Meine Herren!
In dem Augenblick, in welchem der akademische Lehrer zum
erstenmal vor ein neues Hörerpublikum tritt, mag es ihm wol erlaubt sein,
was sonst die Würde des Ortes verwehrt, an Persönliches anzuknüpfen.
Als ich gerade vor zwölf Jahren als angehender Privatdocent diese Kanzel
zum erstenmale bestieg, waren eben die Schranken gefallen, welche das österreichische
Unterrichtswesen seit Jahrhunderten dem deutschen Geiste entfremdet hatten. Ich
kehre als ordentlicher Lehrer heute auf dieselbe zurück, in einem Moment,
wo auf's neue ein frischer Wind sich erhoben, und das inzwischen angesammelte
Wolkenheer einem belebenden Sonnenblick Platz gemacht hat. Kein Lehrer kann
diesen wohlthätigen Wechsel tiefer und freudiger empfinden, als der
Vertreter der Philosophie. Sie, welche ohne begrenztes Gebiet nicht sowol ein
besonderes Wissen, als vielmehr die Alles durchdringende forschende und ordnende
Seele unseres Gesammtwissens sein soll, kann nicht unter der Glasglocke athmen.
Wo eine äussere Autorität, sie sei wie immer beschaffen, ihr die Wege
vorschreibt, welche sie wandeln, die Ziele bezeichnet, bei denen sie anlangen
soll, da sind ihre Glieder gelähmt, ihre Schwingen gebrochen, [3/4] wird
unsere Wissenschaft selbst zur brauchbaren Hausmagd erniedert, deren Bestimmung
es ist, des Geistes von fremder Hand abgesteckten Wohnungsraum zu fegen und zu säubern.
Jahrhunderte lang war in diesem Lande der drückende Bann,
der auf den Geistern lag, mehr als der Mangel an ursprünglicher Anlage im
Stande, ein selbstständiges Aufblühen der Philosophie nicht nur,
sondern auch den werkthätigen Anschluss an die Bestrebungen anderer
Deutschen zurückzuhalten. So lange die Wiener Hochschule zum grössten
Theile in Ordenshänden sich befand, herrschte in ihren philosophischen Hörsälen
die mittelalterliche Scholastik; als sie mit dem Anbruch einer aufgeklärteren
Zeit ungefähr nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts in weltliche Leitung überging,
machte das von obenher angeordnete Massregelungs- und Bevormundungssystem der
Lehrer, Lehren und Lehrbücher die unabhängige Entwickelung eines
freien Gedankenganges unmöglich.
Die Wolff'sche Philosophie, in Feder'scher Abschwächung mit
wenigen Brocken englischen Skepticismus versetzt, wurde die geistige Nahrung der
wissensdurstigen Jugend Oesterreichs. Wer wie jener feingebildete Mönch von
St. Michael in Wien nach Höherem Verlangen trug, hatte keine andere Wahl,
als nach abgestreiftem Klosterkleid heimlich den Weg über die Grenze in
Wieland's gastfreundliche Freistätte zu suchen.
Dieser Barnabitermönch, den die Welt unter dem bürgerlichen
Namen Karl Leonhard Reinhold kennt und jener Klagenfurter Herbert, der einstige
Hausgenosse Schiller's, sind die einzigen öffentlichen Zeugen [4/5] für
die Betheiligung der verschlossenen Geisterwelt diesseits des Inns und der
Erzberge in dem gewaltigen Umschwung, von welchem gegen das Ende des
verflossenen, des philosophischen Jahrhunderts, die Geister des jenseitigen
Deutschlands sich ergriffen fanden.
Hatte ein Leibnitz noch kaum ein Jahrhundert zuvor wie eine
fremde Erscheinung unter den Seinigen gestanden, gefürchtet von Vielen,
angestaunt von Wenigen, begriffen von Keinem, so riss dagegen Kant's kritisches
Auftreten nach kurzem athemlosem Staunen die Mitwelt unwiderstehlich mit sich
fort, beherrschte Fichte's energischer Charakter wie ein Eroberer Geist und Herz
seiner Zeitgenossen, trug Schelling mit dem dithyrambischen Fluge seiner von
dichterischen Fittichen beschwingten Naturphilosophie wahlverwandte Gemüther
zu den schwindelnden Höhen theosophischer Spekulation empor.
