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Auf meinen Rath hat der Verfasser die nachstehende Abhandlung,
welche 1873 bei Longmans in London englisch erschien, selbst übersetzt und
durch einige Zusätze vermehrt, während ich die sprachliche Correctur übernahm.
Mir erschien diese neue Auffassung und Darstellung der Phrenologie höchst
interessant und durchaus der geistigen Zeitströmung entsprechend, als eine
unbefangene, klare Darstellung des Fortschrittes auf dem Gebiete der Erklärung
des Geisteslebens.
Wenn es sich nicht verkennen lässt, dass die Entdeckungen
und Lehren Gall's bisher häufig, sowohl über- als unterschätzt,
und sogar leichtsinniger Weise missbraucht worden sind, was um so leichter möglich
war, da es ihnen ihrer ganzen Natur nach zum Theil noch an derjenigen exacten
[V/VI] Begründung fehlte, welche man für jeden Zweig der
Naturwissenschaft zu verlangen berechtigt ist, so scheint mir gegenwärtig,
besonders durch die höchst wichtigen Entdeckungen und Beobachtungen der
Herren Richardson und Ferrier in dieser Beziehung ein grosser Fortschritt
gewonnen zu sein. Man darf daher wohl hoffen, es werde unter diesen neuen
Gesichtspunkten auch die strenge Naturforschung es nicht mehr verschmähen,
der Lehre von den Gehirnfunctionen, welche jedenfalls das allgemeinste
menschliche Interesse beanspruchen können, ihre Theilnahme zu gewähren,
und ihr behülflich zu sein, eine immer bestimmtere wissenschaftliche Form
und Begründung zu erlangen.
Freiberg, im Februar 1874.
Bernhard von Cotta.
[VI/VII]
Fig.
1.Ansicht des Gehirns
(Cerebrum
) von oben. Durch einen horizontalen Schnitt sind der obere
Theil des Schädels und die Hirnhäute entfernt worden.
A. A.
Die beiden Hemisphären und deren Furchen und Windungen;
a der Stirnlappen;
a' der mittlere Lappen;
a'' der hintere Lappen.
1. Hinterhauptbein; 1' Nath zwischen Hinterhauptbein und
Seitenwandbein;
2. Seitenwandbein; 2' Nath zwischen Seitenwandbein und
Stirnbein;
3. Stirnbein; 3' Stirnbeinhöhlen
(Sinus frontales).
Fig.
2.Die Basis des Gehirns von unten gesehen.
A. A, a,
a', a'', wie bei Fig. 1.
a''' Die Sylvische Furche, wodurch die Stirn und die Schläfenlappen
getrennt sind.
B.B.
Das Kleinhirn
(Cerebellum)
mit dessen beiden Hemisphären und Furchen.
C
. Das verlängerte Mark
(Medulla oblongata).
Durch eine Längsfurche ist es in zwei Seitenhälften
geschieden; der Spalte zunächst liegend sieht man die Pyramidenkörper
[VII/VIII]
(Corpora pyramidalia),
die hauptsächlich aus Fasern des vorderen Rückenmarksstranges
gebildet sind; seitlich davon liegen die Olivenkörper
(Corpora olivaria),
hauptsächlich aus Fasern des seitlichen Stranges gebildet,
und hinter diesen die strickförmigen Körper
(Corpora restiformia)
, welche vorherrschend Fasern des hinteren Stranges des Rückenmarks
enthalten.
D
. Die Brücke
(Pons varolii),
Verbindungstheil, wovon Fasern zu beiden Hemisphären des
Kleinhirns, so wie auch zu denen des Grosshirns, hinlaufen.
b
der Riechnerv und dessen Kolben;
c
der Sehnerv;
d
der Gehörnerv;
e
ein dem Geschmacksinn angehörender Nerv
(Glossopharyngeus).
Fig.
1 u. 2. Die Grundtheile von zwei horizontal aufgeschnittenen Schädeln,
von oben gesehen.
A.
Die vordere Grube (oberer Augenhöhlentheil), worauf der
Stirnlappen ruht.
B.
Die mittlere (Keil-Schläfenbein-) Grube, worauf der
mittlere Lappen ruht.
C
. Die hintere Grube, worauf das Kleinhirn ruht.
D.
Das grosse Hinterhauptsloch
(Foramen magnum),
die Verbindungstheile des Gehirns und Rückenmarks
enthaltend.
a
das Stirnbein;
a'
der Jochbogen
(arcus zygomaticus);
b
das Keilbein
(os sphenoideum);
c
das Schläfenbein (
os temporum);
d
der Felsentheil des Schläfenbeins, worin die Gehörorgane
liegen und wodurch die mittleren und hinteren Schädelgruben getrennt
werden;
e
das Hinterhauptbein; [VIII/IX]
f
die schräge Abdachung des Grundbeins (
Clivus
), worauf das verlängerte Mark und die Brücke ruhen.
Fig.
1.Der Grundtheil des Schädels eines Menschen von sehr
beschränkten intellectuellen Fähigkeiten. In Folge davon wurde er,
obwohl der Brandstiftung überwiesen, nur zur Gefängnissstrafe
verurtheilt.
Fig.
2.Der Grundtheil eines Menschen von guten intellectuellen Fähigkeiten.
Die vorderen Gruben dieser beiden Schädel zeigen einen auffallenden Grössenunterschied,
obwohl die anderen Gruben von ziemlich gleicher Grösse sind.
Fig.
1.Ansicht des Gehirns des berühmten Mathematikers Gauss.
Fig.
2.Ansicht des Gerhirns eines deutschen Handwerkers. Diese
Figuren sind einem populären Werk: Der Leib des Menschen", von
Professor Reclam entlehnt worden; sie zeigen einen grossen Unterschied in
Betreff der Zahl und Richtungen der Gehirn-Wülste oder Windungen.
Fig.
3.Abbildung nach dem Kopfabguss des Professors B. von Cotta,
eine ausgezeichnet gute Entwickelung des vorderen Gehirnlappens zeigend.
Fig.
4.Abbildung nach dem
post mortem
- Kopfabguss eines sächsischen Buchbindergesellen und
Selbstmörders (aus dem Jahre 1838).
Fig.
1 u. 2. Die Vorder- und Seitenansichten eines Kretins aus
Hallstadt im Salzkammergut.
Fig.
3.Seitenansicht des Schädels des grossen Dichters Schiller.
(Nach einem Originalabguss, den ich durch besondere Güte aus Weimar 1838
erhielt.) Die Sternchen auf [IX/X] der Seitenansicht des Kretin-Schädels
und auf dem mittleren Theil des Schädels Schiller's, bezeichnen die innere
Ausdehnung des Sitzes der respectiven vorderen Lappen. Die beiden anderen
Sternchen auf dem Schädel Schiller's geben die Verknöcherungspunkte
der Stirn- und Scheitelbeine an.
Fig.
4.Ansicht des Kopfes des berühmten Theologen u. s. w.
Dr. von Ammon, nach einem, 1840, während seines Lebens, von mir genommenen
Abguss. Die vorderen oberen Kopftheile zeigen eine vorzüglich gute
Entwickelung. Die intellectuellen und moralischen Fähigkeiten des grossen
Theologen und Predigers sind hinreichend bekannt.
Fig.
5.Ansicht des Kopfes von Vetter, einem unverbesserlichen Diebe,
nach einem
post mortem -
Abguss aus meiner Sammlung. Er ist mehreremals in Sachsen zur
Zuchthausstrafe, verurtheilt worden. Nach seiner letzten Verurtheilung erhängte
er sich. Die verticalen Linien auf Fig. 4 u. 5 geben die Grössenverhältnisse
des Stirnlappens an.
N. B.
Die Ansichten der Gehirne, ausgenommen die von Gauss und des
deutschen Handwerkers, so wie des Kopfes des Selbstmörders (Tafel III, Fig. 4),
sind aus meinem Werke: Grundzüge der Phrenologie" entlehnt. Die
Original-Zeichnungen auf Stein sind von dem berühmten Lithographen Herrn
Weinhold. In allen Fällen wo es sich um die Vergleichung von Köpfen
oder Schädeln handelt, sind die Grössenverhältinsse derselben mit
mathematischer Genauigkeit angegeben. [X/Tafel I bis IV]
[1/2] [2 Leerseite/3]
D
ie Lehren der philosophischen Schulen, welche man als Wissenschaft
des Geistes", Philosophie des Geistes", Psychologie"
u. s. w. bezeichnet hat, sind hauptsächlich auf einseitige
Erfahrungen und abstractes Denken basirt. Sehr wenig Psychologen von Fach haben
die Phänomene des Seelenlebens mit Rücksicht auf die Erforschung ihrer
physischen Ursachen beobachtet; noch weniger sind sie Physiologen gewesen. Ihre
Lehren haben in der That einen mehr subjectiven als objectiven Charakter, begründen
sich vorzugsweise auf das Selbstbewusstsein der einzelnen Denker, und sind nicht
geeignet, die Probleme der menschlichen Seele im Allgemeinen zu lösen. Auch
wo objektive Erfahrungen in Systeme der Psychologie aufgenommen worden sind, hat
man ihnen in der Regel eine Erklärung gegeben, die in Harmonie mit
vorausgedachten Theo-[3/4]rien einer übersinnlichen Seele als eines
abstracten Wesens stand. Ein solches Verfahren ist nicht zweckmässig, um
wahre Einsicht in die Natur der Seelenthätigkeiten zu gewinnen. Obwohl die
Selbstbeobachtung, so weit sie sich frei von Eigendünkel erhält, ihren
Werth haben mag, so ist doch eine vielseitigere Forschung nöthig, wobei
alle Thatsachen des Seelenlebens - sowohl solche, von denen wir historische
Kenntniss haben, als auch jene der eigenen Erfahrung - berücksichtigt
werden müssen. Zwar lassen sich die gewonnenen Resultate zusammenfassen und
ordnen, aber die Psychologie als eine praktische Lehre kann - insofern sie von
der menschlichen Seele insbesondere handelt - nur dann mit Erfolg betrieben
werden, wenn sie als ein Theil der Anthropologie betrachtet und
naturwissenschaftlich behandelt wird.
In grossem Gegensatz zu den Lehren, auf die ich mich soeben
bezogen habe, sind jene des Dr. Gall von den Anlagen der menschlichen Seele. Mit
grossen Beobachtungs- und Denkfähigkeiten begabt, fielen dem Genannten
schon in der Schule die Verschiedenheiten in den Charakteren und Fähigkeiten
seiner Mitschüler auf; gleichzeitig wurde er dahin geführt, gewisse
Coincidenzen zwischen einzelnen hervorstechenden Anlagen und besonderen
Kopfformen zu bemerken. Bei diesem Gegenstande werde ich nicht [4/5] verweilen,
da schon in deutscher Sprache Vieles darüber geschrieben worden ist*). Auch
werde ich mich nicht dabei aufhalten, die Namen von mehr oder weniger berühmten
Personen zu nennen, welche schon in früheren Perioden der Geschichte ihre
Aufmerksamkeit auf die Formen des Kopfes gerichtet haben, und die - obwohl ihre
Beobachtungen, sowie ihre Ideen von sogenannten Kräften der menschlichen
Seele sehr unbestimmt waren, doch geglaubt haben, dass die letzteren im Kopfe
localisirt seien**). In dieser Beziehung hat Gall also Vorläufer gehabt,
aber er ist der Erste gewesen, der erkannt hat, dass die Form des Kopfes keine
physiologische Bedeutung haben kann, wenn sie nicht mit der Entwickelungsform
des Gehirns übereinstimmt und ein Licht auf die Functionen dieses Organs
wirft. Gall's grosse Beobachtungsgabe und seine Vorliebe für
Naturgeschichte veranlassten ihn bald, den geistlichen Stand, für welchen
er bestimmt war, aufzugeben und sich dem medicinischen Fach zu widmen. Seine
Bestrebungen gingen nun dahin, die feinere Anatomie des
*) Siehe unter Anderem Geschichte und Wesen der
Phrenologie" aus dem Englischen von Bernhard von Cotta. Dresden und Leipzig
1838.
**) Siehe hierüber Grundzüge der Phrenologie"
von R. R. Noel. Leipzig und Dresden 1847. S. 24 f. [5/6]
Gehirns zu studiren, und die Anatomen seiner Zeit haben es vorzüglich
Gall zu danken, dass ihre fehlerhafte Methode, das Gehirn von oben schichtweise
abzutragen, ausser Gebrauch kam, und an deren Stelle das physiologisch
richtigere Verfahren trat, das Gehirn von unten zu untersuchen, und in Berücksichtigung
seines Zusammenhanges mit dem Rückenmark, den Verlauf seiner Fasern zu
erforschen. Auch hat Gall auf die Wichtigkeit der Oberfläche des Gehirns,
auf die Windungen und deren graue Substanz, besondere Aufmerksamkeit hingelenkt.
In letzterer Hinsicht, sowie auch was die Ausbreitung der Gehirnfasern betrifft,
ist zwar Gall ebenfalls nicht ohne Vorläufer gewesen. Willis (1664) hat die
Bedeutung der Windungen, und Varol den Verlauf der Hirnfasern zum Theil erkannt;
dass aber die Lehren der medicinischen Schulen über die Anatomie des
Gehirns vorzüglich durch Gall's Bemühungen und Entdeckungen
umgestaltet worden sind, ist eine bestimmte Thatsache, die von vielen deutschen
Physiologen anerkannt worden ist. Spätere Forschungen über die
Anatomie des Gehirns und die Entwickelungsgeschichte desselben, sind, obwohl sie
Manches ans Licht gefördert haben, was Gall unbekannt geblieben war,
dennoch durchaus nicht in Widerspruch mit dem Hauptprincipe seiner Lehre in
Betreff der Locali-[6/7]sation der Seelenthätigkeiten gerathen wie aus dem
Nachfolgenden hervorgehen wird.
Es wird nun nöthig zu erklären, was Gall wirklich
gethan hat, um das Studium der menschlichen Seele auf naturgeschichtliche und
physiologische Erfahrungen zu basiren. Obwohl vor ihm einige Physiologen,
Naturforscher und Menschenkenner das Gehirn als das Organ oder Werkzeug der
Seele angesehen haben, so hielten sie doch letztere sammt allen ihren Kräften
und Vermögen, für immateriell, und lehrten, dass die Seele als
Gegenstand der Vorstellung und Beweisführung ganz unabhängig von körperlichen
Organen sei. Hier kann ich mich jedoch auf die Thatsache berufen, dass in der
Praxis viele grosse Dichter und Dramatiker - Shakespeare insbesondere - bei
ihren Entwürfen und Darstellungen der Charaktere und Handlungen der
Menschen die Wörter Seele" und Gehirn" oft als
gleichbedeutend angewandt haben. Auch in den Sprüchwörtern und
Redensarten aller civilisirten Völker giebt es viele Anspielungen auf den
Kopf, auf die Grösse und Form desselben, als Zeichen von geistiger Kraft im
Allgemeinen, sowie auch von besonderen Seeleneigenschaften. An solchen
Anspielungen ist die deutsche Sprache besonders reich, und einige davon, die
besondere Talente und Triebe mit besonderen [7/8] Kopfformen in Zusammenhang
bringen, stimmen ungefähr mit den Erfahrungen Gall's überein.
