschichtsphilosophen haben in der neuesten Zeit drei Begriffe als für historische Forschung besonders charakteristisch hervorgehoben  2 ), und diese drei Begriffe drücken eben Relationen zwischen einem Gegenstande, seinen Bedingungen und seinen Wirkungen aus.

Historisches Zentrum ist die Begebenheit, die Persönlichkeit oder die Institution, deren Ursprung, Bestehen und Entwicklung der Historiker untersuchen will. Um dieses Zentrum sammelt er alles, was zu seiner Beleuchtung dienen kann,



1 ) Der Totalitätsbegriff. S. 95-107.
2 ) Der Totalitätsbegriff. S. 117-119. [72/73]

ohne Rücksicht auf dasjenige, das es weder fördert noch hemmt. Ein Korrelat zu diesem Begriffe ist der Begriff der historischen Schwelle, die die Grenze von dem markiert, was in der Untersuchung behandelt wird. Historische Größe bezeichnet eine solche Beschaffenheit einer Begebenheit, einer Persönlichkeit oder einer Institution, daß sich in ihr Kräfte äußern, die in der Richtung einer Lösung bedeutungsvoller sozialer Aufgaben wirken.

Nun steht in der Geschichte wie in der Natur ein Kampf ums Dasein. Der Historiker steht Begebenheiten und Persönlichkeiten in der menschlichen Welt gegenüber, wie der Biologe Pflanzen und Tieren in ihrem Kampfe ums Dasein gegenübersteht. In beiden Fällen gilt es, die kämpfenden Parteien jede für sich, was ihre Natur und ihre Lebensbedingungen betrifft, zu verstehen, und dadurch zu verstehen, wie ein Kampf zwischen ihnen entstehen kann oder muß. Der Biologe als solcher hält es mit keiner der organischen Formen, selbst wenn sein intellektuelles Interesse die eine oder die andere Form zum Zentrum seiner Untersuchung gemacht hat, oder selbst wenn er eine gewisse Sympathie für gewisse Lebensformen hat (wie es z. B. Darwin freute, wenn er meinte Funktionen der Pflanzen zu finden, die ihnen eine höhere Lebensstufe anweisen könnten als die gewöhnlich angenommene). Es gilt für den Biologen nur, die Notwendigkeit des Kampfes unter den gegebenen Verhältnissen zu verstehen. Auch der Historiker als solcher ergreift keine Partei, sondern er untersucht die Verhältnisse, die sich bei jeder der kämpfenden Parteien geltend machen, um zu verstehen, wie sich bei jeder von ihnen Interessen, Gedanken und Gefühle in einem bestimmten Grade und in einer bestimmten Richtung entfalten mußten, bis der Zusammenstoß unumgänglich wurde. Jede Nation, sagt William James in einem seiner Briefe, hat ihre Ideale, die für andere Nationen ein totes Geheimnis sind, und unter deren Einfluß sie sich in ihrer eigentümlichen Weise entwickeln muß. Wenn dies so ist, wird es die Aufgabe des Historikers zu verstehen, wie sich diese Ideale entwickelt haben, und wie sie die nationale Entwicklung bestimmt haben. Dadurch [73/74] wird es möglich, die Spannung und den Kampf der Nationen zu verstehen. Es ist von Leopold Ranke gesagt worden, daß, wenn er in seiner geschichtlichen Forschung einseitigem Parteiergreifen entgangen ist, war es nicht, weil er allen kämpfenden Parteien gegenüber neutral, im Sinne von Gleichgültigkeit, war, sondern weil er universell war und sich in das Leben, das sich bei jeder Partei rührte, einfühlen und seiner Entfaltung folgen konnte. Die geschichtliche Universalität ist mit der künstlerischen Universalität verwandt, die Shakespeare befähigte, jede seiner Gestalten sich nach ihren eigenen inneren Gesetzen entfalten zu lassen; seine Unparteilichkeit Personen und Schicksalen gegenüber hatte nicht ihren Ursprung in Gleichgültigkeit und Ferne, sondern eben in Ergriffenheit durch das Leben, wie es sich in verschiedenen Menschen rühren und sie zu Konflikten, die vielleicht tragisch werden, führen kann.

Der Historiker (und der Dichter) steht prinzipiell, wie der Physiker steht, wenn er gewisse Verhältnisse konstatiert, unter welchen, was für einen Beobachter gleichzeitig, für einen anderen sukzessiv ist.



b) Die Ethik und die psychologischen Relationen.





Historische Wertung ist noch nicht eigentlich ethische Wertung. Sie betrifft die Bedeutung einer Begebenheit, einer Persönlichkeit oder einer Institution für die fortgesetzte faktische Entwicklung, fällt aber nicht ihre Urteile von einem ethischen Gesichtspunkte. Mit großer Feinheit und Energie hat Heinrich Rickert in seinem Werke „Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" diese Unterschiede zwischen Geschichte und Ethik nachgewiesen. Und von historischer Seite ist es energisch ausgesprochen worden, daß geschichtliche Forschung bis in die Stelle, wo Handlungen und Bestrebungen ihre Quelle haben, nicht eindringen kann: „Das tiefste Geheimnis einer Seele zu finden, damit deren sittlichen Wert, das will sagen, den ganzen Wert der Person richtend zu bestimmen, hat die historische Forschung keine Methode und keine Kompetenz". (Droysen: Geschichte Alexanders des Großen. S. 251.)

Wenn nun gleichwohl der ethische Wertstandpunkt sich [74/75] unwillkürlich in dem Historiker hervordrängt, indem er seiner Darstellung die letzte Abrundung zu geben versucht, dann wird er den prinzipiellen Schwierigkeiten gegenüberstehen, die sich bei jedem Versuche, ethische Urteile zu begründen, also in jeder Ethik darbieten.

Auf diesem Punkt tritt eine neue Klasse von Kategorien auf, die mit keiner der schon erwähnten Klassen - den fundamentalen, den formalen und den realen - zusammenfällt: die Wertbegriffe oder die idealen Kategorien. Der Relationsbegriff macht sich hier gleich geltend, indem Wert nur an Wert gemessen werden kann. Alles Wollen ist ein Vorziehen, und die Qualität jedes Gefühls ist durch das Verhältnis zu anderen Gefühlen bestimmt; es kommt daher bei jeder Wertung darauf an, was vorher oder gleichzeitig als wertvoll steht. Zuletzt wird alle Wertung in den einzelnen Fällen auf dem Verhältnisse zu einem Grundwerte beruhen. Wie ein Ort nur durch sein Verhältnis zu anderen Orten, eine Zeit nur durch sein [ihr] Verhältnis zu andern Zeiten, eine Wirklichkeit nur durch sein [ihr] Verhältnis zu anderen Wirklichkeiten bestimmt werden kann, so setzt jede Wertbestimmung voraus, daß gewisse andere Werte bereits feststehen. Der Grundwert entspricht dem Körper oder dem Koordinatensystem, nach welchem wir uns im Raume orientieren, - der Begebenheit, im Verhältnis zu welcher wir anderen Begebenheiten ihre Zeit bestimmen -, der Wirklichkeit, die im einzelnen Falle entscheidet, was hier für uns Wirklichkeit sein soll. Und untersucht man näher die verschiedenen möglichen Grundwerte, die sich in menschlichen Wertungen geltend machen, wird man finden, daß jeder ein Ganzes voraussetzt, dessen Bestehen und Entwicklung der Zweck wird und dadurch die Wertung bestimmt. Ein solches Ganzes kann die wertende Persönlichkeit selbst sein, oder eine Gemeinschaft (Familie, Stand, Staat, Kirche), oder ein Inbegriff von Bestrebungen (Kunst, Wissenschaft usw.) sein. Eine Wertung wird zuletzt durch das Verhältnis einer Handlung zu den Bedingungen für das Bestehen und die Entwicklung eines solchen Ganzen bestimmt sein. Nur wenn ein in der Erfahrung gegebenes Ganzes, dessen Existenz- und [75/76] Entwicklungsbedingungen untersucht werden können, vorliegt, ist eine rationale Wertung, also eine wissenschaftliche Ethik möglich  1 ). Ethischer Idealismus arbeitet sich oft selbst entgegen, indem er über alle Relationen hinausstrebt. An den einzelnen Stellen, wo Platon „die Idee des Guten" erwähnt, wird sie ausdrücklich (wie alle anderen Ideen) über die Welt der Relationen hinausgehoben. Er behauptet zwar (besonders in „Gorgias" und „Filebos") einen Zusammenhang zwischen dem Wertvollen und bestimmten Maßverhältnissen, nämlich Proportionalität („geometrische Gleichheit") oder Harmonie zwischen Fülle und Begrenzung. Aber solche Maßverhältnisse schweben in der Luft, wenn sie nicht aus den Lebensbedingungen einer gewissen bestimmten Totalität abgeleitet werden - und hier schwingt Platon zwischen einer individuellen und einer sozialen Totalität.