Philosophie ward die Losung der Zeit. Inmitten seiner tiefsten
politischen Erniedrigung suchte und fand der Deutsche Trost und Ersatz für
die verlorene Herrlichkeit der sinnlichen im unbeneideten Besitz übersinnlicher
Weltherrschaft, und für den vaterländischen Boden, den ihm ein fremder
Tyrann unter den Füssen entwand, tauschte er willig und befriedigt die
schrankenlose Unendlichkeit ein, welche sein zum Absoluten erweitertes Selbst
ihm eröffnete.
Als ich das letztemal, meine Herren, von diesem Platze aus
sprach, lebte der letzte Veteran aus jener philosophischen Heroenzeit noch, der
philosophische Proteus, vom Verhängniss, wie es schien, bis fast zur äussersten
Grenze menschlicher Daseinsfähigkeit aufgespart, um an seiner Person die
Wandlungen des [5/6] umfassendsten Gedankenganges der Neuzeit aufzuzeigen.
Seitdem ist auch Schelling hinübergegangen, und was er uns jetzt zu
offenbaren vermöchte, würde ohne Zweifel manche seiner irdischen
Offenbarungen aufwiegen. Ich sehe ihn noch vor mir, den kurzen gedrungenen Mann
mit den im Alter noch feurigen Augen und der mächtigen Stirn, sardonisches
Lächeln auf den Lippen über die wandelbare Zeit, die ihn als Jüngling
vergöttert, vom Manne sich abgewandt und den Greis fast verspottet hat, als
er hinüberzog aus dem gläubigen stillen kunsttrunkenen München in
das zweifelnde lärmende verstandesnüchterne Berlin.
Es war das Schicksal der Philosophie selbst, das an Schelling
sich darstellte: angestaunt wie eine Prophetin, genutzt und gebraucht, wie ein
folgsames, verfolgt und gefürchtet wie ein schädliches Instrument,
zuletzt verlacht und bei Seite gestellt zu werden, wie eine hirnlose Träumerin.
Dahin ist es mit ihr gekommen, dass die Unwissenschaft und die sich so nennende
Wissenschaft, die positive Autorität und die angeblich allein völlig
auf sich gestellte Natur- und Geschichtsforschung gegen sie sich erklärt
haben, dass die Kirche, der sie im Mittelalter, der Staat, dem sie noch in
diesem Jahrhundert, der wissenschaftliche Fortschritt, dem sie zu aller Zeit als
willkommene Stütze gedient, im unnatürlichen Bunde ihre gemeinsamen
Gegner wurden. Es lohnt der Mühe zu untersuchen, ob es die Philosophie
selbst, oder was uns wenigstens wahrscheinlicher bedünkt, nur eine verirrte
Richtung derselben es sei, welche diese Abneigung verschuldet hat.
Lassen Sie uns, meine Herren, zu diesem Zweck einen Blick werfen
auf den Ursprung und Gang ihrer [6/7] Entwickelung. Mit der Wahrnehmung, einer äusseren
oder inneren, hebt alles Nachdenken an; aus einem Kampf gegen das Lückenhafte
Widerspruchsvolle Unzureichende jeder auf nur äussere Wahrnehmung begründeten
Erkenntniss, eines blossen Empirismus, ist alle Philosophie hervorgegangen. Unähnlich
der empirischen, die sich an die Beobachtung, unähnlich der historischen
Wissenschaft, die sich nur an das äussere Zeugniss hält, geht ihr
Streben dahin, ein in sich zusammenhängendes, mit den Gesetzen des Denkens
harmonirendes Wissen zu schaffen. Wo der äussere Sinn sie im Stich lässt,
sieht sie daher nach einer andern seine Lücken ergänzenden
Erkenntnissquelle sich um, setzt dem äusseren einen inneren, der Erfahrung
ein reines Denken, dem a posteriori ein a priori, der Sinnlichkeit die Vernunft,
der sinnlichen Anschauung eine reine, intellectuale, transcendentale, absolute
gegenüber. Daraus entspringen zweierlei Welten: die bruchstückweise,
locker verbundenen in blosser Thatsächlichkeit beharrende des empirischen,
und dieinnere Ganzheit wenigstens anstrebende, systematisch gegliederte, von dem
Gefühle innerer Nothwendigkeit begleitete des philosophischen Wissens.