Es gehörte jedoch, wie gesagt, zu den Lehren seiner Zeit,
dass die menschliche Seele - und zwar ist hier nicht von einem abstracten
philosophischen Begriff von Seele oder Geist an und für sich die Rede -
sich ganz unabhängig von der Materie erkennen und untersuchen liesse, und
dass die Kräfte oder Eigenschaften der menschlichen Seele etwas ganz
Anderes seien, als alle jene Phänomene des Lebens, die man gewohnt ist für
Functionen körperlicher Organe zu halten. Nach den Lehren dieser Schulen
waren daher das Gedächtniss, das Bewusstsein, die Einbildungskraft, die
Sympathie, die Aufmerksamkeit, der Wille u. s. w. besondere Kräfte,
Vermögen oder Fähigkeiten des Geistes, und Gall, auf den Erfahrungen
seiner Jugend, sowie auf seinen späteren Beobachtungen und vielen
historischen Daten fussend, ist der Erste gewesen, der einleuchtend dargelegt
hat, dass solche Kräfte, Vermögen oder Fähigkeiten des Geistes
nur abstracte Begriffe sind, die keine Einsicht in die concreten Thatsachen des
Seelenlebens gewähren, und nicht die verschiedenen Arten oder Formen von
Gedächtniss u. s. w., und die speciellen Capacitäten der
Individuen dafür erklären. Er berief sich z. B. auf die
Erfahrung, dass bei dem einen [8/9] Menschen eine lebhafte Auffassung, ein
starkes Bewusstsein und ein gutes Gedächtniss für musikalische Töne
und deren Combinationen gefunden wird, dass er auch viel Urtheils- und
Einbildungskraft in diesen Beziehungen zeigen kann, während er doch nur
eine schwache Auffassung, ein schwaches Gedächtniss u. s. w. für
die Formenverhältnisse äusserer Gegenstände besitzt, für
welche hinwiederum die Auffassungsbefähigung und das Gedächtniss eines
anderen Menschen ganz auffallend sein können. In solchem Grade variiren in
der That die natürlichen Gaben der Auffassung und des Gedächtnisses in
den genannten Richtungen, so dass der eine Mensch ein angeborenes Genie für
die Musik, der andere für die plastische Kunst haben kann. In ähnlicher
Weise berief sich Gall auf die Erfahrung, dass die erwähnten und andere
abstracte Kräfte des Geistes, wo sie beobachtet werden, allemal in
bestimmten Formen, z. B. mit Fähigkeiten für Sprachen, für
die Mathematik, die Mechanik u. s. w. verbunden zum Vorschein kommen,
und dass, wo Grosses in Künsten und Wissenschaften geleistet wird, man die
Ursache davon nie der Erziehung eines Individuums allein zuschreibt, sondern vor
Allem als die Folge von speciellen angeborenen Anlagen ansieht.
Nicht allein wurden von Gall intellectuelle [9/10] Gaben mit Rücksicht
auf ihre Grundbestandtheile und organischen Bedingungen beobachtet und
untersucht, sondern auch alle Aeusserungen von Gefühlen, sogenannten Gemüthseigenschaften,
Affecten, Trieben u. s. w. sind von ihm auf ähnliche Weise
erforscht worden. Gall war durchaus abgeneigt, Alles theoretisch erklären
und in ein System bringen zu wollen*), und es war gut so, denn wäre er von
der Theorie irgend eines speculativen Psychologen eingenommen gewesen, so hätte
er nicht so scharf und unbefangen beobachten können, wie er es that. Statt
den menschlichen Geist von einem transscendentalen Gesichtspunkte aus zu
betrachten, verfolgte er muthig und ohne Rücksicht auf seinen persönlichen
Vortheil, die naturwissenschaftliche Methode der Untersuchung, erkannte als
leitendes Princip den Zusammenhang der menschlichen Natur mit der der Thiere im
Allgemeinen, und suchte die niederen und einfacheren Formen des Seelenlebens zu
erkennen, ehe er nach Einsicht in die höheren und complicirten strebte. Da
er bei jedem Falle von hervorstechenden Fähigkeiten, Leidenschaften u. s. w.,
den er
*) Je suis plus glorieux de la découverte de la
plus mince vérité que de l'invention du plus brillant système":
Gall, Sur les fonctions du cerveau etc., tom.
VI, p. 502. [10/11]
beobachtete, auch genaue Rücksicht auf die Kopfform des
Individuums nahm, und womöglich sich Gipsabgüsse von Köpfen merkwürdiger
Personen, Schädel von Mördern und anderen grossen Verbrechern
verschaffte, so blieben seine Forschungen und Ansichten durchgehend objectiv,
frei von jenen auf sogenannte Intuition basirten, subjectiven Speculationen, und
von jenen theologischen Dogmen, welche zu so vielen abweichenden Theorien und
Controversen über die menschliche Seele geführt haben. Auf diese Weise
glaubte er nach und nach, wie sich seine Erfahrungen vermehrten, Einsicht in die
menschliche Seele erlangt, und viele primitive oder Grund-Anlagen derselben als
Hauptquellen der menschlichen Handlungen erkannt zu haben. Mehrere solcher
Grundfähigkeiten hielt Gall in Folge seiner Beobachtungen für den
Thieren und Menschen gemeinsame, andere, z. B. die zu Bildung und
Fortschritt so nothwendige Gabe der articulirten Sprache, für den Menschen
allein angehörend; und wieder andere, z. B. die Fähigkeiten des
abstracten Denkens und des sogenannten Gewissens, zeigten sich bei den höheren
Thieren - wenn sie ihnen auch nicht gänzlich abzusprechen waren - im
Vergleich mit den Menschen nur in einem sehr rudimentären Zustande. Seine
Ansichten über das Seelenleben der Menschen und der Thiere fand er [11/12]
ferner durch die vergleichende Anatomie ihrer Gehirne bestätigt.
Gall's Lehre, dass die moralische Seite der Menschennatur, die
edelsten Empfindungen der Seele, ebenfalls angeboren, d. h. organisch
bedingt seien, hat den Metaphysikern und Theologen mehr Aergerniss gegeben, als
die gleiche Lehre über die intellectuellen Fähigkeiten. Eine genaue
Berücksichtigung von Thatsachen wird jedoch zeigen, dass die eine Kategorie
des Seelenlebens ebenso sehr mit körperlichen Zuständen verknüpft
ist und von Gehirnthätigkeiten abhängt, als die andere. In Beziehung
auf diesen Punkt führe ich hier die Worte eines grossen Menschenkenners,
des grossen deutschen Dichters an, der in seinem Wilhelm Meister"
Natalie Folgendes von dem Abbé erzählen lässt: Er
behauptete das Erste und Letzte am Menschen sei Thätigkeit, und man könne
nichts thun, ohne die Anlage dazu zu haben, ohne den Instinct, der uns dazu
treibe. Man giebt zu, pflegte er zu sagen, dass Poeten geboren werden, man giebt
es bei allen Künsten zu, weil man muss und weil jene Wirkungen der
menschlichen Natur kaum scheinbar nachgeäfft werden können, aber wenn
man es genau betrachtet, so wird jede, auch die geringste Fähigkeit uns
angeboren, und es giebt keine unbestimmte Fähigkeit". [12/13]
Es ist nun vor allem nöthig, eine Definition von Grund-
oder primitiven Fähigkeiten zu geben, wobei zu erklären ist, dass ich
für meinen Theil, angesichts der nun viel besprochenen Frage von der
Entstehung der organischen Species - den Menschen mit eingerechnet - jene Ausdrücke
nur im beschränkten Sinne, d. h. nur in Bezug auf historische
Thatsachen anwende. Grundfähigkeiten (oder Grundanlagen) sind jene
angebornen und erblichen Dispositionen zu besondern Formen von Seelenthätigkeiten
(sogenannte Affecte, Gemüthstriebe, Leidenschaften, Talente u. s. w.),
welche in der menschlichen Natur im Allgemeinen wurzeln - zum Theil auch, wie
schon bemerkt, in der der Thiere -, welche sich von Kindheit an instinctartig
und als psychische Reflex-Actionen äussern, und bei Erwachsenen sich am
Leichtesten in den Handlungen von wilden Völkern, und in civilisirten Ländern
in denen von sehr impulsiven Personen, beobachten lassen. Das kleine Kind, wie
allgemein bekannt, äussert seinen Nahrungstrieb auf instinctartige Weise.
Es lächelt - als psychische Reflex-Action - auf Liebkosungen, während
eine unsanfte Behandlung deprimirend, und selbst Furcht erregend, auf seine
junge Seele einwirkt. Indem das Kind aufwächst, werden verschiedene
Dispositionen und psychische Reflex-Actionen mani-[13/14]festirt. Es wird sich
freudig erregt zeigen, wenn es gelobt, wird empfindlich erröthen, oder auch
ärgerlich werden, wenn es getadelt wird; es wird Aengstlichkeit äussern,
wo die geringste Gefahr droht, wird Liebe mit Zuneigung erwidern u. s. w.
Auch bei der zarten Jugend kann man einerseits Neigungen zu Gefrässigkeit,
zu Habsucht, zu Falschheit, zu Stolz und Eitelkeit, zu Leidenschaftlichkeit,
oder aber zu Niedergeschlagenheit bei Hindernissen, zur Befriedigung von
Begierden u. s. w. bemerken; anderseits sieht man natürliche
Liebenswürdigkeit - sogenannte Herzensgüte -, Bereitwilligkeit mit den
Freuden und Leiden Anderer zu sympathisiren, Freigebigkeit, Wahrheitsliebe, Frömmigkeit
u. s. w. sich äussern. Theils aus inneren organischen Thätigkeiten,
theils als bestimmte Reactionen auf besondere Bewegungen von Aussen, kommen
verschiedenartige Seeleneigenschaften zum Vorschein, welche nicht allein von
individuellen angebornen Neigungen Zeugniss geben, sondern auch von
Seelenanlagen, die dem Menschen im Allgemeinen angehören. Bei einem jeden
Menschen, füge ich noch hinzu, sind sein ganzes Leben hindurch psychische
Reflex-Actionen mehr oder weniger bemerkbar; sogar bei Personen, die durch
Erziehung und Ausbildung des Verstandes die Macht der Selbstbeherrschung
erworben haben - eine Macht, die nebenbei gesagt, auch [14/15] ihre physische
Grundlage hat. Einige Menschen sind nicht im Stande, ihren angebornen Stolz zu
verläugnen; andere zeigen sich durchgehends als eitel, tapfer, furchtsam
oder wohlwollend, ohne hier von den vielen anderen wohlbekannten Thätigkeitsäusserungen
des natürlichen Charakters zu reden.
Auf der einen Seite wird der Mensch das Geschöpf seiner
Umgebung und Verhältnisse genannt; auf der anderen Seite, einem alten
deutschen Sprüchwort zufolge, hat ein Loth von der Mutter mehr Werth
als ein Pfund aus der Schule". Eine jede dieser Ansichten enthält viel
Wahres. Das zweite ist gewiss das Wichtigere, was die angeborne Disposition und
Befähigung eines Individuums betrifft, aber wenn wir die
Entwickelungsgeschichte des Menschen im Ganzen und Allgemeinen und die
verschiedenen Menschenracen die es auf der Erde giebt, in Betracht ziehen, so
erkennen wir, wie viel Wahrheit doch auch in der ersteren Ansicht liegt.
Der natürliche Charakter eines Menschen, wie er sich in der
Jugend zeigt, ändert sich nicht gründlich, obschon besondere Umstände,
das Alter und die Erfahrungen, die Thätigkeitsäusserungen selbst
hervorstechenden Anlagen bedeutend modificiren. Ist einmal der natürliche
Charakter eines Menschen gut erkannt, so wird man in der That ziemlich sicher
voraussagen können, [15/16] wie er unter gegebenen Verhältnissen
handeln wird. Es war, wie erwähnt, in Folge besonderer Beispiele von
hervorstechenden Charaktereigenschaften u. s. w. und den
vergleichenden Untersuchungen von Köpfen, dass Gall am Ende sich berechtigt
glaubte, siebenundzwanzig Grundanlagen der Seele anzunehmen und, aus der
Entwickelungsform des Schädels auf die des Gehirns schliessend, ihre Sitze
oder Organe - wenn man das Wort hier anwenden darf - im Gehirn anzudeuten.
Gall's Nachfolger haben seine Lehren weiter ausgebildet, und Ein
System der Phrenologie" - von dem ich später reden werde - ist
daraus entstanden. Ich bemerke hier nur, dass das Wort Phrenologie
(Geisteslehre) weder geeignet ist, Gall's psycho-physische Forschungen, noch
seine cranioskopischen Erfahrungen zu bezeichnen. Ihm selbst missfiel die
Anwendung des Wortes sehr, und seine beiden grossen Werke in französischer
Sprache führen die Titel: Anatomie et Physiologie du système
nerveux en général et du cerveau en particulier", und Sur
les fonctions du cerveau et sur celles de chacune de ses parties". Einer
seiner Schüler, Dr. Forster, war es, der das Wort Phrenologie zuerst einführte,
um, wie er meinte, eine neue Wissenschaft des Geistes, wie sie aus Gall's
Erfahrungen im Ganzen genommen hervorging, zu bezeichnen. [16/17] Ein anderer
Schüler und zeitweiliger Mitarbeiter Gall's, Dr. Spurzheim, nahm die
Bezeichnung an, und durch seine vielen Schriften, Reisen und Vorlesungen in
Frankreich, England und Amerika ist sie allgemein in Gebrauch gekommen.
Einerseits mag dies zu bedauern sein, andererseits aber scheint mir, wenn man in
die Begründung und das Wesen der Phrenologie näher eingeht, und
bedenkt, dass es andere Zweige der Naturwissenschaften giebt, die nicht ganz
passend benannt sind -, z. B. die Geologie und selbst die Physiologie -
dass es nicht nöthig ist ein Wort zu verwerfen, welches sich bereits ein Bürgerrecht
in vielen Ländern erworben hat.