Der Begriff Norm betrifft die Mittel, durch welche ein vorausgesetztes Ganzes bestehen und entwickelt werden kann. Das vorausgesetzte Ganze steht dann mehr oder minder bestimmt als Zweck, indem ihr Wert ein Grundwert ist. Die Begriffe Wert, Zweck, Norm liegen in derselben Reihe, und in einer rationalen Ethik müssen sie in dieser bestimmten Ordnung liegen. Keine Ethik kann sich dem Zusammenhange zwischen diesen drei Begriffen entziehen. Oft verdeckt man das erste Glied der Reihe und hält sich an die Begriffe Zweck oder Norm, als wäre sie primär. Wir begegnen hier wieder dem fehlenden Bewußtsein von der Stellung des einen Zirkelbeins, das so oft zur Verkennung des Relationsbegriffs führt. Man betrachtet dann die Stellung des zweiten Zirkelbeins als absolut gegeben, als selbsteinleuchtend oder „objektiv". Dies tritt z. B. hervor bei Ethikern, die sich einen „objektiven" Standpunkt dadurch gesichert zu haben glauben, daß sie von der „Gemeinschaft" ausgehen (ohne nur einmal zu sagen, welche Gemeinschaft sie meinen). Oder man legt, wie Kant, den Begriff der Norm zugrunde. Kant, der in seiner Erkenntnistheorie darüber klar ist, daß jede Notwendigkeit



1 ) Vgl. Der menschliche Gedanke. S. 260-264; 380-384. - Der Totalitätsbegriff. Kap. 5. [76/77]

hypothetisch ist, behauptet doch eine ethische Notwendigkeit (einen kategorischen Imperativ), die auf keiner Voraussetzung beruhen soll, und in verschiedenen Formen haben [sind] spätere Ethiker ihm hier gefolgt. - Wenn ein ethisches System kritisiert wird, wird die Kritik - von einer Untersuchung der formalen Konsequenz des Systems abgesehen - wesentlich zu zeigen versuchen, daß das System einen Grundwert, der nicht selbst in die Untersuchung hineingezogen wird, voraussetzt. Die Kritik wird das verdeckte Zirkelbein suchen. Selbst derjenige, der eine „Umwertung aller Werte" proklamiert, muß einen oder den anderen Wert voraussetzen, im Verhältnis zu welchem er die Umwertung vollzieht.

Der Grundwert wird zuletzt bestimmt durch den Selbstbehauptungsdrang des einzelnen Individuums (so weit es als isoliertes gedacht werden kann) oder der größeren oder kleineren Gemeinschaft, mit welcher das Individuum sich solidarisch fühlt, so daß ihr Wohl und Wehe und damit ihr Zweck auch für das Individuum und seine Aufgaben bestimmt werden. Es kann sich doch auch ein Streben rühren, einen einzelnen Augenblick oder eine einzelne Seite des Lebens zu einem Ganzen für sich zu machen. Vom einzelnen Augenblicke bis zu der Menschheit der Jetztzeit und der Zukunft gibt es eine Reihe von möglichen Grundlagen ethischer Systeme, und zum Teil sind diese, wie die Geschichte der ethischen Ideen zeigt, auch benutzt worden.

Der vergleichende Ethiker hat (wie auf ihren Gebieten der Physiker und der Historiker) die Aufgabe, verschiedene Auffassungen, die durch verschiedene Grundlagen (Grundwerte) möglich werden, und die in ernsten Streit miteinander kommen können, zu verstehen. Dadurch wird die Tatsache verständlich, daß dieselbe Handlung, Persönlichkeit oder Institution widerstreitenden ethischen Beurteilungen begegnen kann. Auf dem Grunde des gesetzmäßigen Zusammenhanges, der auf psychologischem und historischem Wege in der geistigen Welt nachgewiesen werden kann, suchen wir eine Erklärung davon, daß andere Menschen anders urteilen als wir selbst und also andere Werte, Zwecke und Normen haben. [77/78]

Und nicht nur der vergleichende Ethiker braucht ein solches Verständnis. Für jeden ethischen Standpunkt ist es doch die Aufgabe, auf Menschen so einzuwirken, daß sie die Werte, Zwecke und Normen, die er zugrunde legt, kennen und anerkennen. Und man muß dann damit anfangen, die Menschen da, wo sie faktisch stehen, zu nehmen, sich in ihre Voraussetzungen einzuleben, um sie dazu zu führen, neue Voraussetzungen anzunehmen. Die sokratische Ironie ist, von einer wesentlichen Seite betrachtet  1 ), ein Mittel dazu, daß die Menschen sich öffnen, sich kundgeben, damit es entdeckt werden kann, wie Hilfe, Erziehung und Zusammenwirken möglich werden können. Nur eine analytische Methode kann von einem Standpunkte zu einem anderen führen, wenn solches überhaupt möglich ist. Es ist freilich leichter, mit Konstruktion der „rechten" Ethik anzufangen und dann den Menschen selbst es überlassen, wie sie mit ihr zurechtkommen. Aber jeder Wert und jede Wertung hat, kraft des Relationsbegriffes, ihre bestimmten psychologischen Voraussetzungen, und es gilt vor allen Dingen zu entdecken, welche sie sind, und ob gemeinsame Wertung möglich sei. Nur gemeinsamer Grundwert macht gemeinsame Wertung möglich.

Oft hat Verkennung des Verhältnisses zwischen dem Grundwerte eines Ethikers und seinen Lehrsätzen zu ungerechten Urteilen über ethische Denker geführt. So hat man gemeint, daß das große Gewicht, das Adam Smith, Helvetius und Bentham auf den Erwerbstrieb und den Glückseligkeitsdrang gelegt haben, seine Ursache darin hätte, daß sie ausschließlich von individuellen oder egoistischen Interessen aufgenommen wären, und daß ihr Grundwert auf dem Gebiete solcher Interessen läge. Eine genauere Untersuchung führt dagegen (vgl. die betreffenden Abschnitte in meiner „Geschichte der neueren Philosophie") zu der Einsicht, daß die genannten Denker alle von universeller Sympathie und von bewußter Rücksicht auf das Wohl der menschlichen Gemeinschaft ausgehen. Ihre Auffassung ist, daß die Gemein-



1 ) Humor als Lebensgefühl. S. 70. [78/79]

schaft am besten gedeihen wird, wenn jeder einzelne bei seinen Erfahrungen von dem, was ihm nützt, ausgeht, und daß keine außer oder über ihm stehende Autorität dies besser als er selbst wissen kann, wenn seine Augen nur aufgeschlossen werden. Durch die freie Arbeit und durch die Wechselwirkung der selbständig strebenden Individuen wird nach den genannten Denkern der Grundwert, auf dem sie bauen, am besten zu seinem Recht kommen.