Aber auch hier ist noch zweierlei möglich. Das reine
Denken, welches die Philosophie der Erfahrung ergänzend zur Seite stellt,
ist entweder discursiv, über das äusserlich Angeschaute nach
Denkgesetzen reflectirend, oder intuitiv, d. h. selber anschauend. Jenes setzt
die Erfahrung voraus, wie der Bildner den Stoff; dieses ersetzt die Erfahrung,
wie der Seidenwurm, der aus sich selbst spinnt. Das erstere schöpft aus der
Aussenwelt, das letztere setzt sie aus [7/8] sich heraus; jenem ist sie ein
Gegebenes, diesem sein eigenes Produkt. Wie aus dem mit strengem Ausschluss
alles reinen Denkens nur an die äussere Wahrnehmung sich haltenden Forschen
eine (empirische) Anschauungswissenschaft, so entwickelt sich ebenso einseitig
aus dem mit Verbannung aller äusserlichen Thatsachen an der intuitiven
Natur des reinen Denkens allein festhaltenden Nachdenken eine (intellectuale)
Anschauungsphilosophie. Beide verhalten sich zu einander wie ihre
Erkenntnissorgane, die sinnliche (empirische) und die reine (intellectuale)
Anschauung. Zwischen beiden steht die an die Erfahrung sich anschliessende, aber
über dieselbe mittels des reinen discursiven Denkens reflectirende
(empirisch-rationale) Erfahrungsphilosophie.
Zwischen den Gegensätzen der Anschauungs- und der
Erfahrungsphilosophie, deren erste die Totalität nicht der wirklichen
allein, sondern aller überhaupt möglichen Erfahrung durch intuitives
reines Denken zu besitzen vorgibt, während die letztere die wie sie gegeben
ist, unhaltbare Erfahrung durch reines reflectirendes Denken zu berichtigen sich
bemüht, hat sich die Philosophie seit ihrem Ursprung bewegt, und wird sie
sich bewegen, so lange das psychische Wesen des Menschen und sein wahres oder
vermeintes Erkenntnissvermögen dasselbe bleibt. Der sinnige Mythos des
Platon, welcher die Seele einem Gespann von einem weissen himmelanstrebenden und
einem schwarzen zur Erde hinabgezogenen Rosse vergleicht, leidet noch eine
andere Auslegung. Unzertrennlich wohnen im Menschen das Gefühl seines
Beschränktseins und der unauslöschliche Trieb nach Unendlichem [8/9]
zusammen; wohin das Können nicht reicht, eilt die sehnsüchtige Lust
auf geflügeltem Wagen ihm voran. Von Stufe zu Stufe steigert das wachsende
Verlangen nach allumfassender Erkenntniss die Illusion des Besitzes eines
entsprechenden Vermögens, und wenn die letztere so mächtig wird, dass
sie sich über die Schranken der Sinnlichkeit zu täuschen vermag, dann
fühlt der schwärmende Denker in intellectualer Anschauungsverzückung
sich der Welt entrückt, sein Subject zum Gott, das Bewusstsein seiner
selbst zum Allbewusstsein erweitert, dann bedünkt ihn nichts fremd, nichts
unerreichbar mehr und in seliger Intuition geniesst sein schrankenlos gewordenes
Denken der Einheit mit dem unendlichen Universum.