Im Anfang classificirte und benannte Gall allerdings die
Grundanlagen die er entdeckt zu haben glaubte, auf eine empirische und wenig
umfassende Weise, und hierdurch schien die Beschuldigung seiner Gegner, dass er
einen rohen Materialismus lehre, und die Seele derartig zersplittere, dass jeder
Begriff ihrer Einheit verloren gehe, zum Theil gerechtfertigt zu sein. Da er z. B.
an den Köpfen von vielen Mördern und andern sehr grausamen Menschen
einen Theil des Schläfenbeins besonders hervorstehend fand, und Aehnliches
an den Schädeln von fleischfressenden Thieren bemerkte, so bezeichnete
Gall, in Uebereinstimmung mit seinen Erfahrungen [17/18] - und abgeneigt, wie er
gegen voreilige Versuche Alles theoretisch zu erklären war - den von der
erwähnten Schädelwölbung bedeckten Hirntheil als den Sitz eines
Hanges zu tödten und zu morden (
Instinct carnassier; penchant au meurtre
"). Sofort wurde ein Geschrei gegen ihn erhoben, und er
wurde beschuldigt gelehrt zu haben, dass der Mensch ein geborener Mörder,
folglich unverantwortlich für eine seiner schlechtesten Handlungen sei. Und
dies Missverständniss seiner Lehren dauert noch immer fort. Was aber aus
den Gall'schen Erfahrungen einfach hervorging, war Folgendes: Es giebt, meinte
er, im Gehirne des Menschen einen besondern Theil, der, wenn stark entwickelt,
und wenn seine Thätigkeitsäusserungen (oder Functionen) nicht durch
die von anderen Anlagen, moralischer und intellectueller Natur, modificirt
werden, oft bei so beschaffenen Menschen einen Hang zum Tödten (Zerstören)
verursacht. In seinem Werke über die Functionen des Gehirns hat Gall die
Naturgeschichte der fraglichen Anlage gegeben, und durch Hinweisen auf
historische Daten, zumal die Kriegs- und Criminalgeschichten aller Länder,
hat er gezeigt, dass der Mensch unleugbar eine angeborene Neigung hat, nicht
allein, wie es die Carnivoren hauptsächlich thun, Thiere aus Nahrungsbedürfniss
zu tödten, sondern auch, sich oft zu [18/19] sehr grausamen Handlungen
hinreissen zu lassen. In vielen Fällen bemerkte er ferner, dass der Mensch
ein positives Vergnügen an Schlachten, Metzeleien u. s. w. und an
den Martern seiner Opfer empfindet*); wie es nicht nur bei religiösen und
politischen Fanatikern klar bekundet, sondern auch von vielen einzelnen Mördern
noch am Richtplatz aufrichtig bekannt worden ist.
Spurzheim, Vimont, Broussais, Felix Voisin**) und andere Anhänger
der Gall'schen Lehre haben zu den zahlreichen Facten auf die sich Gall berief,
viele neue hinzugefügt; auch haben sie die verschiedenen Thätigkeitsformen
eines grossen Zerstörungssinns (wie die fragliche Anlage nunmehr genannt
wird) nicht allein analytisch auseinandergesetzt, sondern auch, synthetisch
verfahrend, das Seelenleben als Ganzes in Betracht gezogen, und den Einfluss
eines Zerstörungstriebes, im Verein mit anderen angeborenen Anlagen, auf
die Handlungen der Menschen nachgewiesen.
Die Ansichten der genannten Herren, auf Thatsachen und Induction
basirt, verdienen jedenfalls
*) Die sogenannte Wollust der Grausamkeit", die
einige deutsche Psychologen besprochen haben.
**) De l'homme animal", Paris 1839.
Ein werthvolles Werk, insbesondere weil darin der Zusammenhang
des Menschen mit den Thieren klar erwiesen wird. [19/20]
volle Aufmerksamkeit, indem sie die unbestreitbaren und fürchterlichen
Beweise der grausamen und blutdürstigen Handlungen des Menschen, von denen
die Geschichte strotzt, naturgemässer und viel befriedigender erklären,
als es die Theorien von Metaphysikern und Moralisten thun. Noch will ich
bemerken, dass manche Mörder nach ihrer Einkerkerung, und wenn sie die
Macht ihrer Leidenschaften nicht mehr empfinden, ihre schlechten Thaten nicht
anders haben erklären können, als sie im guten Glauben den Einflüsterungen
des Teufels zuzuschreiben. Und fromme Menschen haben solchen Ideen Glauben
geschenkt.
Um praktische Lehren im Einklang mit physiologischen Grundsätzen
für die Veredlung des Menschengeschlechts zu gewinnen, ist es nöthig,
wie Gall gelegentlich des Instinctes zu tödten sehr richtig bemerkte,
solche Thatsachen zu berücksichtigen.
Auf die Geschichte der Thiere und des Menschen, auf seine
eigenen psychologischen und cranioskopischen Beobachtungen - wie bei dem Zerstörungssinn
- hat sich Gall auch berufen, um andere thierische Instincte in der menschlichen
Seele nachzuweisen. Da aber mein Hauptstreben in dieser Abhandlung dahin geht,
das Princip der Localisation von Seelenanlagen im Allgemeinen
festzu-[20/21]stellen, so begnüge ich mich, hier auf die zahlreichen
Thatsachen in den Werken Gall's hinzuweisen, auf welche er seine Lehre stützt.
Und hier mag die Bemerkung erlaubt sein, dass in Deutschland, wie in England,
die Werke Gall's wenig Leser gefunden haben. Sehr Viele die von ihm mit
Geringschätzung sprechen, haben, indem sie im Tone einer apodiktischen
Gewissheit seine Lehren verwerfen, zugleich ihre Unkenntniss und ihr
Missverstehen derselben klar bekundet. In einer Zeit, wo so viele Naturforscher
Deutschlands den Lehren Lamarck's und Darwin's zugethan sind, sollte man doch in
seinem Vaterlande den Verdiensten Gall's eine gerechte Anerkennung nicht
vorsagen, wäre es auch nur, weil er ein muthiger Vorkämpfer für
das Princip des Zusammenhangs im Seelenleben des Menschen und der Thiere gewesen
ist.
Aus dem was bisher über Grundanlagen gesagt worden ist,
darf man nicht schliessen, dass Gall dieselben jemals vereinzelt in ihrer Thätigkeit
zu sehen glaubte. Er trachtete stets darnach, das Seelenleben im Ganzen und
Grossen zu überblicken und das Zusammenwirken verschiedener Anlagen zu
erkennen, wobei er aber den bestimmenden Einfluss einzelner derselben auf die
menschlichen Handlungen beobachtete und hervorhob. Auch war er [21/22] denkender
Physiolog, und als solcher forschte er nach dem Einfluss aller übrigen körperlichen
Organe auf das Gehirn, und folglich auf das Seelenleben. Dass es aber trotz
seiner Bemühungen doch Lücken und Unvollkommenheiten in seiner Lehre
gab, hat er selbst aufrichtig bekannt.
In der That ist volle Einsicht in das Seelenleben des Menschen
sehr schwer zu erlangen. Nicht allein giebt es gewisse ererbte Seelenanlagen,
welche in den Entwickelungsverhältnissen des Gehirns begründet sind,
sondern es ist auch die ganze physiologische Constitution, die Beschaffenheit
der Eingeweide, ihre Beziehung zu und Wechselwirkung mit dem Gehirn in Betracht
zu ziehen, will man das Seelenleben allseitig zu erforschen streben - ohne hier
von dem Einfluss der Erziehung zu reden. Aber so nothwendig es daher sein mag,
die erwähnten und andere Umstände zu berücksichtigen, muss ich
doch nochmals behaupten, dass in den Handlungen der Menschen irgend welche
vorherrschenden positive Motive, Impulse oder Triebfedern zu erkennen sind, und
Gall wurde bei seiner Aufstellung von Grundfähigkeiten durch die
Beobachtung von hervorstechenden Seelen-Eigenschaften - bei grosser
Mannigfaltigkeit in den physiologischen Constitutionen und äusseren
Lebensverhältnissen der Indi-[22/23]viduen - und durch gleichzeitige
Beobachtung der Coincidenzen in ihren Kopfformen geleitet.
Es ist heutzutage nicht nothwendig, Autoritäten in der
Physiologie zu citiren, um zu beweisen, dass das Gehirn nun allgemein als das
specielle Seelenorgan anerkannt ist. Einige Physiologen ziehen es zwar noch vor,
das Gehirn das materielle Substrat für die Manifestation von Seelenthätigkeiten"
zu nennen. Dies ändert aber nichts an der Hauptsache, nämlich dass die
Erscheinungen des geistigen Lebens allemal sich als organische Thätigkeiten
erweisen*). Der berühmte deutsche Physiolog Johannes Müller hat
gesagt: Was das Princip des Gall'schen Systems betrifft, so ist gegen
dessen Möglichkeit im Allgemeinen
a priori
Nichts einzuwenden". Er verwarf aber die speciellen Lehren
Gall's, und sagte unter Anderem. Es lässt sich keine Provinz des
Gehirns nachweisen, worin das Gedächtniss, die Einbildungskraft u. s. w.
ihren Sitz hätten". Wie ich schon bemerkt habe, muss es eben so sein,
will man das Gedächtniss, die Einbildungskraft u. s. w. als
Einheiten ansehen; und
*) Auch der jetzt in England unter den Schülern von
Helmholtz Mode gewordene Satz: Jedes Phänomen des Geistes hat sein
physisches Correlat", ändert Nichts an den factischen Beobachtungen,
auf die ich mich im Texte beziehe. [23/24]
die anderen psychologischen Einwendungen Müller's gegen die
Gall'schen Lehren beruhen ebenfalls darauf, dass er sich den menschlichen Geist
nur als metaphysische Wesenheit vorstellen konnte. Angesichts der Thatsache,
dass die angeborene Begabung des Menschen so verschieden ist, hat aber Valentin
die theoretische Nothwendigkeit einer Localisation von Seelenfähigkeiten
anerkannt*). Ein anderer berühmter deutscher Physiolog, Rudolph Wagner,
sagt: Aus den Untersuchungen scheint das merkwürdige Resultat
hervorzugehen, dass die mechanischen Apparate (Gehirn) für die in
Erscheinung tretenden Seelenthätigkeiten bei verschiedenen Menschen in
ihren Unterlagen und embryonalen Entwickelungen schon nachweisbare
geschlechtliche und individuelle Eigenschaften zeigen, welche für die
Ausbildung des Geistes in den späteren Lebensjahren von bestimmendem
Einflusse sind, so dass man mit gehöriger Limitation sagen kann: Idioten
und Genies werden auch im anatomischen Sinne geboren, wie die
Entwickelungsgeschichte ihres Gehirns zeigt"**).
Diese Anerkennung des Hauptgrundsatzes der
*) Lehrbuch der Physiologie des Menschen",
Braunschweig 1844, Bd. II, S. 816.
**) Göttinger gelehrte Nachrichten", 1861, Stück
49, Nr. 22, S. 392. [24/25]
Gall'schen Lehre von Seiten eines eminenten Physiologen - dem
man nicht vorwerfen kann Anhänger sogenannter materialistischer Ansichten
zu sein - ist besonders wichtig, indem, was für extreme Fälle gilt,
wohl auch nothwendig für Zwischenstufen gelten muss, und Thatsache ist,
dass ein jeder Mensch seinen angeborenen Charakter, seine Individualität
hat, so wenig auffallend sie auch für oberflächliche Beobachter sein mögen.
Mit dem Ausdruck Individualität" meine ich aber
nicht Homogenität. Die menschliche Seele im Allgemeinen zeigt, in viel
auffallenderem Grade als die der höchsten Thiere, eine sogenannte Vielheit
in der Einheit", eine Einheit von Gegensätzen", wie einige
deutsche Psychologen in Betreff der Seele sich ausdrücken; und auf die
auffallenden Abwechselungen von Empfindungen und Neigungen, auf die gegensätzliche
Natur der Gefühle, welche bei einem und demselben Menschen, nicht allein in
verschiedenen Epochen seines Lebens, sondern auch in verschiedenen Momenten
eines und desselben Tages zu bemerken sind, kann ich mich berufen, um eine
Mehrheit von Seelenanlagen zu behaupten, welche - wenn das Gehirn das anerkannte
Seelenwesen ist - ihre besondere Localisation darin haben müssen. Wäre
es anders, und wären alle Theile des Gehirns bei allen Seelenzuständen
gleichmässig thä-[25/26]tig, so müsste es unerklärlich
bleiben, dass so gegensätzliche Empfindungen, wie z. B. die der Liebe
und des Hasses, bei derselben Person, oft in schneller Aufeinanderfolge, geäussert
werden können. Jede Empfindung äussert sich überdies in dem
Ausdruck des Antlitzes, den Augen, der Stimme, in den Bewegungen des Körpers
als psychische Reflexaction, unabhängig von dem Willen. Psychische
Reflexactionen äussern sich in der That ganz unwillkürlich, und oft
trotz der Missbilligung des Verstandes, nicht allein nachdem die sie
veranlassenden Ursachen vorübergegangen sind, sondern auch oft in den
Momenten ihrer Thätigkeiten, indem wir zugleich wissen und bedauern, dass
wir Anderen unsere Gefühle verrathen.
Um das Princip einer Mehrheit von Seelenfähigkeiten ferner
zu bekräftigen, füge ich hinzu, dass Wilde und viele Bewohner
civilisirter Länder, deren Seelenleben im Ganzen sehr untergeordnet ist,
doch nicht in allen Beziehungen Mangel an Geisteskräften zeigen. Gewisse
Leidenschaften und Begabungen äussern sich oft bei ihnen mit viel grösserer
Energie, als bei Personen die im Allgemeinen auf einer viel höhern Stufe
stehen. Und bei Letzteren werden mitunter eine oder einige Seelenfähigkeiten
sehr mangelhafte fast nur in rudimentärem Zustand der Entwickelung
gefunden. [26/27] Von Personen die doch rühmlich in der Geschichte
dastehen, ist es z. B. bekannt, dass sie keinen Sinn für die Musik, für
die Poesie, für die Arithmetik u. s. w. besassen - um hier nicht
von dem sehr auffallenden Mangel eines moralischen Sinnes (Gewissenhaftigkeit)
zu reden, wie er insbesondere in der Lebensgeschichte des ersten Napoleon klar
bekundet wurde. Es lässt sich in der Regel nachweisen, dass die Mängel
an gewissen intellectuellen Capacitäten oder Charaktereigenschaften, auf
die ich mich hier beziehe, angeboren, und nicht blos die Folge einer vernachlässigten
oder einseitigen Erziehung gewesen sind. In der That sind oft die grössten
Bemühungen von Seiten der Eltern, bei ihren Kindern Talente hervorzurufen
oder moralische Eigenschaften anzuerziehen, umsonst gewesen. Andererseits sehen
wir, dass letztere, wenn sie von Hause aus stark sind, sich selbst unter sehr
ungünstigen Verhältnissen entwickeln.