Der einzelne Ethiker muß sich bewußt sein, daß der Grundwert, der sein System trägt, selbst Gegenstand der Prüfung werden kann. Wenn sein System einen wunden Punkt hat, wird er zuletzt hier liegen, selbst wenn das System mit möglichst großer Konsequenz entwickelt und auf möglichst vielen Erfahrungen gestützt ist. Und wenn er hinlänglich kritisch ist, wird er Henry Sidgwick darin recht geben, daß es - wenigstens auf gewissen Entwicklungsstufen - gut sein kann, daß sich in einer Gemeinschaft verschiedene, vielleicht einander widersprechende ethische Auffassungen geltend machen, obgleich er natürlich nur seiner eigenen Auffassung folgen kann  1 ). Auch auf dem ethischen Gebiete kann sich die Wahrheit nur durch Streit hervorarbeiten. Die Psychologie und die Geschichte haben dafür zu sorgen, daß ein unterirdisches Verständnis hinter dem brennenden Streite möglich wird. Die ganze Auffassung der Stellung der Ethik, die hier und im folgenden im Zusammenhang mit dem Relationsbegriff entwickelt wird, habe ich seit 1887 in verschiedenen Schriften behauptet, und sie hat immer mehr Festigkeit für mich gewonnen, besonders mittels der Kritik, der sie von verschiedenen Seiten aus begegnet hat [ist].

c) Die Ethik und die historischen Relationen.





Das Ausformen und die Durchführung ethischer Normen, das heißt die Bestimmung der untergeordneten Zwecke, die durch den Hauptzweck bedingt sind, und in welchen die aus dem Grundwerte abgeleiteten untergeordneten Werte ihren



1) Methods of Ethics 2 . S. 450. [79/80]

Ausdruck finden, ist nur möglich in Wechselwirkung mit den gegebenen geschichtlichen Bedingungen. Weder die wertvollen Charaktereigenschaften („Tugenden"), noch die sozialen Ordnungen, die vom Grundwerte zu seiner vollen Realisierung erfordert sind, können im voraus konstruiert worden; sie können nicht „eingeführt" werden, wie man früher eine Religion oder eine Verfassung „einführen" zu können glaubte. Jedenfalls werden die geschichtlichen Bedingungen zu verschiedener Zeit und an verschiedenen Orten den individuellen Charaktereigenschaften und den sozialen Ordnungen wesentliche Eigentümlichkeiten geben, die aus den aus dem Grundwerte folgenden allgemeinen Normen allein nicht abgeleitet werden können. Schon eine kurze Übersicht über die Geschichte der Tugenden wie die von mir (Ethik X, 4) versuchte zeigt dies. Was soziale Ordnungen betrifft, geht dies aus der Geschichte der Ehe (Ethik XV) und aus der Geschichte der sozialen Frage (Ethik XXV) hervor. Die alten Lederflaschen können nicht gleich durch neue ersetzt werden. Die Spezialisierung der ethischen Normen muß auf die geschichtlichen Bedingungen, unter welchen sie durchgeführt werden soll, gegründet werden. Abstraktionen und vage Träume sind nicht genug. Vorläufig soll die Richtung der Charakterentwicklung und der Gemeinschaftsordnung durch den Grundwert bestimmt werden. Nur die Erfahrung kann ein vollständiges Programm möglich machen. Es verhält sich mit ethischen Normen wie mit dem Kausalbegriffe in der Erkenntnistheorie, der auch nicht an und für sich eine Lösung spezieller Fragen gibt, sondern nur ein Fragen und ein Suchen motiviert, das auf verschiedenen Stadien der Entwicklung der Wissenschaft einen verschiedenen Charakter erhält.

Hier sind tragische Konflikte möglich, indem Menschen, die von einem Grundwerte beseelt sind, oft keinen Blick für geschichtliche Verhältnisse haben, während umgekehrt Menschen, die auf dem Grunde der geschichtlichen Wirklichkeit fest stehen, den Blick für neue Werte mangeln können. In unserer Zeit besteht mehr als je ein Kampf zwischen sozialen Idealen und sozialen Wirklichkeiten. Bertrand Russell, [80/81] dem das soziale Ideal in dem Kommunismus gegeben ist, findet, daß der Preis, der durch Anwendung bolschewistischer Methoden von der Menschheit zu bezahlen ist, allzu hoch ist und sogar den Wert, den die Durchführung des Kommunismus an und für sich haben würde, aufheben würde. Eine Hauptursache hierzu findet er darin, daß im Bolschewismus der Haß gegen das Alte eine größere Rolle spielt als die Hoffnung von dem Neuen; und auch diese psychologischen Momente sind geschichtlich bedingt  1 ). Als Gegenstück hierzu finden wir in Europa mehr als genug den Haß gegen das Neue, und die Hoffnung, trotz allem das Alte erhalten zu können, repräsentiert. Von beiden Gegensätzen gilt es, daß sie nichts gelernt und nichts vergessen haben. Wenn derjenige, der von einem Ideal erfüllt ist, zugleich intellektuelle Redlichkeit besitzt, will er um des Ideals selbst willen alle Verhältnisse, unter welchen es wirken soll, und alle Weisen, auf welche dieses Wirken in menschliche Verhältnisse eingreifen muß, untersuchen.

Nun entstehen aber die Grundwerte und die Normen selbst unter ganz bestimmten geschichtlichen Bedingungen. Es hat niemals Ideale gegeben, die ohne Einfluß von geschichtlichen Wirklichkeiten entstanden und ausgeformt wurden. Platon's ethischer Idealismus bildete sich nicht in seinem Geiste ohne Einfluß des griechischen Geisteslebens, und seine Ethik hat, trotz allem Gegensatze zu der Sitte seines Volkes und den Vorstellungen seiner Mitwelt, ein entschieden griechisches Gepräge. Das Christentum hatte in seiner ursprünglichen Form ein entschieden orientalisches Gepräge und setzt jüdische Tradition und persische Vorstellungen voraus. Kant's Ethik hat eine lange und bedeutungsvolle Entwicklungsgeschichte. Wenn ich hier auch von mir selbst reden darf, habe ich ausdrücklich hervorgehoben, daß die Voraussetzungen, aus welchen ich meine Darstellung der Ethik gegeben habe, einer geschichtlichen Entwicklung



1 ) The Practice and Theory of Bolschevism. (1920.) S. 146 bis 178. [81/82]

zu verdanken sind und nicht zu allen Zeiten gegeben waren. Wenn Westermarck  1 ) sagt, daß, wenn das Wort „Ethik" als Name einer Wissenschaft gebraucht werden soll, kann ihre Aufgabe nur sein, das moralische Bewußtsein als ein Faktum zu studieren, fühle ich mich durch diese Bemerkung, die unter anderem auch gegen mich gerichtet ist, nicht getroffen, denn ich habe immer eine geschichtlich-psychologische Entwicklung des moralischen Bewußtseins angenommen und behauptet, daß jede Ethik einer gewissen Form und einer gewissen Stufe dieser Entwicklung entsprechen muß. (Vgl. meine Ethik III, 13.) Dies beraubt ethische Ideen nicht ihrer Bedeutung. Man kann ja doch nach den Sternen steuern, obgleich sie eine Geschichte haben. Und dann geht das ethische Segeln auf den irdischen Meeren vor sich und wird daher nicht nur durch die Sterne, sondern auch durch Wind und Woge bedingt.

Die Aufgabe muß immer sein, das geschichtlich Gegebene in der Richtung der idealen Normen zu entwickeln. Zugleich muß man sich aber davon ausdrücklich überzeugen, ob diese Normen nun auch mit Recht aufgestellt sind - ob sie wirklich Ausdrücke von Werterfahrungen sind. Wenn aus dem einen oder dem anderen Grunde der Grundwert bezweifelt wird, wird es eine geschichtlich-psychologische Frage, ob der Übergang zu einem neuen Grundwert möglich ist. Auch hier gibt es die Möglichkeit ernster Krisen und tragischer Katastrophen.


d) Die Ethik und die individuellen Relationen.