Schon das Alterthum kannte diesen Gegensatz und charakterisirte
seine Seiten durch die Platonische Ideal- und die Aristotelische
Verstandesphilosophie. Der Neuplatonismus setzte dem sinnlichen das geistige
Auge entgegen, und erhob in stetig aufsteigender Reihe das durch Askese geläuterte
Subject zur Höhe der idealen, der göttlichen Schauung. Viermal hat,
wenn wir den Berichten seines eifrigsten Schülers glauben dürfen, der
Stifter der neuplatonischen Philosophie das Glück der höchsten
Vereinigung mit dem göttlichen Urwesen genossen, aber schon Porphyrius
klagt, dass die gleiche Gunst ihm selbst nur ein einziges mal und auch da nicht
vollkommen zu Theil geworden sei. Theosophen und Mystiker des früheren wie
des späteren Mittelalters schlossen der intellectualen
Anschauungsphilosophie der Neuplatoniker sich an, während die eigentlichen
Scholastiker allmälig sich vom Platonismus ab- und dem Aristoteles
zuwandten. Bacon bekämpfte den letzteren, dem seine empirische Denkweise
doch [9/10] im Innersten verwandt war, während Cartesius an der Schwelle
der neueren Philosophie stehend, auf die Anamnese Platon's in verwandelter Form
zurückging, und die intellectuale Schauung der höchsten Einheit des
unendlichen Denkens und der unendlichen Ausdehnung in der göttlichen
Substanz dem Spinozismus zu Grunde lag. Locke's scharfsinnige Kritik machte die
angeborenen Ideen der Erkenntnisstheorie des Cartesius schwinden, während
Leibnitz auf den Schultern all seiner Vorgänger erhoben zwischen beiden
entgegengesetzten Parteien des Idealismus und Sensualismus eine Versöhnung
anstrebte. Sein Ausspruch fiel dahin aus, dass keine Idee angeboren, aber die
Seele auch umgekehrt nicht tabula rasa sei. Sie gleicht vielmehr einem Marmor,
der seine Form von Aussen empfängt, obgleich dessen inneres Geäder die
Gestaltung, deren er fähig sein wird, schon gewissermassen andeutet. Indem
er sich so gegen die innere, aber auch gegen die äussere Anschauung als
ausschliessliche Quelle unserer Erkenntniss erklärte, bahnte er eine
Richtung an, welche zwischen einer unphilosophischen blossen
Anschauungswissenschaft und einer blos anschauenden Philosophie mitten hindurch
zur Philosophie und Erfahrung versöhnenden Philosophie der Erfahrung zu führen
bestimmt war.
Freilich zunächst nur im Widerspruch mit dem eigenen
Systeme. Wie soll die Erkenntniss auch nur theilweise aus äusserer
Anschauung stammen, so lange das Innere der Seele als Monas, die ja nach dem
bekannten Ausspruch keine Fenster" hat, jeder Anregung von aussenher
schlechthin unzugänglich bleibt? Wenn aber kein Element der Erkenntniss
mittels äusserer [10/11] Wahrnehmung in's Innere gelangt, woher soll jene
dann anders als aus geistiger Intuition kommen? Der Gegensatz beider Richtungen,
des Intellectualismus und Sensualismus tritt in aller Schärfe an's
Tageslicht; die versuchte Vermittelung schwindet in nichts zusammen. Die Unzulässigkeit
äusseren Einflusses auf die erkennen sollende Seele macht alle äussere
Erfahrung für dieselbe unmöglich; die Zufälligkeit der Formen, in
welche die äussere Wahrnehmung sich kleidet, jede ausschliesslich auf
letztere gebaute Erkenntniss ungewiss. Locke's empirische Richtung gipfelt in
Hume's Skepticismus; Wolff's Zurücknahme der Fensterlosigkeit der Monaden
verschmilzt den influxus physicus mit der prästabilirten Harmonie in unnatürlicher
Ehe. Der Versuch, englische Verstandeskritik mit Wolffischem Dogmatismus zu
einen, verflacht den tiefsinnigen Idealismus der Leibnitz'schen Monadenlehre zur
seichten Oberflächlichkeit der Popularphilosophie.