Auch stimmen die Unterschiede in den Köpfen der beiden
Geschlechter mit den Grundsätzen der Gall'schen Lehre überein. Die Köpfe
von Männern sind in der Regel grösser und ihre Gehirne schwerer als
die der Frauen*); und es sind besondere
*) Ein Wiener Arzt, Dr. Weisbach, der in neuerer Zeit
Untersuchungen über die Schädelcapacitäten von Männern und
Frauen angestellt hat, giebt in Bezug auf deutsche Schädel als Resultat an,
[27/28]
Unterschiede in den Formenverhältnissen der Köpfe
beider Geschlechter bemerkbar, welche im Einklang mit dem allgemein anerkannten
Unterschiede in ihren natürlichen Anlagen stehen. Im Ganzen und Allgemeinen
betrachtet, tritt die Empfindungssphäre des Seelenlebens verhältnissmässig
viel stärker bei Frauen als bei Männern auf. Diese Thatsache stimmt
mit einer relativ grösseren Entwicklung des mittlern Kopfwirbels, so wie
des mittlern Theils des Hinterhauptes bei Frauen überein. Es ist jetzt
jedoch, besonders in England, fast zur Mode geworden, die Unterschiede in den
Charakteren und Fähigkeiten der beiden Geschlechter, in so fern diese
Unterschiede nicht zum Vortheil der Frauen ausgelegt werden, der Tyrannei der Männer
zuzuschreiben, und von einigen Verfechtern der Frauenrechte" wird
prophezeit, dass in der relativen Befähigung und den socialen Stellungen
der Geschlechter bald ein Umschwung stattfinden werde. In gewissen Beziehungen
ist dies wohl möglich. Die dahin zielenden Folgerungen, die man aus
geschichtlichen Daten und gegenwärtigen Erfahrungen gezogen hat, sollen
jedoch hier unerörtert bleiben.
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 27] dass die der Frauen
sich zu denen der Männer, dem Cubikinhalt nach, wie 878 : 1000 verhalten. Archiv
für Anthropologie", Bd. III, S. 59 u. f. [28/29]
Träume lassen sich ebenfalls am besten erklären, nimmt
man eine Mehrheit von angeborenen Anlagen in der menschlichen Seele an, von
denen einige im Schlaf vorherrschend thätig sind, während andere verhältnissmässig
ruhen. In den Träumen werden nicht allein die Lebenserfahrungen und
verschiedene grössere oder kleinere Tageszufälligkeiten der
Individuen, oft in bizarren Formen und Combinationen, reflectirt, - wobei in der
Regel die mehr anregenden als ermüdenden Begebenheiten den Träumer
beeinflussen - sondern man wird auch vor Allem finden, wenn man die Träume
eines Menschen im Ganzen und Grossen betrachtet, dass seine ererbten
Dispositionen, seine vorherrschenden Anlagen, eine bestimmte Rolle spielen, dass
sie seinen Träumen einen oft wiederkehrenden Charakter verleihen.
Monomanien, Hallucinationen und sogenannte fixe Ideen, bei
welchen gewisse Fähigkeiten sich in einem Zustande krankhafter Thätigkeit
zeigen, können ihrerseits zur Unterstützung der Gall'schen Lehre
dienen.
So lange die Intelligenz für eine einheitliche Kraft
gehalten wurde, hat man von Alters her bis in die neuere Zeit Versuche gemacht,
den Schlüssel zur Intelligenz der Thiere, so wie zur geistigen Superiorität
des Menschen, in der Grösse und dem [29/30] Gewicht des Gehirns, in dem
Verhältniss desselben zur Grösse des Körpers im Allgemeinen, oder
aber zu dem Gesammtvolumen der Nerven insbesondere, zu finden. Kein derartiger
Versuch hat zu befriedigenden Resultaten geführt*). Weder absolut, noch im
Verhältniss zu seinem Körper oder zu seinen Nerven, hat der Mensch das
grösste Gehirn. Die Elephanten und manche Wallfischarten haben grössere
Gehirne als die Menschen. Einige Vögel und Affenarten haben grössere
Gehirne im Verhältniss zu ihren Körpern. Die Affen, die Delphine und
viele kleine Vögel haben grössere Gehirne im Verhältniss zu ihren
Nerven, als der Mensch. Nur durch die Embryologie, durch das vergleichende
Studium der Entwickelungsgeschichte des Gehirns, wird die successive
Vervollkommnung und Differenzirung dieses Organs bei den Thieren bis hinauf zum
Menschen erwiesen, und die geistige Superiorität des Letztern anatomisch
erklärlich.
Bei den am tiefsten stehenden Wirbelthieren, den Fischen,
anfangend, und bis zum Menschen aufsteigend, findet man eine stufenweise
Entwicklung des Gehirns, im Einklang mit einer stufen-
*) In meiner Schrift Die Begründung und das Wesen der
Phrenologie" Dresden, 1852, ist der oben berührte Gegenstand ausführlich
besprochen. [30/31]
weisen Vermehrung des Seelenlebens. Die elementaren Theile des
Gehirns - die Fortsetzungen des Rückenmarks - welche den Stamm oder Keim
des Gehirns bilden, so wie verschiedene cerebro-basilare ganglienartige Körper,
und die Gehirnhöhlen (Ventrikeln), sind bei allen Menschen ziemlich gleich,
und ähnliche Theile sind bei fast allen Wirbelthieren, besonders den höher
stehenden, erkennbar. Die elementaren Theile des Gehirns werden allmälig
bedeckt, jenachdem die Thiere in der Scala aufsteigen, in den dem Menschen zunächst
stehenden Thieren am meisten, bis sie zuletzt beim Menschen selbst durch ein
eigenartiges System von Fibern und Zellen, das man den Mantel (
Pallium
) des Gehirns genannt hat, vollkommen bedeckt werden. Es ist
dies eigenartige, erhöhte und schön gewölbte System - auch das
Cerebrum genannt - welches fünf Sechstel der Gesammthirnmasse ausmacht.
Durch eine vom vorderen unteren bis in den hinteren Theil des Gehirns, und
mitten auf der Oberfläche verlaufende Spalte, wird das Gehirn in zwei
Seiten-Hälften getheilt, welche den Namen von Halbkugeln oder Hemisphären
führen. Die zwei Hälften stehen jedoch mit einander in Verbindung,
hauptsächlich durch eine grosse Commissur oder ein System von Querfasern,
welche der Balken (
Corpus callosum
) genannt werden. Die Oberfläche [31/32] des Gehirns wird
ferner mehrfach eingetheilt durch mehr oder weniger tiefe Einschnitte, und die
verschiedenen Theile worden als Lappen und Wülste - wovon bald mehr gesagt
werden wird - bezeichnet. Hier bemerke ich noch, dass die Gehirne der
Catarrhin-Affen der alten Welt (der Chimpanzeen und Orang-Utangs) dem des
Menschen am nächsten stehen. Mikrocephale Idioten haben fötale Hirne,
eine Hemmung der Entwicklung und Armuth in den Windungen oder Wülsten
bekundend. In einigen Beziehungen stehen sie den höchsten Affen nach.
Es würde nicht im Einklang mit dem Zwecke dieses
Schriftchens stehen, in die Anatomie des Gehirns und des Nervensystems sehr ausführlich
einzugehen. Ich beschränke mich auf einige Auszüge aus anatomischen
Werken, und vorzüglich auf solche, die auf Specialitäten der
Nervenfunctionen und auf jene Theile des Gehirns Beziehung haben, welche
speciell den seelischen Functionen vorstehen. Es giebt zwei Formen von
Nervensubstatnz, die eine fibröser, die andere zelliger Beschaffenheit. Die
erstere ist vorzugsweise von weisser, die andere von grauer Farbe. Man spricht
deshalb allgemein von weisser und grauer Nervensubstanz. Fibern gleichen sehr
zarten Fäden von verschiedenen Stärkegraden, aber alle von grosser
Feinheit; sie variiren von 1 / 500 bis [32/33] 1 / 50 Mm.
Dicke, und manche davon verlangen eine 400- bis 500malige Vergrösserung, um
deutlich gesehen zu werden. Jede Nervenfaser besteht wenigstens aus zwei
Elementen, einem sogenannten Axen- oder Primitiv-Cylinder, und einer zarten
Membran oder Hülle, Neurilema genannt. Die zartesten Nervenfasern zeigen
ebenfalls diese Zusammensetzung, doch bei den stärkern soll noch eine
Substanz - Nervenmark - zwischen den primitiven Cylindern und deren Hüllen
gefunden werden. Die Nervenfasern im Allgemeinen sind als Leitorgane anerkannt.
Das Rückenmark und dessen peripherische Ausbreitungen bestehen aus Systemen
von centripetalen oder sensorischen, und von centrifugalen oder motorischen
Fasern, und es giebt auch, wie erwähnt, noch ein besonderes peripherisches,
doch nicht absolut getrenntes System von Zellen und Fasern (Ganglien- oder
sympathisches System), dessen Faserausstrahlungen sich den Rückenmarksnerven
beigesellen. Da das sympathische System hauptsächlich sogenannten
vegetativen Functionen dient, nämlich der Ernährung des Körpers
insbesondere, und nur mittelbar mit dem Seelenleben zu thun hat, ziehe ich es
nicht in nähere Betrachtung.
Motorische Fasern bilden den vordern, sensorische den hintern
Strang des Rückenmarks; sie [33/34] ziehen sich bis zur Oberfläche
desselben in gesonderten Bahnen hin, und die ersteren sind etwas stärker
als die letzteren. Es werden aber auch Seitenstränge unterschieden, welche
sowohl motorische wie sensorische Fasern, doch hauptsächlich erstere
enthalten. Das Innere des Rückenmarks besteht aus grauer Substanz, aus
zahllosen, unentwirrbaren, nach allen Richtungen durch einander geschlungenen
Nervenfasern und zwischen ihnen gelagerten Nervenzellen. Die
Entwickelungsgeschichte des Rückenmarks (
Medulla spinalis
) zeigt, dass die Bildung des grauen Kerns derjenigen der
weissen Rinde vorangeht. Letztere lagert sich nachträglich an seiner
Aussenseite ab, doch nicht gleich von Anfang an als ununterbrochene Schicht,
sondern in zwei getrennten Massen, einer hinteren kleineren, welche dem späteren
hinteren Strange entspricht, und einer vorderen grösseren, welche als die
gemeinschaftliche Anlage des späteren vorderen und seitlichen Stranges zu
betrachten ist. Bei voller Entwickelung erscheint das Rückenmark äusserlich
glatt und regelmässig gerundet. Durch zwei tiefe, seiner vordern und
hintern Mittellinie folgende Längsspalten (
Fissura longitudinalis ant.
und
post.
) zerfällt seine Markmasse in symmetrische Seitenhälften,
deren einander zugewendete Flachseiten etwas vor ihrer Mitte durch einen
schmalen Mark-[34/35]streifen, die sogenannte Commissur, in gegenseitigem
Verbande erhalten werden. Die gewölbten Aussenseiten lassen seitlich in je
doppelter Längsreihe die Wurzeln der peripherischen Nerven hervortreten,
und spalten sich dadurch in je drei Längsstreifen, einen vorderen,
seitlichen und hinteren, die als der Ausdruck ebenso vieler, gleich benannter
Stränge (
Funiculi
) aufgefasst werden, und von denen der seitliche die anderen an
Breite übertrifft*)." Die centrifugalen und centripetalen Fasern
vereinigen sich, nachdem sie das Rückenmark millionenweise verlassen haben,
zu Bündeln, und verlaufen nach allen Theilen des Körpers in
gemeinsamen Bahnen. Erst bei der Annäherung an die Peripherie des Körpers
spalten sich die Primitivfasern in sehr feine Aeste aus. Auf ihren Bahnen zur
Peripherie werden die Fasern jedoch mehrmals als knotige Anschwellungen
(Ganglien) vereinigt, wo sie dann reichlich mit Nervenzellen in Verbindung
treten.
Bündel der Primitiv-Nerven, in ihren gemeinsamen Hüllen,
sind das was man schlechtweg die Nerven nennt. In populären Schriften
werden sie mit Bündeln von den feinsten Glasfäden verglichen. Von den
Fasern der motorischen und sensorischen
*) Aeby, Der Bau des menschlichen Körpers",
Leipzig 1871, S. 816 u. f. [35/36]
Nerven, die gemeinsam in ihren Hüllen verlaufen, ist es
durch Experimente, erwiesen, dass sie verschiedene Leitfunctionen haben, doch
absolut sind Grenzlinien der verschiedenen Fasern anatomisch nicht erweisbar.
Die centripetalen oder sensorischen Nervenfasern leiten die
Eindrücke, welche sie durch Vermittlung der peripherischen Sinnes-(Fühl-)Organe
empfangen, dem Rückenmarke und dem innern ganglienartigen Theile des
Gehirns zu, von wo aus die Eindrücke nach der Oberfläche dieses Organs
verbreitet werden, und in bewusste Empfindungen übergehen; die
centrifugalen oder motorischen Fasern führen den Muskeln von
central-gelegenen Organen Reize (Impulse u. s. w.) zu, die entweder
von einem einfachen automatischen Reflex-Charakter sind, vom Innern des Rückenmarks
ausgehend, oder von einem instinctartigen psychischen Reflex-Charakter und den
bewussten Willen reflectirend, von dem Gehirn, insbesondere von der Oberfläche
desselben ausgehend, deren graue Lager von feinen Zellen und Fibern jetzt
ziemlich allgemein für die wichtigsten Grundlagen des Seelenlebens gehalten
werden. Auch sind es diese oberflächlichen Theile des Gehirns, welche durch
ein complicirtes Netzwerk von feinen Gefässen am reichlichsten mit Blut
versehen werden.
Die speciellen Sinnesnerven, wovon die des [36/37] Gesichts, des
Gehörs, des Geruchs und des Geschmacks dem Kopf allein angehören,
bestehen, wie alle andern Nerven, aus Primitivfasern. Die zwei erstgenannten
Sinnesnerven sind, wie bekannt, mit äussern Organen, besonderen Apparaten
oder Vorrichtungen in Verbindung (das Auge, das Ohr wo sich auch Nervenzellen
befinden), für die Aufnahme bestimmter Eindrücke (Licht- und
Schallwellen) - ihre sogenannten adäquaten Reize - geeignet. Gaumen, Zunge,
Nase bilden die Eindrücke aufnehmenden Vorrichtungen für die andern
Kopfsinnesnerven. Alle Eindrücke werden den innern Gebilden des Gehirns,
und dann den oberflächlichen Theilen zugeleitet. Da jede bewusste
Empfindung und Vorstellung, das Gedächtniss u. s. w. nur im
Gehirn selbst von Statten geht, so werde ich nicht weiter von den speciellen
Sinnesnerven und ihren Leitfunctionen sprechen, wie sie sowohl angeboren, als
durch Uebung gestärkt, zur Erscheinung kommen.
Nervenzellen sind von verschiedenen Formen und Grössen. Es
giebt kugelige, ovale, birn- und nierenförmige Ganglienzellen. Die
kugeligen ohne Fortsetzungen werden apolare, die mit Ausläufern werden
unipolare, dipolare und multipolare Ganglienzellen genannt*). Die kugelige Form
wird für
*) Frey, Histologie und Histochemie des Menschen".