Außer den psychologischen Relationen, die die Anerkennung eines Grundwertes und den aus diesen folgenden Normen betreffen, und der historischen Relationen, die die Möglichkeit der Durchführung dieser Normen unter gegebenen Bedingungen betreffen, wird in jeder tiefer gehenden ethischen Diskussion noch eine dritte Art von Relationen hervortreten, indem die Frage wird, ob das einzelne, bestimmte Individuum die Möglichkeit hat, den Normen nachzufolgen. Wenn ethische Forderungen nicht in der Luft schweben sollen, müssen sie so ge-



1 ) Origin and Development of Moral Ideals. I. S. 18. [82/83]

stellt werden, daß auf das Vermögen und den Drang des einzelnen Individuums Rücksicht genommen wird. Nur dann wird an diesem Orte der sittlichen Welt ein Streben in der Richtung der Forderung ausgelöst werden können. Daher kann das gleiche nicht mechanisch von jedem verlangt werden. Von demjenigen, der eines großen oder aufopfernden Wirkens befähigt ist, wird mehr verlangt als von demjenigen, der wegen inneren Zwiespalts oder wegen geistiger Ohnmacht nur eben vermag sich über Wasser zu halten. Nur so wird wirklich die gleiche ethische Arbeit von allen gefordert, denn ethische Arbeit ist ein Ausdruck der Energie, mit welcher innerer und äußerer Widerstand überwunden wird, und wenn dieser Widerstand in verschiedenen Individuen verschieden ist, kann die wirklich geleistete Arbeit nur durch das Verhältnis zu diesem Widerstande gemessen werden. Was vom einzelnen gefordert wird, kann dann bald über, bald unter den durchschnittlichen Forderungen, die durch ein allgemeines Gesetz bestimmt werden, liegen. Jeder wird, wie Schillers Tell sagt, besteuert nach Vermögen.

In einer Abhandlung über das Relationsgesetz in der Ethik (International Journal of Ethics. 1890) habe ich die Individualisierung ethischer Normen, die eine ebenso notwendige als schwierige Konsequenz des Relationsbegriffs ist, behandelt. Sie baut auf dem Prinzip, daß das Gesetz um des Menschen willen da ist, der Mensch nicht um des Gesetzes willen. Die Arbeit, die der einzelne tun muß, um ethische Forderungen zu erfüllen - die Tugenden und Pflichten, die von ihm verlangt werden -, sollen selbst Mittel für eine persönliche Entwicklung sein, und dies setzt voraus, daß sein Vermögen und sein Drang bei den Forderungen, die ihm gestellt werden, mitbestimmend sind.

Die meisten ethischen Theorien haben die Bedeutung dieser individuellen Relation verkannt. Und doch macht sie sich immer wieder geltend. In der Theologie liegt sie dem Begriff der Gnade, in dem Rechtsleben dem Begriff der Begnadigung zugrunde. Diese Begriffe sind nämlich unethisch, wenn sie nicht durch die Rücksicht auf die individuellen Bedingungen begründet werden. In der Philosophie hat man [83/84] den analogen Begriff Billigkeit aufgestellt; er wird als Gegensatz zu abstrakter Gerechtigkeit aufgefaßt, drückt aber, wenn er überhaupt ein ethischer Begriff ist, eben die höchste Gerechtigkeit aus, in welcher auch auf individuelle Momente Rücksicht genommen werden muß. In der Individualisierung der Strafvollstreckung, die für die neueste Zeit charakteristisch ist, liegt auch diese Betrachtung zugrunde. Wozu ein Verbrecher verurteilt wird, ist ja eben die bestimmte Art und Weise der Strafvollstreckung, die auf ihn angewandt wird.

Eine wichtige Konsequenz folgt für soziale Ethik aus der Bedeutung der individuellen Relationen. Es muß eine notwendige Aufgabe sein, allen Mitgliedern der Gemeinschaft solche Entwicklungsmöglichkeiten zu verschaffen, daß die Wahl der Arbeit frei werden kann. Solange dies nicht erreicht ist, bleibt die wirkliche ethische Forderung unerfüllt. Um diesen Punkt wird der soziale Kampf sich mehr und mehr bewegen.


e) Kants Ethik und der Relationsbegriff.





Obgleich Kant, wie wir oben gesehen haben, in dem Relationsprinzip ein Grundgesetz alles Denkens sah, wollte er es doch in der Ethik nicht anerkennen. Das ethische Gesetz soll nach ihm in keiner Rücksicht und in keinem Grade aus der Erfahrung hervorgegangen sein; psychologische und geschichtliche Relationen sollen für es nicht gelten. Und es soll von allen das gleiche fordern, welche individuelle Voraussetzungen sie denn auch haben mögen. Aber daher steht auch nach Kant das ethische Gesetz als ein unerklärliches Wunder der arbeitenden, denkenden und strebenden Menschheit gegenüber, die immer bestimmten Bedingungen unterworfen ist. Dies spricht Kant offen aus. „Wie reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend, und alle Mühe und Arbeit, hiervon Erklärung zu suchen, ist verloren." (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 3 , S. 125.) „Wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne (welches doch das Wesentliche aller Moralität ist), das ist [84/85] ein für die menschliche Vernunft unauflösliches Problem." (Kritik der praktischen Vernunft 4 , S. 128.) Kant räumt zwar ein, daß das Gesetz nur dadurch in uns wirken kann, daß es ein Gefühl der Erhabenheit des Gesetzes selbst erweckt, aber dieses Gefühl erklärt er dann psychologisch unerklärbar.

Aus diesem in psychologischer, historischer und individueller Rücksicht relationslosen Charakter der Kant'schen Ethik folgt nun wieder, daß wir nach ihr im Grunde keine eigentlichen ethischen Urteile fällen können. Wenn wir keine Möglichkeit haben, das Verhältnis zwischen Norm, Motiv und Handlung zu verstehen, haben wir kein Recht, irgend eine vorliegende menschliche Handlung gut oder böse zu nennen. Diese Konsequenz zog Kant schon in der ersten Ausgabe von „Kritik der reinen Vernunft" (S. 551) - doch nur in einer Note unter dem Texte: „Die eigentliche Moralität der Handlungen bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen."  1 ) Dies ist eine richtige Konsequenz, wenn der Relationsbegriff nicht in der Ethik angewandt werden kann. Anders stellt sich die Sache, wenn ethische Normen als Ausdrücke von Bestrebungen, die eben durch die notwendigen Relationen, die sich bei allem Denken und Handeln geltend machen, zu vollkommener Form entwickelt werden können. Eben der Relationsbegriff eröffnet uns hier große Möglichkeiten. Er fordert daß wir das eine Zirkelbein an einer bestimmten Stelle in der wirklichen Welt (in einem psychologischen Faktum, in einem geschichtlich Gegebenen, in einer individuellen Möglichkeit) setzen und dann prüfen, wie weit hinaus das andere Zirkelbein geführt werden kann. Können wir das andere Bein nicht gleich da setzen, wo wir wünschen, können wir es doch vielleicht allmählich weiter hinaus führen. Vielleicht muß auch das erste Bein anderswo gesetzt werden. Es gilt, in der Ethik wie in der Physik bestimmte points de repère zu haben.

Wie der Raum und die Zeit „Ideen" (in Kant'scher Be-



1 ) Vielleicht ist die oben (S. 14.) zitierte, in derselben Richtung gehende Äußerung von Droysen zum Teil dem Einflusse des Gedankengangs Kants zu verdanken. [85/86]

deutung) sind, und wie Erfahrung (Wirklichkeit) eine „Idee" ist, so ist auch das ethisch Gute eine „Idee", die ihre reale Bedeutung hat, nicht dadurch, daß alle Relationen ausgeschlossen werden, sondern dadurch, daß die Relationen zum Aufstellen spezieller Aufgaben und zur Beurteilung der Versuche, sie zu lösen, gebraucht werden.