Den Faden, den Leibnitz fallen gelassen, nahm Kant wieder auf,
obwol in eigenthümlicher Weise. Er geht wie der Sensualismus von der äusseren
Erfahrung aus, aber er sucht wie der Intellectualismus ihr Allgemeinheit und
Nothwendigkeit, die Eigenschaften der Erkenntniss durch reines Denken zu
verleihen. Dies geschieht, wenn die Erfahrung nur dem Stoff nach von aussen
stammt, der Form nach aber von innen, durch den Erfahrenden bestimmt ist. Wie
der Marmor unter dem Meissel nur demjenigen Gebilde sich fügt, dessen
Gestalt durch seine innere Structur gleichsam von Anbeginn in ihm prädestinirt
ist, so nimmt die Erscheinung im Subject nur diejenige Gestaltung an, welche die
Natur seines Erkenntnissvermögens [11/12] dieselbe anzunehmen nöthigt.
Realistisch dem Stoffe, wird die Erfahrung idealistisch den Formen derselben
nach.
Die ersten Formen des sinnlich Angeschauten sind räumliche
und zeitliche. Raum und Zeit sind nicht Objecte der sinnlichen Anschauung, beide
sind aber ebensowenig Begriffe oder Ideen des reinen Denkens, vielmehr sind
beide Gegenstand einer besonderen Art der Anschauung, welche im Gegensatz gegen
die äussere, durch die Sinnesorgane vermittelte die reine heisst. Mit den
Sinnen hat sie die Anschaulichkeit, mit dem reinen Denken die Allgemeinheit und
Nothwendigkeit gemein; die Möglichkeit einer reinen, d. h. nicht
empirischen Anschauung, auf welcher die Anschauungsphilosophie beruht, ist durch
den Kriticismus gewährleistet.
Ein verhängnissvoller Rubikon war damit neuerdings überschritten.
Der Kriticismus bricht mit der reinen Anschauungsphilosophie, indem er neben der
intellectualen eine sinnliche, er entfernt sich aber auch wieder von der
Erfahrungsphilosophie, indem er neben der sinnlichen eine reine Anschauung zulässt.
Wenn nun die Form alles sinnlich Angeschauten auf der letzteren beruht, warum
soll die Materie desselben schlechterdings durch empirische Anschauung gegeben
sein?
Entstehen musste die Frage, sobald der einzige Grund, auf
welchen die Kantische Trennung des Stoffes von der Form der Erfahrung sich
beruft, in seiner Unhaltbarkeit erkannt war. Fichte'n gebührt das
Verdienst, zuerst eingesehen zu haben, es sei inconsequent, nur die Form aller
Erscheinung vom Subjekt abhängen zu lassen, während das einzige Motiv
für die Annahme [12/13] eines von dieser verschiedenen An-Sich, die
Kategorie der Causalität selbst nichts als eine Denkform des erkennenden
Subjectes ist. Schlechterdings unberechtigt ist daher die Behauptung, das
erfahrende Subject empfange auch nur die Materie seiner Erfahrung, von einer von
ihm selbst verschiedenen Welt an sich, und eben so schlechterdings nothwendig
die entgegengesetzte, dass die Erfahrung des Subjectes dem Stoff und der Form
nach sein eigenes Produkt sei. Dem Erkennen muss das Erzeugen, das Thun dem
Wissen vorausgehen; der idealistische Fortsetzer der kritischen Philosophie
schreibt mit der Bibelübersetzung Faust's: Im Anfang war die That!
Durch die Anerkennung der empirischen Anschauung als stofflichen
Faktors der Erfahrung hatte die kritische Philosophie dem Empirismus sich
zugeneigt; durch die Verwandlung der sinnlichen Anschauung auch der Materie nach
in eine That des Subjectes schien der Sieg der reinen Anschauungsphilosophie
sofort entschieden. Die Stelle des receptiven Sinns nahm eine produktive
Einbildungskraft, den Platz der gegebenen eine im eigentlichen Wortverstand
gebildete Erfahrung ein.