[37/38]
die primäre oder Grund-Form der Zellen gehalten. Zusammenhäufungen
oder Knoten von Nervenzellen, die reichlich mit Primitivfasern und anderen von
noch feinerer Structur untermischt sind, - letztere als Ausläufer der
Zellen betrachtet - bilden, wie schon gesagt, die Ganglien, und es werden zwei
Gruppen von Ganglien unterschieden, jenachdem dieselben räumlich an einen
central entstehenden Nervenstrang sich anlehnen, oder aber in selbstständiger
Gestaltung auftreten (Sympathisches System). Beide Gruppen darf man vielleicht
als kleine Stationen ansehen, wo verschiedene Eindrücke von Innen und
Aussen aufgenommen und weiter verbreitet, und von wo aus Fasern gebildet und
renovirt werden. Auch dienen sie wahrscheinlich als Sammel- oder Aufbewahrungsplätze
für das sogenannte Nervenprincip" - sei dies elektrischer oder
anderer imponderabler Natur. Obwohl die Ganglien unzweifelhaft ihre besondern
Lebensfunctionen besitzen, wodurch die Centralisation im Nervensystem keine
absolute ist, so wird uns doch gelehrt, dass alle ausser dem Gehirn
gelegenen Anhäufungen oder Ganglien nicht allein einen sehr beschränkten
Wirkungskreis besitzen, sondern auch vielfältig durch Bande der Abhängigkeit
mit ihm verknüpft sind" *).
*) Aeby, Der Bau des menschlichen Körpers",
Leipzig 1871, S. 813. [38/39]
Alle weissen Fasern der Rückenmarksstränge ziehen sich
zum Gehirn hin, wo sie, wie erwähnt, dessen Stamm oder Keim bilden. In dem
das Gehirn und Rückenmark unmittelbar vereinigenden Theile, dem verlängerten
Marke
(Medulla oblongata)
werden die Fasernzüge sehr unter einander vermischt und neu
vertheilt, ehe sie sich nach verschiedenen Richtungen hin ausbreiten. Fasern des
vordern Stranges ziehen sich bis in die Vierhügel
(Corpora quadrigemina),
von wo aus sie insbesondere nach dem Vorderlappen des Gehirns
sich ausbreiten; auch sind sie im Kleinhirn repräsentirt. Nur die Fasern
des hintern Stranges verlaufen hauptsächlich in den ihnen zunächst
liegenden Theil des Gehirns, das Hinterhirn; aber im Gross- so wie im Kleinhirn
sind alle Fasern der Rückenmarksstränge vertreten. Es ist noch nöthig
zu bemerken, dass die graue, Zellen führende Substanz, die sich im Rückenmark
im innern Theil desselben befindet, im Gehirn hauptsächlich auf der Oberfläche
liegt.
Die Zelle im Allgemeinen hat man geraume Zeit für das
organische Element gehalten. Im physiologischen Sinne wird sie aber nicht mehr
als solches angesehen, sondern man hält die Zellen jetzt für eigene
Organismen. Aber auch diese zähe, teigartige Masse, mit zahlreichen sehr
feinen Mole-[39/40]külen eines Proteinkörpers versehen, wird von
vielen Autoritäten in der Anatomie und Histologie des Menschen nicht als
der wahre Urstoff des Körpers angesehen. Was immer auch weitere Forschungen
hinsichtlich des letzten oder des Grund-Elementes der Organismen ans Licht fördern
werden, so sind doch jedenfalls die Nervenzellen für alle höheren
Lebens- und seelischen Thätigkeitsäusserungen von der grössten
Bedeutung. Die Embryologie lehrt, dass nicht allein im Rückenmark, sondern überhaupt
im Nervensystem, die Bildung der Zellen der der Fasern vorausgeht. Letztere
scheinen in der That ihren Ursprung nur in Zellen zu haben. Es wird uns jetzt
auch gelehrt, dass Bewegung auf innern Antrieb, oder die Fähigkeit,
von sich selbst aus die Gestalt zu verändern, eine Eigenschaft aller Zellen
ist"*). Sie vermehren sich auch durch Theilung. Ferner wird gesagt: Unter
Umständen zeigen nach künstlicher Theilung einer Zelle die einzelnen
Theile derselben die gleichen Lebenserscheinungen, nämlich Athmung,
Bewegung, Ernährung und Vermehrung"**).
*) Aeby, Der Bau des menschlichen Körpers",
Leipzig 1871, S. 26.
**) Vortrag des Professor Preyer aus Jena über die
Erforschung des Lebens" bei dem 50jährigen Jubiläum der
Versammlung deutscher Aerzte und Naturforscher 1872. [40/41]
Ich habe jetzt genug gesagt, um die Wichtigkeit der Nervenzellen
darzuthun, und wir werden nun einen Blick auf, die Entwickelungsgeschichte des
Gehirns werfen, um zu sehen, wie sie sich zu diesem Organe verhalten.
Die erste Anlage desselben ist eine sehr einfache. Sie ist
weiter nichts als eine bläschenförmige Anschwellung am oberen,
geschlossenen Ende des cylindrischen, Rückenmarksrohres. Anfänglich
einfach, zerfällt sie schon frühzeitig durch eine doppelte quere
Einschnürung in drei besondere, jedoch in offener Verbindung stehende
Abtheilungen, eine vordere eine mittlere und eine hintere. Die ganze weitere
Entwickelung ist damit unabänderlich vorgezeichnet. Die drei Bläschen
bilden den festen Rahmen, innerhalb dessen alle Umgestaltungen, und zwar in
einem jeden in eigen, artiger Weise sich vollziehen. Sie werden dadurch zur
Grundlage für eben soviele typische Abschnitte des Gehirnes, für das
Vorderhirn
(Prosencephalon),
das Mittelhirn
(Mesencephalon)
und das Hinterhirn
(Epencephalon).
Von den drei genannten Bläschen bleibt nur daß
mittlere einfach. Das vordere und hintere dagegen erfahren eine bedeutsam
Erweiterung, indem ihre vorderen Enden sich nach auf- und rückwärts
blindsackartig aufstülpen, und dadurch dem [41/42] Hauptbläschen ein
Nebenbläschen beigesellen, das, da es mit der Zeit zu einem besondern
Hirntheile heranwächst, als eine weitere typische Gliederung der ersten
Anlage zu betrachten ist. Beide Nebenbläschen sind Anfangs klein und
unansehnlich, bald aber überwuchern sie die zugehörigen Hauptbläschen
in so bedeutendem Maasse, dass nur ein kleiner Theil derselben, nämlich der
Boden, von ihnen unbedeckt bleibt. Sie erzeugen dadurch den sogenannten Mantel (
Pallium
) des Gehirns, - im Gegensatze zu dessen Stamm - der ausser den
Hauptbläschen des Vorder- und Hinterhirns auch das gesammte Mittelhirn in
seinen Bereich zieht.
Die weitere Entwickelung zeigt für die Stammbläschen
die Eigenthümlichkeit, dass beim vorderen und hinteren die Decke in ihrer
Mitte der Länge nach entzwei reisst, und eine umfängliche Eröffnung
der bisher geschlossenen Binnenhöhlen veranlasst. In beschränkter
Ausdehnung wiederholt sich dadurch ein Verhältniss, wie es früher für
die ganze Länge nicht blos der Gehirn-, sondern auch der Rückenmarksanlage
bestanden hatte"*).
Ausser der schon erwähnten Eintheilung des Gehirns in
Hemisphären, werden im Verlauf des
*) Aeby, Der Bau des menschlichen Körpers",
Leipzig 1871, S. 821. [42/43]
fötalen Lebens desselben viele kleine Einschnitte oder
Furchen auf der Oberfläche gebildet. Manche der zuerst gebildeten sind nur
temporär und verschwinden wieder. Aber im neunten Monate der fötalen
Entwickelung soll das menschliche Hirn ein schematisches Bild von Spalten oder
Furchen (
Sulci
), von Wülsten oder Windungen (
Gyri
) darstellen, das für die spätere Unterscheidung
derjenigen Windungen die primär und typisch sind, von den secundären
oder Neben-Windungen, besonders lehrreich ist. Die primären Furchen gehen
bedeutend tiefer als die secundären. Die Windungen werden als Falten auf
der Oberfläche des Gehirns angesehen, welche derselben beim erwachsenen
Menschen eine zwölffache Vermehrung geben, und dadurch den Nervenzellen grössere
Oberflächen zur Verfügung stellen. Es ist einleuchtend, dass die
Ausbreitungen der Fasern, die von dem verlängerten Mark ausgehen, und die
Richtungen die sie nehmen, mit den specifischen Hirnzellen und Fibern in
Zusammenhang stehen. Je grösser die Fasercomplexe, und je weiter sie sich
in irgend einer Richtung erstrecken, um so grösser in jener Richtung werden
die Oberflächen und folglich die Lagen, welche den Zellen zur Verfügung
stehen. Hierin ist die Bedeutung - bei einer guten physiologischen Constitution
- von grossen Köpfen im Allgemeinen, oder von eini-[43/44]gen grossen
Regionen des Kopfes insbesondere, zu suchen.
Die Windungen im Allgemeinen entstehen vermuthlich, weil das
Wachsthum des Mantels schneller vor sich geht, als die Knochen sich auszudehnen
vermögen. Eine Hemmung der räumlichen Ausdehnung des Gehirns wird natürlich,
wo Bildungsenergie vorhanden ist, Falten verursachen. Diese Ansicht bezieht sich
insbesondere auf jene secundären Windungen, welche sich bilden nachdem die
Schädelknochen einander berührt, Consistenz erlangt, und einige davon
sich fest zusammengefügt haben. Im vorderen Lappen des Gehirns sind die
Windungen verhältnissmässig kleiner, zahlreicher und enger beisammen
als in andern gleichgrossen Theilen der Gehirnoberfläche. Das Wachsthum der
verschiedenen Theile des Mantels wird von vielen Anatomen für relativ
angesehen; d. h. sie entwickeln sich weder räumlich noch zeitlich
gleichmässig.
Es ist vorgeschlagen, jene getrennten Abschnitte der
Gehirnoberflächen die zwischen den primären Furchen liegen, Wülste"
zu nennen, und die Bezeichnung Windungen für die secundären geschlängelten
Oberflächen-Abschnitte, die durch Theilungen der ersteren als Falten
entstehen, zu gebrauchen*).
*) Dr. Ad. Pansch, Ueber die typische Anordnung der
Fur-[44/45]
Mit Ausnahme einer Grenzlinie zwischen den Stirn- und Schläfen-Lappen,
- wovon später gesprochen werden wird - stimmen die aus Wülsten und
Windungen bestehenden Complexe des Gehirns nicht genau mit den üblichen
Eintheilungen des Gehirns in Lappen überein. Es ist eine unzweifelhafte
Thatsache, - von der ich vielfach Gelegenheit gehabt habe mich zu überzeugen
- dass die Gehirne von Menschen die wegen ihrer geistigen Befähigung
bekannt waren, viel zahlreichere und asymmetrische Windungen mit tieferen
Zwischenfurchen haben, als die Gehirne von gewöhnlichen Menschen. Es giebt
in der That in europäischen Ländern einen bedeutenden Unterschied in
dieser Hinsicht bei den hand- und bei den kopfarbeitenden Classen, nicht allein
was die Zahl und Asymmetrie der Windungen*) bei letzteren, sondern auch was die
verhältnissmässig grössere Entwickelung des Stirnlappens bei
ihnen betrifft.
Die Ansichten jener politischen Schwärmer,
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 44]chen und Windungen auf
den Grosshirnhemisphären des Menschen und der Affen". Archiv für
Anthropologie, dritter Band, S. 252. Eine Arbeit, welche, wie auch die von
Professor A. Ecker in derselben Zeitschrift, von grossem Werthe für das
vergleichende Studium des behandelten Gegenstandes ist.
*) Vergleiche Tafel III, Figuren 1 u. 2. Auch sollen die Gehirne
kleiner Kinder und mancher Negerracen grosse Symmetrie in beiden Hemisphären
zeigen. Todd's Encyclopaedia of Anatomy and Physiology", Vol. III, p.
697. [45/46]
welche sich einbilden, dass ein Bruch mit der Vergangenheit und
die Einführung ganz neuer Institutionen nicht allein allgemeine Glückseligkeit,
sondern auch allgemeine Gleichheit der Menschen (in Bezug auf geistige Fähigkeiten)
zur Folge haben würde, finden keine Unterstützung bei der Physiologie.
Gleichheit im moralischen Sinne kann und wird es niemals geben. Indessen können
die Nachkommen der jetzt lebenden Menschen gewöhnlichen Schlages, - ja
sogar der geistig-trägen unter ihnen - wenn ihre geistigen Fähigkeiten
durch eine Reihe von Generationen gehörig ausgebildet worden, mit der Zeit
so gut-entwickelte Köpfe bekommen wie die Kopfarbeiter unserer Generation;
wohingegen diese letzteren, vorzüglich diejenigen unter ihnen die ihr
Gehirn überarbeiteten, möglicherweise untergeordnetere Menschen als
die ersteren zu Nachkommen haben werden.
Ich habe bisher nur vom Grosshirn gesprochen, aber das Kleinhirn
(
Cerebellum
) muss hier ebenfalls einer kurzen Betrachtung unterworfen
werden. Wie das Grosshirn, besteht es aus zwei Hemisphären mit Furchen,
Lappen und Windungen, deren blätterige Formen jedoch sehr verschieden, und
auf beiden Seiten symmetrischer sind, als beim Grosshirn. Die Oberfläche
des Kleinhirns ist grau, und die Farbe wird nach dem Innern zu etwas dunkler. Es
liegt [46/47] auch viel weisse Mark-Substanz darin, die in jeder Hemisphäre
beim senkrechten Durchschnitt sehr regelmässig geästelte Figuren
zeigt, weshalb dieser Erscheinung der Name Lebensbaum
(Arbor vitae)
gegeben wurde. Das Kleinhirn enthält Fasern von allen Rückenmarkssträngen,
und besitzt auch sein eigenes System von Zellen von verschiedenen Formen und Grössen,
und von zarten Fibern. Die zwei Gehirne stehen mit einander in enger Verbindung
durch ein System von Querfasern, die sogenannte Brücke
(Pons varolii),
die um den vorderen und oberen Theil des verlängerten Marks
hinläuft*).
In Beziehung auf das gesammte Ast- und Blätterwerk des
Kleinhirns sagt Professor Aeby, dass zur Zeit eine Verwerthung desselben
im morphologischen oder physiologischen Sinne noch ganz unmöglich sei**)".
Viele Autoritäten in der Physiologie behaupten dass dies Organ nichts mit
der Intelligenz zu thun habe, sondern dass es hauptsächlich als Coordinator
von körperlichen Bewegungen zu betrachten sei, wie auch aus Vivisectionen
hervorgehe***). Aus der Structur dieses Organs
*) Tafel I D.