Kant und Droysen hatten doch nicht ganz unrecht, wenn sie erklärten, daß die eigentliche Moralität der Handlungen nicht entdeckt und begründet werden kann. Denn wir können niemals sicher sein, daß wir alle Relationen in Betracht genommen haben. Es ist zuletzt unmöglich, die Forderung, die eben kraft des Relationsbegriffs gestellt werden muß, nämlich Einsicht in das Verhältnis zwischen den inneren und den äußeren Bedingungen der Handlung und in die Größe der ethischen Arbeit, die der einzelne geübt hat oder üben kann, zu gewinnen. Alle ethischen Urteile sind daher unvollkommen und gelten höchstens annäherungsweise.

Auch die Annahme Kant's einer für alle Menschen geltenden Norm wird immer behauptet werden können. Den ndas [Denn das] Relationsprinzip ist im Grunde mit dem Persönlichkeitsprinzip eins, das heißt mit dem Prinzip, daß jeder Mensch immer als Zweck, nimmer nur als Mittel behandelt werden soll. Dies wird dadurch getan, daß die Forderungen an den einzelnen nicht nur sozial motiviert werden, sondern auch nach dem Vermögen und dem Drange des einzelnen individualisiert werden, so daß seine Persönlichkeit durch die Arbeit, die er im Dienste der Norm ausführt, entwickelt werden kann.

Zwei der bedeutungsvollsten ethischen Gedanken Kant's[,] kommen so erst durch Anwendung des Relationsbegriffes zu ihrem vollen Recht.


f) Religionsphilosophie und der Relationsbegriff.





Auch das religiöse Problem, wie man sich auch ihm gegenüber auch stellt, bietet mehrseitige Anwendung des Relationsbegriffes dar. In allen seinen Formen beruht dieses Problem auf dem Gegensatze zwischen dem Wertvollen auf der einen Seite, dem Wertlosen oder Werthemmenden auf der anderen [86/87] Seite, - kürzer ausgedrückt zwischen Wert und Wirklichkeit. Die Wirklichkeit zeigt ja sowohl Wert als das Entgegengesetzte. Der Gegensatz, der hier vorliegt, braucht nach meiner Auffassung kein Dualismus zu sein, wie man gemeint hat  1 ); er kann aber zu einer Katastrophe steigen, einer Tragödie des Lebens, deren Möglichkeit keine Lebensanschauung ausschließen kann, ebensowenig wie man die Möglichkeit eines Erdbebens ausschließen kann. Und selbst wenn man eben im Tragischen, in dem Leiden, das zur Grenze des Menschlichen führt, die wahre Natur des Daseins finden wollte, so würde eben dadurch die Bedeutung der Gegensätze für die Lebensauffassung bestätigt werden. Das Tragische setzt Relation in schärfstem Verstande voraus, ohne das Festhalten des Wertvollen auszuschließen. Der tragische Held behauptet den Adel der Menschheit in der größten Katastrophe. Auch von den großen Katastrophen abgesehen, zeigt sich das Verhältnis zwischen Wert und Wirklichkeit als das Problem, auf welchem die Religion in allen ihren Formen beruht. In allen Formen der Religion ist die Hauptfrage, was das Siegende in der Welt sei, das Gute oder das Böse. Innerhalb seiner großen Fülle bietet zwar die Wirklichkeit Entwicklungsmöglichkeiten in verschiedenen Richtungen, aber auch Kräfte, die dem menschlich Wertvollen mehr oder minder energisch feindlich sind. Durch diesen Gegensatz ist die Frage bedingt, die die Religion in der einen oder der anderen Form zu beantworten versucht. Durch diesen Gegensatz wird das religiöse Bewußtsein dazu geführt, zwei Abschlußbegriffe, Gott und Welt, zu bilden, und alles religiöse Denken ist ein Grübeln über das Verhältnis zwischen diesen beiden Begriffen. In Askese und in Mystik sucht man zwar, bald mehr auf praktischen, bald mehr auf spekulativem Wege, über alle Relationen hinaus zu gelangen, oder doch (wie wir. oben S. 42 gesehen haben) das eine Zirkelbein zum Verschwinden zu bringen; die Relation drängt sich doch immer wieder hervor und stellt das Problem aufs neue.



1 ) La Harpe: La Religion comme conservation de la valeur, dans ses rapports avec la philosophie générale de Harald Höffding. (1920.) S. 93 ff. [87/88]


Der Drang des Lebens störte den Asketen, und die Welt der Wirklichkeit drängt sich, mit ihrer Mannigfaltigkeit und ihrer Unruhe, in die Zelle des Mystikers hinein. Man entdeckt zuletzt die Stellung des einen Zirkelbeins, wäre es auch gut verdeckt.

Die Frage ist, ob das Wertvolle in der Welt (der wertvolle Teil der Wirklichkeit) ein fremder Gast sei, der hier nicht zu Hause sei, oder ob es nicht eben eine Entschleierung der innersten Natur des Daseins sein sollte. Die einzig mögliche rationale Antwort (die ich im fünften Kapitel des „Totalitätsbegriffs" zu geben versucht habe) muß von der genauen Verbindung zwischen den Begriffen Totalität und Wert ausgehen. Alles, dem Wert beigelegt wird, ist Ausdruck oder Bedingung für das Bestehen und Entwicklung eines gewissen Ganzen, und das Wertvolle entsteht nach denselben Gesetzen, die Totalitätsbildungen (z. B. Organismen, Persönlichkeiten, Gemeinschaften) möglich machen. (Vgl. oben S. 75 f.) Wenn nun aber Totalität gegen Totalität steht, oder wenn chaotische Elemente Totalitätsbildung unmöglich machen, dann liegen eben die Erfahrungen vor, die zu dem Unterschied zwischen Wert und Wirklichkeit führen.

Wenn die monot[h]eistischen Religionen Gott als den Ursprung aller Wirklichkeit betrachten, tritt das Problem des Bösen und des Übels mit besonderer Schärfe hervor. Außer dem Urheber aller Wirklichkeit kann das Böse (und das Übel) seinen Ursprung nicht haben: kühne und tiefsinnige Spekulation, wie die Jacob Böhme's, hat dann die Konsequenz gezogen, daß es in Gott selbst ein dunkler Grund sein müsse, aus welchem das Werthemmende in der Welt entstanden sei. Es werden dann in Gott innere Relationen statt der äußeren Relationen, an denen die Erfahrung haltmacht, gesetzt. Mehr verwickelt wird noch das Verhältnis, wenn es, wie schon Böhme erkannte, eine Bedingung der Entwicklung des Guten sein kann, daß das Böse seinen Widerstand übt und dadurch Kräfte auslöst, die sonst brach lägen. Eine Betrachtung dieser Art führte Goethe (Aus meinem Leben, IV) zur Aufstellung des Begriffes von dem Dämonischen in der [88/89] Welt und zur Anwendung des Mottos: Nemo centra deum nisi deus ipse  1 ).

Religiöser Glaube ist eine Hoffnung oder eine Überzeugung davon, daß wertvolle Totalitätsbildungen im Dasein (in dem Dasein, das die Erfahrung uns zeigt, oder in einem anderen) stets möglich sein werden. Dies ist die Meinung mit dem Satze, daß Religion Glaube an das Bestehen des Wertes ist. Aber wie Totalitäten entstehen und vergehen, so auch Werte. Das religiöse Bewußtsein kommt daher im Laufe seiner Entwicklung zu der Einsicht, daß, was besteht, nicht das sinnliche oder empirisch Wertvolle sein kann, ja, daß es zuletzt unmöglich ist, einen Begriff oder ein Bild von dem, was bestehen wird, zu geben. Diese Einsicht wird nicht ohne starken Widerstand gewonnen, und sie fordert eine tiefe Resignation. Sie wird leicht durch die Bildersprache der Religion verschleiert.

Der Begriff Gott selbst enthält eine Wertung; der Gott eines Menschen ist, was er am höchsten schätzt. In dem Ausdruck „göttlich" tritt dies deutlich hervor; er ist eine Wertung. Schon Platon spricht von „dem, das Gott göttlich macht"; es ist dies, daß Gott immer in den großen Ideen lebt, deren Menschen nur von Zeit zu Zeit teilhaft werden können (Fajdros 249C). Plotinos geht einen Schritt weiter, indem er sagt, daß, was Gott göttlich macht, selbst die höchste Gottheit sein muß (Ennead. V, 1, 2). Die Fortsetzung dieses Gedankenganges würde alle Theologie zu einer Wertlehre machen.