Wer bürgte dafür, ob die so gebildete nicht eine blos
eingebildete Erfahrung sei? Schon Fichte gestand, die Produktion der
Einbildungskraft sei in unbegreifliche Schranken eingeschlossen und verrieth
dadurch das Bedürfniss, derselben einen hinter ihr gelegenen Hintergrund zu
geben. Dass er den eigentlichen Fragepunkt dadurch nur zurückschob, den
Grund für die den Kern des Subjekts ausmachende produktive Thätigkeit
in einen verborgenen Urkern desselben zurück [13/14] verlegte, ist ihm so
wenig wie seinen auf diese absolute Grundlage hinsteuernden Nachfolgern
verborgen geblieben. Es müsse einen Punkt geben, führte der Idealismus
aus, auf dem der Gesichtspunkt der endlichen Intelligenz mit dem der unendlichen
in eins zusammenfalle, wo wir die Dinge so gewahren, wie sie das göttliche
Wesen selbst an unserer Stelle erblicken müsste. Eine von diesem aus
gebildete Erfahrung aber kann keine blos eingebildete mehr sein; ihre Identität
mit der objektiven Welt ist durch den theocentrischen Standpunkt des Beobachters
entschieden. Der letztere kann allerdings nicht demonstrirt, er kann nur
erflogen, oder durch allmälige Emporhebung des Bewusstseins phänomenologisch
erstiegen werden. Für die erreichte Einheit des Endlichen mit dem
Unendlichen, des Ich's mit dem Urich, des Subjektiven und Objektiven im
absoluten Geist gibt es keinen anderen Erweis, als die reine (intellektuale,
transcendentale, absolute) Anschauung.
Auf die Produktion der Erfahrung der Form nach hatte Kant's
Besonnenheit die Mitthätigkeit des erfahrenden Subjektes beschränkt,
auf die Produktion aller Erfahrung der Form und dem Stoffe nach dehnte der
fortgeschrittene Idealismus den kritischen Hauptgedanken aus. Aus dem Holz der
reinen Anschauungsformen der transcendentalen Aesthetik Kant's wurde der
Rennwagen gezimmert, auf welchem die neuen Pha
tone zum Sonnensitze emporfuhren. War man einmal dahin gelangt
mit geistigen Augen zu schauen, die kein empirischer Psycholog an der Seele zu
entdecken im Stande war, dann gab es für den Gesichtskreis allerdings keine
Grenze mehr und der unerschöpfliche Born spekulativer Phantasie sprang in überreicher
Fülle. [14/15]
Wir weilen nicht bei den Luftschlössern, durch welche
idealistische Natur- und Geschichtsphilosophien uns Natur und Geschichte
ersetzen zu können gewähnt haben. Mancherlei kühne Combinationen
hat die Beobachtung nachher bestätigt; keine, bei welcher nicht
verstohlenerweise eingeschwärzte Erfahrung das Beste gethan hätte.
Wirkte der Idealismus befruchtend zurück auf Natur- und
Geschichtsforschung, so war es, weil Natur und Geschichte erst befruchtend auf
die Spekulation gewirkt hatten. Die stolze Verleugnung des Brunnens, bei dem die
spekulativen Krüge zu Gaste gingen, hat nicht zu hindern vermocht, dass die
Gefässe endlich brachen.
Der Rückschlag konnte nicht ausbleiben. Einer die Erfahrung
ignorirenden Philosophie ist eine die Philosophie negirende
Erfahrungswissenschaft auf dem Fusse gefolgt. Hatte der Idealismus nur
zugelassen, was sich aus innerer Anschauung construiren, so wies diese Alles ab,
was sich nicht durch äussere Wahrnehmung belegen liess. Jener berief sich
auf die nicht zum Schweigen zu bringende Evidenz der reinen Anschauung; diese
auf das zwingende Gebot der reinen Thatsache. Jener löste die Natur in
Geist, diese den Geist in Natur auf: die unfehlbare Methode des dialektisch in
Gegensätzen sich bewegenden Idealismus rief in ironischer Selbstbewährung
dessen vernichtendes Gegentheil, den Empirismus ins Dasein.
Die Mängel beider Ausschreitungen sind entgegengesetzter
Art. Der Idealismus, angeblich aus dem Inneren schöpfend, was er
wissentlich oder unwissentlich heimlich aus der Erfahrung entlehnt, möchte
den [15/16] Einfluss des Objektes, der Empirismus, auch das der reinen Thatsache
zulegend, was er sich selbst unbewusst erfahrend aus reinem Denken in diese
hineingelegt, den des Subjektes verleugnen. Mit Vorerfahrung geht jener an die
Erschaffung aller Erfahrung, mit Vorbegriffen dieser an die Erzeugung angeblich
der Erfahrung allein entnommener Begriffe heran. Das Freisein vom Einfluss der
Thatsachen ist bei jenem eben so sehr Selbsttäuschung, wie bei diesem das
Entblösstsein von jeder grundlegenden Theorie.