**) A. a. O., S. 840.
***) Aus den Experimenten des Professors D. Ferrier - die ich später
ausführlich besprechen werde - scheint sich bisher nur er-[47/48]
darf man auf eine Mehrheit von Functionen schliessen, wovon eine
Hauptfunction, wie ich fest überzeugt bin, zu der geschlechtlichen Liebe in
enger Beziehung steht. Da das Kleinhirn in der niedrigsten Grube des
Hinterkopfes seine Lage hat, und dessen Grösse im Allgemeinen bei lebenden
Menschen sehr leicht zu erkennen ist, so habe ich mich durch zahlreiche
Beobachtungen (positiver so wie negativer Natur) fest überzeugt, dass, wie
Gall lehrte, der Geschlechtstrieb
(Instinct de la propagation, instinct vénérien")
zu den Functionen dieses Gehirntheils gehört. Auch scheint
es mir, dass, obwohl die eigentlichen Impulse zu den Bewegungen des Körpers
vom Grosshirn ausgehen, dennoch die Bewegungen selbst - wie, z. B. beim
Spazierengehen und bei allen rhythmischen Bewegungen - durch das Kleinhirn
geregelt werden. Es ist bekannt, dass körperliche Uebungen in der Jugend zu
den besten Mitteln gehören, die zu frühen Thätigkeitsäusserungen
des Geschlechtstriebes zu hemmen, so wie auch, dass bei Erwachsenen die zu
starke Befriedigung dieses Triebes Muskelschwäche und Unfähigkeit die
Bewegungen der Glieder gehörig zu reguliren zur Folge hat, wie man es oft
in dem schlotternden
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 47]geben zu haben, dass das
Kleinhirn Coordinator von Muskelthätigkeiten und nothwendig für die
Erhaltung den körperlichen Gleichgewichtes ist.
Gang von Wüstlingen beobachtet. Das Rückenmark ist
aber ebenfalls bei geschlechtlichen Verhältnissen betheiligt, und leidet
auch durch deren Excesse. Die Liebe bei den beiden Geschlechtern hat zwar in den
höheren Ausdrucksformen derselben individuelle Färbung, jenachdem die
Dispositionen und Charaktere der Menschen im Ganzen beschaffen sind, dennoch ist
ein besonderer Geschlechtstrieb als specielle Gehirnfunction anzuerkennen. Als
eine physische Reflex-Action des Geschlechtssinnes kann ich auf den eigenthümlichen
Ausdruck in den Augen von Verliebten aufmerksam machen. Die Seh- und anderen
Augennerven wurzeln im innern Gehirnkörper (Kniehöcker, Sehhügel,
Vierhügel), die in besonderer Verbindung mit dem Kleinhirn stehen.
Hierdurch wahrscheinlich wird der verliebte Blick, auf den ich mich bezogen
habe, seine anatomische Erklärung finden.
Nachdem ich Alles gelesen habe, was gegen Gall's Lehre in
Betreff der erwähnten Hauptfunction des Kleinhirns geschrieben worden ist,
muss ich bemerken, dass ich Nichts gefunden habe, was seine Erfahrungen
widerlegte*). Bei Frauen im Allgemeinen ist
*) In einem Werke, das dazu bestimmt ist, von beiden
Geschlechtern gelesen zu werden, würde es nicht gut sein, auf [49/50]
das Cerebellum verhältnissmässig kleiner als bei Männern.
Ein Theil des Grosshirns hingegen (mittlerer Theil der Hinterhauptwülste),
der sich äusserlich durch eine etwas spitzig gerundete Hervorneigung des
Hinterhauptes über der Mitte des Kleinhirns zu erkennen giebt, ist bei
Frauen relativ grösser. Nach der Lehre Gall's ist hierdurch bei Frauen
weniger Sinnlichkeit und mehr Kinderliebe als bei Männern, organisch
bedingt. Seine Erfahrungen in dieser Beziehung habe ich durch hundertfache eigne
Beobachtungen bestätigt gefunden.
Es ist nun an der Zeit, vom Schädel und der allgemeinen
Uebereinstimmung der Formenverhältnisse desselben mit denen des Gehirns zu
reden; denn bestünde nicht eine solche Uebereinstimmung,
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 49]den angeführten
Gegenstand tiefer einzugehen, so wie von meinen speciellen Beobachtungen und
anatomischen Erfahrungen zu reden. Ich verweise auf ein Werk von Dr. A. Combe
und G. Combe: On the Functions of the Cerebellum, by Gall, Vimont and
Broussais" (London, Longmans & Co., 1838), so wie auf ein deutschem
Werk: Ueber die Functionen des kleinen Gehirns" von Dr. Liedbeck
(Carlsruhe 1846). In Folge seiner eignen Forschungen, so wie des Studiums der
Werke Gall's und seiner Gegner (deren von Flourens insbesondere), und nach Berücksichtigung
aller bekannten Experimente mit dem Kleinhirn (Vivisectionen u. s. w.)
und der pathologischen Erfahrungen vieler Physiologen hat Dr. Liedbeck gefunden,
dass sowohl der Geschlechtstrieb als die Coordination von Körperbewegungen
zu den Functionen des Kleinhirns gehören. Er hat ferner gefunden, dass die äusseren
grauen Theile des Kleingehirns den ersteren, die tiefer liegenden den letzteren
Functionen vorstehen. [50/51]
so würde Gall's Methode die seelischen Functionen des
Gehirns zu erforschen, allen Werth verlieren. Diese allgemeine Uebereinstimmung
wird von allen Anatomen anerkannt. Professor Aeby sagt: Das Gehirn erfüllt
den Schädelraum nahezu vollständig, und kann deshalb der äussern
Form nach im Ganzen und Grossen als dessen Ausguss angesehen werden"*). Die
innere Fläche des Schädels zeigt zahlreiche Eindrücke der
Windungen und. Blutgefässe des Gehirns, wodurch der Einfluss derselben auf
die Knochen - deren Festigkeit in der That nur eine relative ist - bekundet
wird.
Jede Entwickelung geht von Innen nach Aussen. Bei der Geburt
sind die Knochen weich, und viele sind nur durch elastische Membranen in
Verbindung. Nach und nach vereinigen sich einige der Knochen vollständig;
andere bleiben durch Näthe
(Suturen)
in Verbindung, wodurch der Hirnschädel sich leichter
ausdehnen kann. Im hohen Alter schrumpft das Gehirn zusammen, und der Schädel
wird allmälig kleiner und relativ weniger hoch. Wasserkopfkrankheiten
(Hydrocephalon)
, abnorme Knochenbildungen und Knochenkrankheiten ausgenommen,
zeigt der Schädel im Ganzen und Allge-
*) A. a. O., S. 820. [51/52]
meinen in jedem grossen Abschnitte des Lebens gewisse normale
Formen- und Consistenz-Verhältnisse. Daneben sind zwar stets auch
individuelle Unterschiede zu bemerken, und bei gehöriger Vorsicht lässt
sich nahezu in allen Perioden des Lebens die Entwicklungsform des Gehirns aus
der äussern Form des Kopfes erkennen.
Einige Anatomen, z. B. Professor Aeby, lehren, dass der
ausgebildete Schädel, mit Ausschluss der Gesichtsknochen, aus drei
Wirbeln*) und sieben verschiedenen Knochen bestehe - die sogenannten Worm'schen
oder Schaltknochen
(Ossa intercalaria)
nicht mitgerechnet.
Die Schädelknochen an und für sich müssen aber
auch vom Standpunkt der Mechanik und Architektur aus betrachtet werden. Es giebt
besondere Theile der Knochen, die stets stärker als andere sind, z. B.
die verschiedenen Höcker oder Muskelansätze, und die Verknöcherungspunkte
(von wo der Process des Knochenwachsthums ausgeht),
*) Diese Wirbeltheorie, welche aus der wirklichen oder
vermeintlichen Aehnlichkeit der Schädelbildung mit der der Wirbelsäule
des Rückgrats entstanden, ist zuerst von Oken ausgegangen und von Goethe
angenommen worden. Auch hat sie Carus adoptirt, und darauf seine sogenannte Wissenschaftliche
Cranioskopie" gegründet. Er meinte aber auch, dass der sogenannte Schläfenwirbel
in enger Beziehung zu dem Vierhügel stehe - welchem Körper er grossen
Einfluss auf die Gemüthssphäre der Seele zuschrieb. [52/53]
unter welchen namentlich die auf den Stirn - und Scheitelbeinen
besonders wichtig sind. Auch liegen nicht überall die beiden
Knochenplatten, aus denen das Schädeldach besteht, einander ganz parallel.
Es giebt dazwischen kleine Höhlen, von denen jene des Stirnbeins
(Sinus frontalis)
die bedeutendsten sind. Hauptsächlich durch die grosse Thätigkeit
der Kaumuskeln sind die Schläfenbeine und ein Theil des Keilbeins besonders
dünn; auch zeigen diese Knochen keine doppelte Plattenbildung. Ohne hier in
alle Einzelheiten einzugehen, habe ich wohl genug gesagt, um zu zeigen, dass ein
specielles Studium der Schädelknochen zu allen Perioden des Menschenlebens
nothwendig ist, ehe man aus der äussern Form des Kopfes auf die des Gehirns
mit gehöriger Sicherheit schliessen kann. Als besonders wichtig muss ich
hervorheben, dass die Grundtheile oder der Boden des Schädels eine genaue
Berücksichtigung verlangen. Die relative Grösse der drei Gruben
(Fossae),
auf denen eben so viele grosse Abtheilungen, sogenannte Lappen,
des Gehirns liegen, ist für das Seelenleben besonders wichtig. Von den
vordern Gruben, auf welchen der Stirnlappen ruht, werde ich sogleich sprechen,
und bemerke hier nur noch, dass das Verhältniss derselben zur mittleren
Grube, worin der Schläfenlappen liegt - die relative horizontale Höhe
dieser Gruben - [53/54] durchaus in Betracht gezogen werden muss, ehe man auf
die verhältnissmässige Entwickelung der sogenannten thierischen und
intellectuellen Fähigkeiten eines Menschen schliessen kann.
Die oben erwähnten Umstände, wodurch es einerseits
schwierig, und in einzelnen Fällen fast unmöglich wird, die
Entwickelungsformen des Gehirns ganz genau aus der äussern Form des Kopfes
zu erkennen, so wie andererseits der früher berührte Umstand, dass die
Gehirne selbst in Betreff der Zahl ihrer Windungen und Zellenlagen so sehr von
einander abweichen, scheinen oberflächlich betrachtet, ein zweifelhaftes
Licht auf den Werth der Gall'schen Beobachtungen zu werfen. Was die erstgenannte
Schwierigkeit betrifft, so habe ich jedoch genug angedeutet, um zu zeigen, dass
sie für praktische Zwecke der Beobachtung von wenig Belang ist, und
hinsichtlich des zweiten Umstandes ist noch zu bemerken, dass bei gesunden
Individuen in der Regel alle Theile des Gehirns von derselben Beschaffenheit der
allgemeinen physiologischen Constitution sind. Was die Kraft oder Energie des
Seelenlebens im Ganzen und Grossen betrifft, so haben weder Gall noch irgend
einer seiner aufgeklärten Nachfolger je behauptet, dass sie aus Formen-
oder Grössen-Verhältnissen allein zu erkennen sei. Auf die Frage
einzugehen, in wie weit [54/55] Form und Mischung in der Physiologie, und in der
Natur überhaupt unzertrennlich sind, scheint mir hier nicht der geeignete
Ort, aber was die Beobachtung von Kopfformen, als Mittel zur Erkenntniss der
vorherrschenden angeborenen Richtungen des Seelenlebens betrifft, so wird das
Gesetz der Qualität mit dem der Quantität stets so viel als möglich
berücksichtigt. In Betreff des Gehirns, so wie jedes andern körperlichen
Organs, wird Grösse nur
ceteris paribus
als Maassstab der Kraft angesehen. Um das Princip einer
Localisation von Seelenanlagen im Gehirn zu begründen, kann man aber, wie
ich bald nachweisen werde, das Gesetz der Qualität bei Seite lassen. Im
Allgemeinen darf man annehmen, dass, wo die physiologische Constitution schwächlich
ist, wo Energie im Nervenleben (Mangel an Nervenprincip oder was immer) fehlt,
oder wo krankhafte Zustände der Eingeweide und des Blutes die Actionen des
Gehirns herabstimmen, alle Theile dieses Organs hierdurch ziemlich gleichmässig
afficirt sein werden, und in solchen Fällen wird der Schädel weder im
Ganzen, noch in besondern Theilen, sich auszudehnen vermögen. In
entgegengesetzten Fällen - wo Gesundheit und Nervenenergie vorhanden sind,
werden jene Partien der Gehirn-Hemisphären, die von Haus aus (als ererbt
und angeboren) die stärkern sind, die grösseren [55/56] Anlagen zur Thätigkeit
und - in Folge, des Gesetzes des Wachsthums durch Uebung - zur grösseren
Entwickelung zeigen. Ich übersehe hier nicht die Macht der Verhältnisse,
einer speciellen Erziehung u. s. w., aber ich wiederhole nochmals,
dass ich das Loth von der Mutter" als das wichtigste Moment für
den individuellen Charakter halte - und unter allen Umständen wird die
relative Entwickelung verschiedener Kopftheile den Schlüssel zur Schätzung
der relativen Entwicklung von besondern Kategorien des Seelenlebens liefern. Ich
muss dieses relative, und nicht absolute Verhältniss hinsichtlich der
Localisation von Seelenfähigkeiten besonders betonen, auch ist das
Umgekehrte des soeben Gesagten ebenfalls begründet: Sehr ungünstige
Umstände, Mangel an Reizen, an Uebung des Geistesorgans, werden dessen Grösse
im Allgemeinen, oder aber in besonderen Richtungen vermindern. Dies zeigt sich
im Grossen bei unterjochten Nationen, oder bei einzelnen Menschen die in
Sklaverei gehalten werden -
Diminuti capitis"
sagte das römische Gesetz in Beziehung auf die römischen
Sklaven.
Auf die angedeutete Weise, und durch günstige
geographische, klimatische und andere äussere Lebensverhältnisse,
durch Zuchtwahl u. s. w. sind im Verlaufe grosser Zeiträume
einige Zweige oder [56/57] Racen des Menschengeschlechts dahin gekommen, grössere
und besser gebildete Gehirne und Schädel zu haben als andere.