Der Ausdruck „Bestehen des Wertes" sagt nichts darüber aus, wieviel Wert es in der Welt gibt, oder worin er besteht. Auf diesen zwei Punkten liegen die Verschiedenheiten zwischen den verschiedenen Religionen oder religiösen Standpunkten, auf welche einzugehen hier nicht der Ort ist; dies muß der Religionsgeschichte und der Religionspsychologie überlassen werden. Hier war es für die Relationstheorie nur die Aufgabe, zu zeigen, daß der Relationsbegriff sich unwillkürlich in allem religiösen Denken, dem elementarsten wie dem spekulativsten, geltend macht. Die Fragen, mit welchen religiöses Denken



1 ) Vgl. Religionsphilosophie . § 88-89. [89/90]

sich beschäftigt, sind: das Verhältnis zwischen Wert und Wirklichkeit und das Verhältnis zwischen ewigen und vergänglichen Werten. Während der geschichtlichen Entwicklung der Religionen entstehen immer neue Relationen, die oft die zugrunde liegenden Relationen zurückdrängen. So das Verhältnis zwischen dem eigentlichen Kern einer Religion und der Ausformung in Kultus und Dogma. In seinem Eifer um Garantien für das Bestehen des Wertes hat das religiöse Bewußtsein die Tendenz, den Gegenstand des Glaubens zu vervielfachen, so daß ein Dogma als Stütze eines anderen gebraucht wird.

Eine besonders wichtige Relation ist die zwischen Religion und Moral. Das Bewußtsein kann vom Bestehen des Wertes und von den Dogmen, durch welche dieses Bestehen vermeintlich garantiert wird, so aufgenommen sein, daß dadurch Energie von der Arbeit, Werte zu entdecken und hervorzubringen, oder die schon vorhandenen Werte zu behaupten, weggezogen wird. Man kann auf der Grenze des Willens so lange verweilen, daß man nicht dazu kommt, auf den Gebieten, wo die Menschen nicht auf die Götter zu warten bedürfen, zu arbeiten. Und zuletzt drängt sich von einem ethischen Gesichtspunkte die Betrachtung hervor, daß Wert doch nicht vom Bestehen abhängig ist. Es kann in Werten und für Werte gelebt werden, obgleich keine Gewißheit von ihrem Bestehen gewonnen werden kann. Das Göttliche ist nicht von der Zeit abhängig. Was wir als schön und gut schätzen, kann seinen Wert behaupten, welches Schicksal ihm auch beschieden sei. [90/91]



V.


Der Relationsbegriff in der Kosmologie.



M acht die Durchführung des Relationsbegriffes eine abgerundete, ob zwar nicht abgeschlossene Auffassung des Daseins möglich? Wird eine Totalauffassung sich hier nicht unmöglich zeigen dem Chaos von Gesichtspunkten gegenüber, die jeder für sich Berücksichtigung fordern? - Solchen Fragen gegenüber sind verschiedene Betrachtungen anzustellen.

a) Keine Orientierung ist möglich, ohne daß ein bestimmter Standpunkt vorausgesetzt wird. Aber jeder Standpunkt kann wieder in die Diskussion hineingezogen werden, weil er in bestimmter Relation steht und auf bestimmten Voraussetzungen beruht. Es besteht immer eine Tendenz, dies zu übersehen. Sowohl der gesunde Menschenverstand, als die religiösen Weltanschauungen, und allzu oft auch naturwissenschaftliche und philosophische Systeme gehen davon aus, daß Standpunkte gewonnen werden können, deren Begründung nicht wieder gefordert werden könne, und deren Berechtigung nicht diskutiert werden könne. Was die Grundlage der Weltanschauung sei, solle selbst nicht bedingt sein. Jede Weltanschauung hat ihr Urphänomen, um den Ausdruck Goethes zu gebrauchen, und Goethe behauptete ausdrücklich, daß ein Urphänomen nicht erklärt werden könne, sondern als ein absolut Letztes zu betrachten sei. Aber wohin man sich auch flüchtet, wird sich der Relationsbegriff geltend machen, und die Unruhe, die von dem arbeitenden Gedanken untrennlich ist, wird entstehen können. Die Idyllen des Gedankens sind immer der Auflösung ausgesetzt und können nur vorläufige Ruhestellen sein. In neuerer Zeit wird man sich denn auch mehr und mehr darüber klar, daß eine rationelle Erklärung aller Teile und Seiten des Daseins aus einem einzigen Urphänomen [91/92] unmöglich ist. Aber man behauptet dann oft, daß hier zuletzt eine Wahl zwischen zwei Möglichkeiten, zwischen einem mathematisch-mechanischen und einem psychologisch-qualitativen Urphänomen, getroffen werden müsse. Die Naturwissenschaft nähert sich immer mehr dem mathematischen Ideal einer Welt der Identitäten oder der Substitutionen, wo Zeit- und Qualitätsunterschiede keine Rolle spielen, während die Geisteswissenschaft (oder, wie einige sie lieber nennen wollen, die Kulturwissenschaft) die Realität von Qualitätsverschiedenheiten und Entwicklungsstadien, die auf Identitäten nicht zurückgeführt werden können, behaupten. Zwischen diesen zwei Typen sollte die Wahl zu treffen sein. Aber die Notwendigkeit einer solchen Wahl würde voraussetzen, daß ein Entweder-Oder vorläge, und daß keine anderen Daseinstypen als die zwei augedeuteten [angedeuteten], möglich seien. Der Umstand, daß Identität, Qualität und Temporalität nicht aufeinander oder auf eine gemeinsame Einheit reduziert werden können, berechtigt nicht dazu, ein Entweder-Oder zu behaupten. Eins ist Irreduktibilität, ein anderes ist Abwesenheit aller anderen Möglichkeiten. Der Behauptung eines Entweder-Oder gegenüber zeigt sich hier die Bedeutung der tiefsinnigen Lehre Spinozas von den unendlich vielen Attributen des Daseins, von welchen unsere Erfahrung nur zwei kundgebe, - eben jene zwei Typen, zwischen denen gewählt werden sollte. In weit höherem Grade, als er sich dessen bewußt ist, weist Spinoza hier auf die Begrenzung unserer Erkenntnis hin. Wenn Spinoza trotz der Mannigfaltigkeit, von Gesichtspunkten, deren Möglichkeit und Berechtigung er anerkannte, doch eine Einheitslehre behauptete, war es, weil auch er sein Urphänomen hatte, das, davon war er überzeugt, von keinem der vielen Gesichtspunkte verneint werden könnte. Er hielt sich an die Tatsache, daß Wissenschaft, möglich ist, - daß rationales Verständnis der Welt in einem gewissen Umfange möglich ist. Es war diese Tatsache, die er als eine absolute Realität projizierte und die Substanz der Welt nannte. Und sie ist ja jedenfalls eine Grundlage, die es uns möglich macht, die verschiedenen Gesichtspunkte (nament-[92/93]lich auch in bezug auf die Frage, ob sie kontradiktorisch oder nur konträr verschieden sind) zu erörtern. Die Grenzen selbst, denen menschliche Erkenntnis immer unterliegt, können nur durch wissenschaftliches Denken bestimmt werden. Und hier zeigt es sich, wie mehrmals bemerkt, daß der Relationsbegriff sowohl eine Grenze als ein Sporn ist. Wo wir keine bestimmten Relationen finden können, haben wir auch keine Erkenntnis. Aber damit braucht das Suchen nicht aufzuhören; wir wissen ja, was uns fehlt: neue Stellungen für unsere Zirkelbeine. Und so enden wir in einer Fragestellung.

Man hat nun sogar gemeint, daß die Durchführung des Relationsbegriffs jede Wahrheit unmöglich machen würde.