Durch reines Denken möchte die intuitive
Anschauungsphilosophie die Erfahrung, durch blosse Erfahrung die nackte
Erfahrungswissenschaft das reine Denken entbehrlich machen. Wenn aber dort dem
reinen Denken die Erfahrung, die sich durch nichts ersetzen, so stellt hier der
baaren Erfahrung das Denkgesetz sich gegenüber, das sich durch nichts
beugen lässt. Die Ausgleichung zwischen beiden, nicht die Aufhebung des
einen durch das andere ist die Aufgabe einer mit Recht so zu nennenden
Erfahrungsphilosophie.
Aus der Kant'schen Behauptung eines die Form aller Erfahrung
producirenden Subjectes ist der Idealismus der intuitiven Anschauungsphilosophie
mit all seinen Consequenzen hervorgewachsen, aus der Nichtanerkennung des
obersten Ansehens der Denkgesetze gegenüber den Thatsachen geht der
Empirismus, die Unphilosophie hervor. Jene muss aufgegeben, die Form aller
Erfahrung muss als ebenso unabweislich gegeben anerkannt werden, wie die Materie
derselben; diese muss fallen gelassen, d. h. das Denkgesetz der Erfahrung gegenüber
in voller Schärfe aufrecht [16/17] erhalten werden; durch das letztere
steht die echte Erfahrungsphilosophie als solche der Unphilosophie, durch das
erstere als Realismus dem Idealismus gegenüber.
Es kann hier nicht der Ort sein, den Resultaten dieser Denkweise
vorzugreifen. Dieselbe knöpft an das Gegebene als einzigen Ausgangspunkt
an, und ist insofern empirisch; sie begnügt sich aber keineswegs mit jedem
beliebig Gegebenen oder dafür Ausgegebenem, und ist insofern kritisch.
Dieselbe erkennt die subjective Qualität des sinnlichen Erfahrungsstoffes
an und ist insofern idealistisch; aber sie dehnt dieselbe weder auf das
verborgene An-Sich, noch auf die Formen der Erscheinung aus und insofern ist sie
realistisch. Indem sie dem Empirismus die berechtigte Empirie ohne gedankenlose
Gläubigkeit, dem Idealismus die Idealität der Erscheinungswelt ohne
deren erfahrungslose Selbstproduktion entlehnt, ist sie die Gegnerin zugleich
und die Vermittlerin beider entgegengesetzten Weltanschauungen in der Schule und
auf dem Boden eines geläuterten Kriticismus.
Wenn wir in den folgenden Vorträgen für diese
Denkweise den Namen der Philosophie vorzugsweise in Anspruch nehmen, so
geschieht es, weil uns die blosse Erfahrungswissenschaft auf diesen überhauptkeinen,
die reine Anschauungsphilosophie dagegen uns auf den der Poesie gerechteren zu
haben scheint. Wie die Phantasie dem Dichter, geziemt dem Denker der logische
Verstand. Wenn es die Philosophie verschmäht, sich über die
Nothwendigkeit jedes Schrittes auf dem Gebiete ihrer Begriffe strenge
Rechenschaft zu geben, wenn sie als Criterium der Wahrheit statt auf den [17/18]
allgemeinen und nothwendigen Inhalt objektiver Begriffe sich auf die angebliche
Erfahrung einer nur Auserwählten zugänglichen höheren Anschauung
beruft, dann hat sie den ihrer allein würdigen Charakter längst eingebüsst
und ist bei dem Satz der Sophisten angelangt, dass der Mensch das Mass aller
Dinge sei. Diese anschauende Philosophie hat die letztere selbst in Verruf
gebracht, eine dem Denken wie der Erfahrung gerecht werdende Wissenschaft muss
ihren Ruf wieder herstellen. Wenn die Anzeichen nicht trügen, ist ihre Zeit
nicht mehr fern. Das Forschen, von der zerstreuenden Fülle empirischer
Einzelthatsachen ermüdet, beginnt nach Principien und innerem logischen
Zusammenhalt sich zu sehnen. Wie im Anfang unseres Jahrhunderts Philosophen zur
Naturforschung hin-, so sehen wir jetzt geistreiche gefeierte Naturforscher sich
zur Philosophie zurückwenden. Hofften sie damals von ihr, dass sie
Thatsachen erfinde, greifen sie jetzt nach derselben, dass sie die gesammelten
sichte. Die philosophische Aufgabe der Gegenwart ist die Kritik aller gegebenen
Erfahrung.