In Beziehung auf die Grösse und das Gewicht des Gehirns,
als Ganzes betrachtet, ist oft bemerkt worden, dass begabte Menschen - und
namentlich solche, die nicht allein hohe Intelligenz, sondern auch starke
Charakter-Eigenschaften besassen, wodurch sie sich einen grossen Einfluss auf
ihre Zeitgenossen erwarben - grosse Köpfe gehabt haben. Bei solchen
Individuen sind aber, soviel man aus Büsten und Porträts urtheilen
kann, die Köpfe nicht nur im Allgemeinen gross, sondern alle Theile
derselben sind in der Regel proportionell entwickelt gewesen. Wären nur die
Grösse und das Gewicht des Gehirns, als Ganzes betrachtet und ohne Rücksicht
auf die Formenverhältnisse desselben, die entscheidenden Momente für
geistige Begabung im Allgemeinen, so müsste es unerklärlich sein, dass
Menschen, die grosse Armuth des Verstandes, so wie aller höhern
Empfindungen zeigen, und die nur sehr stark in Betreff ihrer rohen,
verbrecherischen Neigungen sind, dennoch grosse Köpfe besitzen. Ich beziehe
mich hier nicht auf verwahrloste Menschen, die unter sehr ungünstigen Verhältnissen
aufgewachsen sind, sondern auf solche die von Haus aus einen starken Hang zum
Laster und Verbrechen äussern, und die [57/58] den Strafhausvorstehern und
Allen mit der Criminal-Statistik Vertrauten wohl bekannt sind. Nach den Grundsätzen
der Gall'schen Lehre ist die Erklärung des eben Gesagten leicht. Obwohl bei
solchen rohen, lasterhaften Menschen die Köpfe im Ganzen oft von normaler
und sogar übernormaler Grösse gefunden wurden, so besteht die Grösse
in einer zu starken Entwickelung der Schläfen- und Hinterhaupt-Abtheilungen
des Gehirns, während die vorderen und oberen Theile dieses Organs, relativ
und oft absolut, sehr klein sind.
Dass aber eine normale Grösse des Kopfes eine nothwendige
Bedingung für geistige Begabung in einigen oder mehreren Richtungen ist,
sieht man schlagend erwiesen, wenn man die Köpfe von mikrocephalen Idioten
betrachtet. In allen Fällen wo der Umkreis des erwachsenen menschlichen
Kopfes weniger als dreizehn Zoll zeigt, ist stets Blödsinn damit
verbunden*).
*) Von den Gehirnen eminenter Menschen, die nach ihrem Tode
gewogen worden sind, erreichte das von Cuvier 4 Pfund 11 Unzen 26 Gramme
medicinisches Gewicht, und das des Wundarztes Dupuytren 4 Pfund 10 Unzen, während
das eines fünfzigjährigen Idioten 1 Pfund 8 Unzen 4 Drachmen, und das
eines vierzigjährigen desgl. 1 Pfund 11 Unzen 4 Drachmen im Gewicht hatte.
R. R. Noel, Grundzüge der Phrenologie", S. 51. Professor Luschka
sagt, dass im Allgemeinen die Gehirne von erwachsenen mikrocephalen Idioten nur
ein Drittheil des Gewichts von Gehir-[58/59]
In der Ueberzeugung, dass im Allgemeinen die Form des Schädels
mit der des Gehirns übereinstimmt, und dass letzteres das geistige Organ
sei, haben sich in neuerer Zeit nicht allein Physiologen von Fach, sondern auch
Mitglieder von anthropologischen und ethnologischen Gesellschaften in vielen Ländern
ganz besonders damit beschäftigt, Schädel zu messen, und den
Cubikinhalt derselben zu schätzen, indem man Schrot oder andere Substanzen,
womit man sie füllt, gewogen hat. Auch widmet man der relativen
Entwickelung der verschiedenen Schädelknochen besondere Aufmerksamkeit.
Solche Verfahrungsweisen würden sehr wenig Sinn haben, wenn sie keine Rücksicht
auf Eigenthümlichkeiten des Seelenlebens nähmen, und in der That sehen
wir hinsichtlich verschiedener Menschenracen und der beiden Geschlechter das
Bestreben gewisse charakteristische Seeleneigenthümlichkeiten zu erkennen,
und dieselben im Zusammenhang mit dem Bau der Schädel zu erklären. Die
übliche Classification von Schädeln - als dolichocephale und
brachicephale (lange und kurze) - wirft jedoch nur wenig Licht auf die
charakteristischen Eigenschaften verschiedener Racen, und noch weniger auf die
der Indi-
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 58]nen gewöhnlicher
erwachsener Menschen haben. Archiv für Anthropologie, Band V, S. 497.
[59/60]
viduen. In Beziehung auf Racenunterschiede von Schädeln
sagt Professor Aeby, dass solche, obwohl mit zahlreichen Uebergängen
zwischen den extremen Formen, vorhanden sind. Sie betreffen vorzugsweise die
Breitenentwickelung der Hirnkapsel, während deren Höhen- und Längenverhältnisse
mehr nur individuelle Schwankungen darbieten". Er schlägt daher vor,
die Menschenracen als schmalköpfig
(stenocephal)
und mehr oder weniger breitköpfig
(eurycephal)
zu bezeichnen*). Diese Bemerkung eines berühmten Anatomen
stimmt wenigstens mit meinen Erfahrungen hinsichtlich europäischer Köpfe
gut überein. Ich habe auffallendere Unterschiede in den natürlichen
Dispositionen von Menschen in Verbindung mit breiten und schmalen Köpfen,
als mit langen und kurzen beobachtet. Ich habe langköpfige Menschen geistig
beschränkt, andere hingegen sehr begabt gefunden, und ähnliche
Erfahrungen habe ich in Betreff kurzköpfiger Menschen gemacht. Der längste
Kopf den ich jemals gemessen habe, ist der eines sächsischen Selbstmörders,
der nach den Erkundigungen die ich seinerzeit (als er sich erhängte, 1840) über
ihn einzog, nur wenig Verstandeskraft besass **). Die grosse
*) A. a. O., S. 250.
**) Ich habe den Kopf des Todten nicht allein gemessen,
son-[60/61]
Länge dieses Kopfes bestand aber in einer anormalen
Entwickelung der Keilschläfenbein-Lappen und des Hinterhauptes, während
der Stirnlappen sich sehr zurückweichend, eng und flach zeigte; was unter
letzterer Bezeichnung zu verstehen ist, werde ich bald erklären. Die grosse
Aufmerksamkeit welche anthropologische Gesellschaften neuerdings der
Cranioskopie zuwenden, kann, obwohl bisher mehr Rücksicht auf die blos
anatomischen Unterschiede der Schädel verschiedener Menschenracen, als auf
das Seelenleben letzterer genommen wird, doch am Ende wichtige Thatsachen ans
Licht fördern. Die speciellen Beobachtungen der Knochen aus welchen die
Basis des Schädels besteht, und ihrer Verhältnisse zu den
Gesichtsknochen, haben schon interessante Resultate geliefert; z. B. ist
ein sehr bezeichnender Unterschied - ausser dem sogenannten Prognathismus - in
den Schädeln von Negern und Europäern bemerkt worden, indem Erstere
das Hinterhauptsloch (
Foramen magnum
) etwas anders, d. h. schräger nach hinten auf den
Atlas (den obersten Theil des Rückgrats) gestellt haben, als die Letzteren.
Hierdurch nähern sich die Neger mehr den niederen Vertebraten als die Europäer.
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 60]dern denselben abgiessen
lassen. Die grösste Länge des Kopfes betrug 9 3/8 sächsische
Zoll. [61/62]
In Beziehung auf die Knochen aus welchen die Schädelbasis
gebildet wird, mag hier erwähnt werden, dass ein deutscher Professor, der
ein populäres Werk über die Physiologie des Menschen geschrieben
hat*), den Kretinismus der zu frühen Verknöcherung der drei Theile aus
welchen das sogenannte Grundbein besteht, zuschreibt. Das Grundbein soll ferner
grossen Einfluss als Schlussstein, auf alle Schädelgruben, so wie auf das
Gewölbe, äussern.
Eine zu frühe Verwachsung, so wie eine krankhafte
Verdickung der Schädelknochen können ohne Zweifel die Entwickelung des
Gehirns bis zu einem gewissen Grade hemmen. Aber was den Kretinismus betrifft,
so sind viele andere Umstände ausser der zu frühen Verwachsung des
Grundbeins zu berücksichtigen, will man diese Form eines krankhaft-verkrüppelten
Geistes allseitig erklären. Es wird bei Kretinen im Allgemeinen ein grosser
und angeborener (ererbter) Mangel an constitutioneller Kraft gefunden, und
dieser Mangel zeigt sich oft als eine durch viele Generationen gehende Anhäufung
von Umständen, die der Gesundheit im Allgemeinen, und namentlich der des
Nervensystems und des
*) Der Leib des Menschen" von Professor Reclam, S. 76
u. fg. Stuttgart 1870. [62/63]
Gehirns, sehr nachtheilig sind. In den Alpen findet man Kretinen
oft in sumpfigen Gegenden, oder in sehr engen, wenig von der Sonne beschienenen
Thälern. Schlechte Luft, grobe, hauptsächlich fettbildende
Nahrungsmittel, Abgeschlossenheit und Mangel an geistiger Anregung, auch
vielleicht ein sehr kalkhaltiges Trinkwasser - das bei schwachen Constitutionen
Einfluss auf die Verdickung der Knochen haben mag - gehören gewiss zu den
veranlassenden Ursachen des Kretinismus. Professor Reclam scheint Ursache und
Wirkung zu verwechseln, und in den Schädeln von Kretinen der verkrüppelten
Entwickelung des Stirnbeins insbesondere keine Aufmerksamkeit geschenkt zu
haben. Meine eigenen Beobachtungen in Gegenden wo diese Unglücklichen häufig
zu sehen sind, haben mich überzeugt, dass, so grosse und verschiedenartige
Abweichungen von einer normalen Bildung ihre Köpfe im Allgemeinen zeigen,
der Sitz des vordern Lappens des Gehirns, als eine constante Erscheinung, sich
sehr verkrüppelt zeigt*).
Ich habe bei diesem Gegenstande so lange verweilt, weil nicht
allein die abnormen Schädel der Kretinen,
*) Siehe Tafel IV, Fig. 2. Ich habe diesen Schädel eines
Kretins aus Hallstadt im Salzkammergut genommen, weil er mit den Schädeln
vieler anderer Kretinen, die ich auf dem dortigen Gottesacker gesehen habe, im
Ganzen übereinstimmte. [63/64]
sondern auch die Formen der Schädel und Gesichtsknochen
gesunder Menschen den besondern Entwicklungen des Grundbeins zugeschrieben
worden sind. Es scheint in der That, als wären bei den Theorien von Schädelbildungen
das Gehirn und dessen Bildungsenergie ausser Acht gelassen worden. Auch scheinen
andere Verknöcherungs- und Wachsthumspunkte, ausser denen auf der Basis des
Schädels namentlich die auf den Stirn- und Scheitelbeinen zu wenig berücksichtigt
zu werden. Bei manchen Schädeln sieht man eine bedeutende Erhöhung
derselben - auf eine grosse Ausdehnung des Gehirnmantels hinweisend - über
die eben genannten Verknöcherungspunkte hinausgehen, bei anderen hingegen
nicht. Diese Unterschiede, die schwerlich mit den Knochenverhältnissen der
Schädelbasis etwas zu thun haben, sind aber mit auffallenden Unterschieden
im Seelenleben des Individuums in genauem Zusammenhange.
In den europäischen Ländern, die ich mehr oder weniger
gut kenne, habe ich sowohl lange wie kurze Köpfe, doch im Ganzen die eine
oder die andere Form vorherrschend gefunden. Ich habe z. B. bemerkt, dass
die Köpfe der nördlichen Franzosen, der Italiener, Engländer, der
keltischen und slavischen Stämme die ich kenne - die Russen nicht
mitgerechnet - im Allgemeinen etwas länger [64/65] und schmäler als
die der jetzigen Deutschen sind. Die Köpfe der Letzteren sind in der Regel
breit und kurz, doch oft durch ihre Höhe ausgezeichnet; d. h. der
Mantel des Gehirns, besonders bei den gebildeten Classen, zeigt eine schöne
Erhabenheit. In allen Ländern jedoch, wo ich viele Köpfe der
Eingeborenen untersucht habe, ist in allen Fällen wo ich Zuverlässiges
über die Charaktereigenschaften und Befähigungen der Individuen
erfahren konnte, meine Ueberzeugung von der Uebereinstimmung derselben mit der
relativen Entwickelung besonderer Kopfregionen bestärkt worden.
Es ist jetzt an der Zeit, den Ausdruck flach oder schmal, den
ich oben in Beziehung auf das Stirnbein und den vordern Lappen des Gehirns
gebraucht habe, näher zu erklären. Hierbei werde ich Gelegenheit
haben, auf einen gut bezeichneten und leicht bemerkbaren Unterschied an Schädeln,
so wie an Köpfen von Lebenden, und auf die Coincidenz desselben mit einem
eben so gut bezeichneten Unterschied in Betreff einer Kategorie von Seelenfähigkeiten
besonders aufmerksam zu machen. Was ich in Folgendem hervorzuheben gedenke,
reicht schon hin, die Richtigkeit des Princips darzuthun, dessen Beweisführung
Dr. Gall sein Leben widmete, nämlich des Princips, dass verschiedene
See-[65/66]lenanlagen in verschiedenen Theilen des Gehirns localisirt sind.
Die Oberfläche des Gehirns, mit Ausnahme des Kleinhirns,
wird gewöhnlich in vier Lappen eingetheilt: den vorderen oder Stirn-, den
Schläfen-, den Scheitel- und den Hinterhauptslappen.
(Lobi ceribri, frontales, temporalis, parietalis et
occipitalis.)
Diesen wird noch ein fünfter, aber sehr kleiner Lappen
(Lobus centralis)
zugerechnet. Da er aber bei völlig entwickelten Gehirnen in
der sylvischen Grube liegt, und äusserlich nicht auf der Oberfläche
des Gehirns wahrzunehmen ist, so werde ich ihn hier nicht in besondere
Betrachtung ziehen. Von den vier zuerst genannten Lappen ist der vordere am
deutlichsten gezeichnet und am leichtesten zu erkennen, indem die sylvische
Grube und deren Furchen ihn auf der mittleren Basis und eine Strecke seitwärts
hinauf, sehr bestimmt von den Schläfenlappen unterscheiden. Die sylvische
Furche oder Spalte ist die erste im Embryo gebildete, und mit Ausnahme der Längsspalte,
durch welche das Gehirn in den Hemisphären getheilt ist, bleibt sie während
des ganzens[!] Leben die grösste Eintheilung auf der Oberfläche des
Gehirns. In der Stirn-Scheitel-Gegend ist allerdings eine Grenze des
Stirnlappens nicht genau anzugeben, und überhaupt ist die übliche
Unterscheidung von Lappen mehr oder [66/67] weniger künstlich, und hat im
Ganzen nur eine oberflächliche und äusserliche Bedeutung. Die Anatomen
richten heutzutage mit gutem Grund ihre Aufmerksamkeit viel mehr auf die Furchen
und Wülste der Gehirnoberfläche, als auf die Lappen. Da jedoch die
Basis des Gehirns einen auffallenden Unterschied in der Form und Lage der
Theile, welche man als Stirn- und Schläfenlappen bezeichnet, zeigt, und ein
eben so grosser Unterschied in dem Schädelgrund worauf jene Theile liegen -
namentlich in den Gruben - zu bemerken ist; da ferner tausendfache Erfahrungen
mich überzeugt haben, dass eine Schätzung der relativen Entwickelung
des Stirnlappens bei Individuen von der grössten Wichtigkeit ist, um ihre
intellectuelle Begabung zu erkennen, so finde ich demnach nöthig, noch länger
bei diesem Gegenstande zu verweilen.