Bergson hat zwischen relativer und begrenzter Erkenntnis unterschieden; jene entstelle die Natur ihres Gegenstandes, diese lasse ihn unberührt, indem sie nur einen Teil von ihm ergreife  1 ). Aber mit den Relationen fallen auch die Probleme weg; es können weder bestimmte Fragen gestellt, noch bestimmte Antworten gegeben werden. Konsequent weist daher Bergson auf ein unmittelbares Schauen, eine Intuition hin, als den einzigen Weg, auf welchem die Wahrheit erreicht und das innerste Wesen des Daseins gegeben werden könne. In der näheren Durchführung macht er aber doch von Analogieschlüssen  2 ) und damit auch von Relationen Gebrauch; Analogie ist ja ein Ähnlichkeitsverhältnis. Die Relation drängt sich also hervor, eben als man glaubt, sie ausgeschlossen zu haben. - Die wichtigste Einwendung gegen die Philosophie Bergson's ist von einem philosophischen Gesichtspunkte nicht diejenige, die Henri Poincaré in dem Satze: le monde Bergsonien n'a pas des lois! ausgedrückt hat, sondern die: daß diese Philosophie keine Probleme anerkennt, sondern eine Verherrlichung des problemlosen Zustandes ist.

Das Leben des menschlichen Denkens äußert sich in den Relationen, die hervorgezogen und bestimmt werden können. Jede solche Bestimmung ist ein Sieg über ein Chaos. In einer



1 ) Bulletin de la société française de Philosophie. VIII. S. 341.
2 ) Vgl. La philosophie de Henri Bergson. (Trad. du Danois.) § 29. [93/94]

chaotischen Verschiedenheitsreihe sind keine bestimmte Relationen nachweisbar; es gibt absolute Umtauschbarkeit. Daß Hervorziehen und Bestimmen von Relationen die wesentliche Eigenschaft des Denkens ist, folgt, wie mehrmals bemerkt, daraus, daß Relation das Korrelat von Synthese ist. Die Einheit und die Energie des Gedankens, des Bewußtseins äußert sich in den Relationen, die die einzelnen Gegenstände in ihrer Eigentümlichkeit hervortreten lassen. Ein Zusammenfassen, durch welches keine Relationen gesetzt werden, ist ein Widerspruch. Selbst in Träumen herrscht das Gesetz der Relation, so sehr sie sich auch einem Chaos nähern können.

Es ist auch nicht an und für sich eine Unvollkommenheit unserer Erkenntnis, daß sie zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten je nach den verschiedenen Ausgangspunkten zu verschiedenen Resultaten führt. Dadurch wird nur ein neues Problem, eine neue Aufgabe gestellt, die Möglichkeit der verschiedenen Ausgangspunkte und damit der verschiedenen Resultate zu erklären.

Wir haben gesehen, wie der Physiker und der Historiker die Möglichkeit verschiedener Standpunkte und Auffassungen eingesehen haben. Es ist dies eine Aufgabe, die zwar nicht immer gelöst werden kann, die sich aber doch notwendig darbietet, weil die Wahrheit sowohl sich selbst als die Unwahrheit erklären können muß; dies gehört zu vollkommener Wahrheit. Platon hat schon dies gesehen, wenn er (Staat, X, S. 602 C bis 603 A) zeigt, daß, wenn verschiedene Beobachter dasselbe Ding in betreff der Größe und der Figur verschieden auffassen, kann man durch Zählen und Messen zu einer Auffassung kommen, aus welcher die verschiedenen individuellen Auffassungen erklärt werden können. Galilei ist durch diesen Gedanken bei der Grundlegung seiner Bewegungslehre inspiriert gewesen. Er kam aber in Verlegenheit durch die Bilder, die ihm sein unvollkommenes Teleskop von der Erscheinung, die wir jetzt den Ring des Saturns nennen, zeigte. Die Erscheinung trat bald als Kanten oder Ecken am Planeten selbst, bald als zwei verschiedene Nebenplaneten auf. Zuletzt gab Galilei alles Forschen hierüber auf. Später sah Huy-[94/95]ghuens mit seinem verbesserten Teleskop deutlich, daß Saturn von einem Ringe umgeben war, und zeigte, wie frühere Auffassungen von dieser Auffassung aus erklärt werden konnten  1 ). Es ist auf allen Gebieten der Triumph des Gedankens, wenn eine „vollkommene" Erkenntnis gewonnen werden kann, von welcher aus die „unvollkommenen" Auffassungen erklärt werden können. Wenn Spinoza lehrt (Ethik II, 36. Dem.), daß unsere „unvollkommenen" Vorstellungen mit gleicher Notwendigkeit wie die „vollkommenen" Vorstellungen entstehen, ist es eben, weil diese Notwendigkeit mit Hilfe der „vollkommenen" Vorstellung eingesehen wird. Dies ist die Bedeutung des berühmten Satzes des Spinoza: veritas est norma sui et falsi (Ethik II, 43. Schol.). -

Der Gedanke stellt also seine Grenzprobleme kraft seines eigenen Gesetzes, und kraft dieses Gesetzes vermag er seine eigenen Irrungen zu erklären.

b) Aber das Zählen und Messen, auf welches Platon hinwies, und von welchem Galilei prinzipiellen Gebrauch machte, ist ja menschlicher Geisteswirksamkeit zu verdanken, und welches Recht haben wir dann dazu, ihren Resultaten Gültigkeit beizulegen? Wir wollen ja doch die Welt, wie sie ist, verstehen, nicht nur, wie sie sich für menschliche Berechnung darstellt.

Schon oben (S. 52 ff.) ist einer solche Betrachtung gegenüber eingeschärft, daß der Relationsbegriff nicht nur zwischen Gegenständen, sondern auch zwischen dem erkennenden Subjekt und den Gegenständen Anwendung hat, - oder richtiger, daß das erkennende Subjekt selbst ein Gegenstand ist. Auch „the percipient event", um Whitehead's Ausdruck zu gebrauchen, gehört zu den Begebenheiten in der Welt. Wir haben kein Recht, im voraus einen absoluten Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt zu behaupten. Selbst wenn man bestrebt ist, alle Wissenschaften in formale Wissenschaft zu verwandeln, und alles, was sich nicht in diese Form bringen kann, zu den „Anthropomorphismen" rechnet, sind diese



1 ) Hoefer: Histoire de l'Astronomie. S. 445-447. [95/96]

Anthropomorphismen nun einmal ein Faktum, das auch wissenschaftliche Untersuchung fordert.

Jenen Fragen liegt eigentlich die populäre und dogmatische Definition der Wahrheit als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zugrunde. Dieser statische Wahrheitsbegriff ist, wie oft bewiesen, widersprechend. Die Wirklichkeit steht nicht ganz fertig da, so daß wir nur hingehen könnten, um sie zu betrachten. Sie entsteht nur für uns durch strenge geistige Arbeit im Beobachten und Denken. Die Geschichte dieser Arbeit ist die Geschichte der Wahrheit. Es dient zur Charakteristik des Daseins, daß es sich auf einer gewissen Stufe der Entwicklung der menschlichen Erkenntnis in einer bestimmten Weise hervortreten mußte. Wir brauchen uns nur z. B. in alle Voraussetzungen des mittelalterlichen Glaubens an Antipoden hineinzudenken, um zu verstehen, welche Wahrheit auf diesem Standpunkte als notwendig stehen mußte. Was für Menschen auf einer gegebenen Stufe wirklich ist, beruht darauf, wie weit die geistige Arbeit auf diese Stufe gekommen ist. Später kann dann diese Wirklichkeit als ein unvollkommener Anlauf stehen. Die Ewigkeit der Wahrheit beruht auf der Kontinuität der geistigen Arbeit.