Wir schliessen hier unsere Betrachtung, Philosophie und
Erfahrung sind für einander unentbehrlich; jene knüpft an diese an,
diese wird durch jene berechtigt. Philosophie ohne Erfahrung wird zur hohlen
Schwärmerei, Erfahrung ohne Philosophie zur kritiklosen Meinung. Wie von
selbst hat der historische Entwickelungsgang die Philosophie zu einer Methode
zurückgelenkt, welche weniger vielversprechend in ihren Verheissungen und
vielleicht weniger glänzend in ihren nächsten Ergebnissen, im Erfüllen
der ersteren und im Sichbewähren der letzteren verlässiger [18/19]
sich erweisen dürfte, als so manche ihrer hochfahrenden Vorgängerinnen.
Ebensoweit entfernt von eitler Selbsterhebung über, wie von feiler Willfährigkeit
gegen das thatsächlich Gegebene, will sie die äussere Erfahrung weder
ersetzen noch umstossen, aber auch nicht, wie sie gegeben ist, behalten, wenn
die Gesetze des Denkens sich mit ihr nicht in Uebereinstimmung befinden. Ebenso
unfähig, das reine Denken um der Erfahrung, wie diese um jenes willen
fallen zu lassen, sucht sie in möglichen oder thatsächlich
vorliegenden Widersprüchen beider nur die freudig begrüssten Antriebe
zu weitergehender Forschung.
Mögen denn immerhin Kurzsichtige jenen Begeisterten
zujauchzen, die mit der Sorglosigkeit des Genius ihre Strasse gebahnt wähnten,
weil ein gefügiges Flügelross sie über die Abgründe
hinwegtrug! Mögen die Aengstlichen fernbleiben, die in bequemer
Behaglichkeit den Werth des Philosophirens nach dessen erlangten Ergebnissen
abmessen, ohne zu ahnen, dass nicht diese, sondern das in wenn auch fruchtlosem
Ringen um ewige Probleme erstarkte Denken der Lohn und die Blüte des
Forschens sind. Sie, die wahren Profanen, weist die Philosophie aus ihrem Vorhof
zurück, für sie gibt es keine andere Hoffnung als das Ruhkissen des
Glaubens. Tausend und tausend misslungene Versuche können den freudigen
Stolz nicht tilgen, welcher die Menschenbrust bei dem Gedanken erfüllt,
Aufgaben sich stellen zu dürfen, deren Lösung in unendlicher Ferne
liegt. Mühloser allerdings und für Schwache verlockender mag es sein,
die volle Wahrheit im Fluge oder aus der gütigen Hand des ewigen Gebers zu
empfangen; wir aber schätzen mit Lessing die ernste Göttin zu [19/20]
hoch, als dass wir sie anders als durch rastlose Denkarbeit verdienen wollten,
und stärken uns, wenn die Kräfte uns verlassen, an des Dichters
erhabenem Wort:
Nur der geniesst die Freiheit und das Leben,
Der täglich sie erobern muss!
Mit diesen Gesinnungen, meine Herren, biete ich mich Ihnen als Führer
an. Wir haben Alle dasselbe Ziel, lassen Sie uns auch einen gemeinsamen Weg
wandeln. Sehen Sie mich als Ihren Freund, als Ihren Berather, als Ihren
Commilitonen an, denn auf dem Boden der Philosophie, meine Herren, bleiben wir
unser Leben lang doch Alle Studenten!
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