Dies ist kein geistesaristokratischer Gedankengang. Eben der Relationsbegriff führt nur zu der Einsicht, daß in jedem ehrlichen Streben nach Klarheit Wahrheit enthalten ist. Wir schaffen nicht selbst die Voraussetzungen, aus welchen wir denken; wir werden uns ihrer nicht einmal voll bewußt. Es ist hier eine Analogie zwischen dem intellektuellen und dem ethischen Leben (vgl. oben S. 74 ff.). In der Notwendigkeit, mit welcher die „unvollkommenen" Vorstellungen auftreten, ist die ewige Wahrheit selbst zugegen. Und oft ist es sogar eine Bedingung eines Fortschritts in Wahrheitserkenntnis gewesen, daß die (wie es sich später erwies) falschen Vorstellungen ernst genommen wurden. Wie William Hamilton gesagt hat: eine lebendige Unwahrheit ist besser als eine tote Wahrheit.

Über dem beständigen Streben, auf welches der dynamische, Wahrheitsbegriff hinweist, hinaus kommen wir nicht. Unser Ge-[96/97]danke kann nicht über seinen eigenen Schatten springen. Unsere letzte Grundlage ist das arbeitende Gedankenleben selbst in dem beständigen Entdecken und Bestimmen der Relationen.

Bacon und Comte behaupteten, daß der Mensch durch die Welt, nicht die Welt durch den Menschen erklärt werden soll. Aber hier ist kein Dilemma. Wie wir gesehen haben, haben wir niemals ein absolutes Subjekt einem absoluten Objekt gegenüber, sondern immer ein objektiv bestimmtes Subjekt (S O ) einem subjektiv bestimmten Objekte (O S ) gegenüber, und beide fordern eingehende Charakteristik. Und wenn sie verglichen werden, dann wird ja diese Vergleichung von einem Subjekt unternommen, so daß das Problem immer aufs neue sich stellt. Wer den Menschen durch die Welt erklären will, darf nicht vergessen, daß die Welt nur durch menschliches Forschen erkannt wird, und daß eine Untersuchung des Verhältnisses zwischen Welt und Mensch von einem menschlichen Denker angestellt wird.

c) Wenn wir glauben, daß das Dasein mehr umfassend ist, als was von unseren Gedanken in irgendeiner Zeit oder in irgendeiner Form umspannt werden kann, ist dies dadurch begründet, daß wir immer wieder erfahren, wie neue Relationen und dadurch neue Fragen auftauchen. Daher haben wir, wie oben hervorgehoben, kein Recht, zu glauben, daß das Dasein durch die zwei Urphänomene oder Attribute, die kurz als Geist und Materie bezeichnet werden können, erschöpfend bestimmt sei. Es ist das Neckende im Relationsbegriffe, daß er uns immer wieder ein Loch in unseren Systemen anzeigt. Selbst wenn wir die schönsten Totalitäten in unseren Gedanken geformt haben, wird die Frage auftauchen, in welcher Relation zu anderen Elementen des Daseins eine solche Totalität steht.

Die Untersuchung des Totalitätsbegriffs in seiner Bedeutung für die Weltanschauung endet, wie ich anderwärts (Der Totalitätsbegriff, Kap. 6) zu zeigen versucht habe, in zwei Problemen: einer Frage um die Möglichkeit, etwas über das Dasein im allgemeinen auszusagen, und einer Frage um die Stellung des Wertvollen innerhalb einer solchen Totalität, also in einem kosmologischen und in einem religiösen Problem. [97/98] Wenn strenge und bestimmte Forderungen an Begründung gestellt werden, können diese Probleme nur auf dem Wege der Analogie gelöst werden. Hiervon zeugt auch eine kritische Untersuchung kosmologischer und religiöser Probleme. (Vgl. den erkenntnistheoretischen Teil meiner Religionsphilosophie.) Für den Philosophen werden solche Analogien am nächsten liegen, die von dem arbeitenden Gedanken- und Willenleben, dessen Geschichte für uns die Geschichte des Wahren und des Guten ist, geholt sind. Es ist einem mystischen Drange zu verdanken, wenn Spinoza den Gedankenzusammenhang, der ihm das Urphänomen war, als eine ruhende Substanz projizierte. Unsere letzten Analogien müssen sich auf unsere bedeutungsvollsten Erfahrungen stützen, und die haben Arbeit, Streben und Kampf zum Inhalt, dem beständigen Zweikampfe zwischen unseren fundamentalsten Kategorien, Synthese und Relation, entsprechend. Ohne Gegensätze und ohne ein Streben, sie zu überwinden, kann das Dasein philosophisch nicht gedacht werden. Am stärksten macht sich praktisch der Gegensatz zwischen dem Wertvollen und dem Werthemmenden geltend. Obgleich keine begründete Gewißheit davon gewonnen werden kann, daß alle Gegensätze und Hemmungen je harmonisiert werden, dann kann doch das arbeitende Gedanken- und Willenleben ein poetischer und symbolischer Ausdruck von der Überzeugung sein, daß die Arbeit, in welcher wir stehen, kein isolierter Zug in der Wirklichkeit sei; dazu hängen Relation und Kampf mit der Relation allzu genau mit der Erkenntnis des Daseins, die wir überhaupt gewinnen können, zusammen.

d) Nur in der ruhenden Form des Bildes können wir für eine Weile über die beständige Unruhe, die durch den Relationsbegriff charakteristisch für jeden wachen Gedanken ist, gelangen. Zur Welt der Bilder nimmt dann auch seine Zuflucht, wer Ruhe und Frieden sucht. Ein berühmter dänischer Theolog hat gesagt, daß wir ohne den Gebrauch der Bilder ins Leere geraten würden, indem wir uns dann an einige arme Begriffe halten müßten, die kein Licht geben könnten. Ja, der Philosoph hat nur seine armen Begriffe, an die er sich halten muß. [98/99] Wenn sich aber diese Begriffe bei beständig erneutem Nachdenken in der Natur des Gedankenlebens und der Erfahrung gegründet zeigen, dann kann es berechtigt sein zu glauben, daß der Puls des Daseins in den besten und klarsten Gedanken, die Menschen ausformen können, pocht und vielleicht nicht am schwächsten da pocht, wo neue Fragen kraft des Relationsbegriffes gestellt werden. Der Philosoph behält sich sein Urteil vor über die Analogien, die im einzelnen Falle dem Bilde zugrunde liegen. Ebensowenig wie irgendein Gedanke wird irgendein Bild, das unabschließbare Dasein, in dem wir Glieder sind, ausdrücken können. In der Tatsache, daß jedes Gleichnis hinkt, meldet sich der Relationsbegriff immer wieder.

In Obstfelder's „Das Tagebuch eines Predigers" ist auf tiefsinnige und stimmungsvolle Weise der Kampf zwischen Gedanke und Bild geschildert, wie er oft in einem strebenden Gemüt geführt wird. Der Dichter ist - wie auch der Philosoph es sein kann - darüber klar, daß das Höchste „tiefer in uns wohnt, als wir selbst hineindringen können". Er ist aber durch diese Überzeugung nicht befriedigt. Er will es sich gegenübergestellt haben, „sich dem gegenüberstellen, was in uns ist -, du dazu sagen können", ein Bild davon haben. Wenn es ihm geglückt wäre, dieses Ziel zu erreichen, würde er gewiß die Erfahrung gemacht haben, daß kein Bild hinlänglich ist, sondern ein beständiger Drang nach neuen Bildern sich regt, ebenso wie der Forscher immer neue Relationen entdeckt, durch welche seine bisher ausgeformten Begriffe gesprengt werden.

Die Welt der Poesie steht allen, auch dem Philosophen offen. Der Philosoph kann aber kein einmal für alle erschaffenes Bild anerkennen. Und er wird darüber klar sein, daß, wenn er in die Welt der Poesie hinübergegangen ist, schweigen die Gedanken, wie für den anakreontischen Dichter „die Sorgen schweigen", wenn er seinen Becher greift. Es wird immer neue Arbeit erfordert, sowohl mit Bildern als mit Gedanken, damit das Leben zu seinem Recht kommen kann. Vielleicht ist, was ein ägyptischer Weiser „ein strebendes Gemüt, dessen Worte alle verborgen sind", nannte, die innerlichste und höchse [höchste] Form des geistigen Lebens.


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