Bei horizontal aufgeschnittenen Schädeln sieht man, dass
der unterste Theil des vorderen Gehirnlappens auf eine erhöhte Platte des
Stirnbeins - die sogenannte
supraorbitale
Platte - oder auf das obere Dach der Augenhöhlen, zu
liegen kommt. Diese Platte ist allemal höher - manchmal sogar sehr
bedeutend höher - als die Grube worauf der Schläfenlappen ruht. Die
innere Ausdehnung der supraorbitalen Platte nach der Mitte des Schädels zu,
kann man aber, obwohl sie, wie gesagt, in [67/68] aufgeschnittenen Schädeln
genau zu sehen ist, in nicht aufgeschnittenen und an den Köpfen von
lebenden Menschen nur durch die folgende Methode der Beobachtung erkennen.
An allen Schädeln bemerkt man auf jeder Seite nach vorn
eine kleine Einsenkung (wie eine Art Rinne), genau an die Extremitäten der
Kronnähte und- auf die Keilbeine sich erstreckend. Der Theil dieser
Einsenkung, wo die Kronnaht und das Keilbein sich äusserlich berühren,
stimmt in der Regel ziemlich genau mit der erwähnten inneren Ausdehnung der
Knochenplatte worauf der Stirnlappen liegt, überein. An Köpfen
lebender Menschen kann man bei einiger Uebung die beschriebene Einsenkung mit
der Fingerspitze fühlen, am leichtesten bei mageren Menschen. Es giebt aber
noch einen Umstand, wodurch die Ermittelung der Lage und inneren Ausdehnung des
vorderen Lappens erleichtert wird. Nachdem man den Kopf eines Lebenden in eine
senkrechte Lage gebracht hat, muss man die hervorragendste Stelle des Jochbogens
aufsuchen; dann eine verticale Linie den Kopf hinauf ziehen, und die innere
seitliche Ausdehnung des Stirnlappens wird mit dieser Linie übereinstimmen
*). Die Höhe und Breite des Vor-
*) Genauere Anweisungen über diese Untersuchungs-Methode
sind enthalten in: Grundzüge der Phrenologie", S. 132. [68/69]
derkopfes sind leicht genug zu erkennen, doch betrachtet man
eine Stirn blos von vorn, so kann sie sowohl breit als hoch erscheinen, während
doch ihre Tiefe sehr unbedeutend sein mag. Um die materielle Grundlage
intellectueller Befähigung eines Menschen gehörig zu schätzen,
ist es nothwendiger die Tiefe des vorderen Lappens - nach den Ohren zu - zu
messen, als seine Höhe und Breite zu berücksichtigen. In dieser
Hinsicht ist der englische Ausdruck
shallow-pated"
auf dumme Menschen angewendet, nicht ohne Sinn*).
Der vordere Lappen des Gehirns erreicht seine volle Entwickelung
zuletzt, und diese Thatsache stimmt mit der Erfahrung überein, dass im
Allgemeinen die intellectuellen Kräfte des Menschen viel später als
die Gemüthsanlagen zum Vorschein kommen. Ich habe mehrmals in Erfahrung
gebracht, dass Aenderungen in den Formen- und Grössen-Verhältnissen
von Köpfen Erwachsener viel mehr einem fortschreitenden Wachsthum der
Stirn, als dem irgend eines anderen Kopftheiles zuzuschreiben sind**).
*) Vergleiche Taf. II, Fig. 1 u. 2. Taf. III, Fig. 3 u. 4, und
Taf. IV, Fig. 2, 3, 4 u. 5.
**) Herr Paul Broca hat im vorigen Jahr der Société
de l'anthropologie zu Paris seine Untersuchungen über die relative Grösse
der Köpfe der
Infirmiers
(Krankenwärter) und der
Internes
(Geisteskranken) in Bicêtre mitgetheilt. Auch hat er
seine vergleichenden Kopfmessungen angegeben. Er hat gefunden, dass Bildung,
namentlich intellectuelle Arbeit, die Grösse des Gehirns befördert,
und dass [69/70]
Auch in Beziehung auf die Tendenz zur Verwachsung der
verschiedenen Schädelwirbel" sagt Professor Aeby, das Streben
nach Freiheit erstarkt vom hinteren Ende des Schädels zum vorderen"*).
Wenn es auch vom theoretisch-psychologischen Standpunkte aus
schwierig erscheinen mag, eine ganz klare Definition von intellectuellen Kräften
zu geben, und sie von denen der Gefühle genau zu unterscheiden, so wird
doch in der Praxis ein grosser Unterschied stets anerkannt - wie der
Sprachgebrauch jedes gebildeten Volkes deutlich bekundet. Gemeiniglich glaubt
man, dass die Gemüthsbewegungen, Leidenschaften u. s. w. vorzüglich
mit dem Herzen zu thun haben, indem das Gehirn nur als Organ für die
Vorstellungen und das Denken überhaupt dienen soll. Doch wird diese Ansicht
nicht mehr von Physiologen getheilt, die jetzt allgemein das Gehirn als das
Organ des Seelenlebens im Ganzen anerkennen. Ich berufe mich nur noch auf die
Erfahrung, dass man die Menschen gewöhnlich als Verstandes- und Gemüthsmenschen
classificirt, und dass wir häufig Beispiele von starken Leidenschaften,
gepaart mit schwachem Verstande, und ebenso das Gegentheil beobachten können.
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 69] die Zunahme desselben
vorzüglich im vorderen Lappen stattfindet. (Lancet 5. Juli 1878.)
*) A. a. O., S. 184. [70/71]
Zur Bekräftigung dessen, was ich über die
intellectuellen Functionen der Stirn sagte, haben wir ferner die Erfahrung, dass
Menschen bei denen der vordere Gehirnlappen verhältnissmässig sehr
klein ist, viel weniger denken und mit Bewusstsein handeln, als Menschen deren
Stirnen verhältnissmässig gross sind*). Ich berufe mich ferner auf die
Erfahrung, dass das Denken an und für sich, obwohl gewöhnlich ein ganz
ruhiger Geistesprocess, dennoch manchmal starke Gefühle erregt, die mit
grossen Aufregungen verschiedener Organe des Körpers verbunden sind. Wenn
wir z. B. nicht äusserlich beschäftigt sind, und wir in solchen müssigen
Momenten, wie man zu sagen pflegt, unseren Gedanken Audienz geben",
so streifen Bilder, Erinnerungen unserer Erlebnisse u. s. w. unwillkürlich
durch den Kopf. Bei diesem Vorgang kann vielleicht der Gedanke an einen grossen
Schmerz oder aber an eine grosse Freude aufsteigen; z. B. an eine erfahrene
Beleidigung, oder an eine zu erwartende Begegnung mit einer sehr geliebten
Person. Wenn etwas dieser Art geschieht, so ist es mit der Ruhe
*) Dass auch willkürliche, bewusste Bewegungen von dem
vorderen Lappen des Gehirns ausgehen, haben Gall und seine Nachfolger schon
lange behauptet. Neuerlich hat Professor Ferrier durch seine Experimente diese
Ansicht bestätigt, worüber ich später mehr sagen werde. [71/72]
des Denkens vorbei. Augenblicklich, besonders bei Personen in
denen die Anlagen zum Stolz oder zur Liebe stark entwickelt sind - wird das Herz
heftig klopfen, das Gesicht erblassen, oder aber erröthen, und einige Zeit
wird vergehen müssen, ehe der normale, ruhige Fluss der Gedanken wieder von
Statten geht. Obwohl beim Denken und Fühlen die mechanischen, chemischen
Aenderungen - Molecülen-Bewegungen, oder was immer -, die in den
Nervenzellen und Fibern der Gehirnhemisphären vorgehen, uns noch unbekannt
sind, so ist es doch allen Beobachtern der Phänomene des Seelenlebens klar,
dass alle geistige Thätigkeiten physisch sind, und dass ihre
Aufeinanderfolge und ihre Associationen durch bestimmte Gesetze geregelt werden.
Selbst vom theoretischen Standpunkt aus betrachtet, und specielle Erfahrungen an
Köpfen bei Seite lassend, deuten die erwähnten Verschiedenheiten in
den körperlichen Zuständen beim Denken und Fühlen auf bestimmte
Functionen besonderer Theile des Seelenorgans hin.
Um nun aber das Gesetz der Grössenentwickelung praktisch zu
beweisen, brauchen wir nur unsere Beobachtungen auf ein grosses Terrain
auszudehnen, und sehr viele Köpfe mit Rücksicht auf die Entwickelung
ihrer Stirnen genau anzusehen. Thun wir dieses, und überblicken dann unsere
Er-[72/73]fahrungen im Ganzen und Grossen, so können wir von dem Gesetz der
Qualität des Gehirns abstrahiren, und wir werden finden, dass das oben
Gesagte betreffs der Grössenentwickelung der Stirn im Verhältniss zu
der relativen intellectuellen Befähigung der Menschen, eine feste Wahrheit
ist. Um mich hier nicht mit Specialisirung besonderer Formen dieser Befähigung,
als besonderer Talente u. s. w. aufzuhalten, classificiren wir die
Menschen ganz im Allgemeinen als intellectuell begabte oder gescheidte - und als
das Gegentheil, oder sogar als dumm. Berücksichtigen wir dann ihre
Stirnbildungen auf die angegebene Weise, so wird die Thatsache auf die ich mich
bezogen habe, sich schlagend herausstellen.
Weiter: Messen wir, mit einem in Millimeter eingetheilten Bändchen,
die Stirnen jener beiden Classen von Menschen, indem wir das Bändchen
gerade über die Augenbrauen legen, und die Entfernungen zwischen den
beschriebenen Einsenkungen in den Keilbeinen ermitteln, und vergleichen wir dann
die Mittelzahlen einer bedeutenden Menge solcher Messungen - von beiden Classen
gleich zahlreich - so wird das Entwickelungsgesetz der Grösse, was
intellectuelle Begabung betrifft, mathematisch erwiesen werden. Noch dazu kann
beim Berücksichtigen der Mittelzahlen solcher Messungen [73/74] nicht
allein das Gesetz der Qualität bei Seite gelassen werden, sondern die
Messungen brauchen nur, wie gesagt, sehr zahlreich zu sein, um alle
Schwierigkeiten der speciellen Beobachtung in Folge der Ungleichheiten in der
Dicke der Schädelknochen in Wegfall zu bringen. Nach der bekannten Theorie
der Compensationen müssen bei Messungen im Grossen die kleinen Unterschiede
der Knochendicke, die ebenso bei der einen wie bei der anderen Classe von
Menschen vorkommen, sich ausgleichen.
Das Gesetz der (relativen) Grössenentwickelung kann auch
auf andere Theile des Kopfes angewendet werden. Es ist meine volle Ueberzeugung,
aus äusserst zahlreichen Beobachtungen hervorgegangen, dass zwei andere
Kategorien des Seelenlebens - die sogenannte thierische und moralische - in zwei
anderen Regionen des Kopfes ihre Grundlagen haben. Die erstere ist mit der von
dem Keilschläfenlappen gebildeten Region und einem Theile des
Hinterhauptlappens verbunden; die zweite mit jener, welche die vorderen
Scheiteltheile des Kopfes einschliesst. Bei dem Ausdruck thierische
Kategorie des Seelenlebens" beziehe ich mich auf die angeborenen Anlagen,
welche Thieren und Menschen grossentheils gemein sind, und welche bei letzteren
die Hauptquellen ihrer sogenannten selbstischen [74/75] Natur, ihren
Selbsterhaltungstrieb, bilden. Die moralische Kategorie umfasst beim Menschen
die Grundlagen des Wohlwollens und der edleren Sympathien, der Pietäts-,
Verehrungs- und Gerechtigkeitsempfindungen, und alles dessen was man
insbesondere höhere Humanität nennt.
Wenn wir nun die ältesten europäischen Schädel,
die in neuerer Zeit in Felsenhöhlen u. s. w. neben Knochen von
ausgestorbenen Thierarten, Steingeräthen, Waffen u. s. w.
aufgefunden worden sind, - und welche von Richard Owen als die Schädel
einer troglodyten Menschenrace" oder primitiver speläischer
Völker" bezeichnet sind - mit modernen Schädeln von einer
durchschnittlichen Form vergleichen; wenn wir ferner die Köpfe jetzt
lebender tief stehender Wilden, und die von brutalen Menschen, die leider
mitunter noch immer in hochcivilisirten Ländern anzutreffen sind, mit den Köpfen
von moralisch-intellectuellen Menschen vergleichen - worin bestehen dann die
Unterschiede? Beim durchschnittlichen Europäer, und noch auffallender bei
moralisch-intellectuellen Individuen, in der relativ höheren Entwickelung
der Stirn- und Scheitelregionen des Kopfes, in jener Ausdehnung und Erhöhung
des Mantels des Gehirns, auf die ich oben aufmerksam zu machen gesucht [75/76]
habe*). In den Köpfen der troglodyten Menschenrace", der
niedrigst stehenden Wilden, sowie in denen der brutalsten der modernen Europäer
- deren Köpfe einen sogenannten Verbrecher-Typus" zeigen - sind
die eben beschriebenen Theile sehr niedrig und flach, kurz, sie sind wenig
entwickelt, während hingegen in solchen Köpfen die basilocentralen,
und die noch weiter hinten liegenden Theile relativ und oft absolut sehr
hervorragend sind.
Ueber die in neuerer Zeit in Europa aufgefundenen Schädel
bestehen etwas abweichende Ansichten - insbesondere über den vom Engisthal.
Huxley hat sogar gemeint, dass dieser Schädel gute Proportionen zeigt, und
dass er eben sowohl einem Philosophen angehört haben, als, das Gehirn
eines gedankenlosen Wilden enthalten haben könnte". An einer anderen
Stelle seines Werkes giebt er aber zu, dass die Stirn eine enge
(narrow)
Form zeigt,
*) Was sehr hohe Köpfe anbelangt, ist zu bemerken, dass es
solche giebt, die keineswegs mit grossen intellectuellen und moralischen Fähigkeiten
in Verbindung stehen. Mitunter sieht man sehr einfältige Menschen mit hohen
Köpfen. In solchen Fällen ist ihre Längsachse jedoch nicht gehörig
entwickelt, und die Stirn, wenn sie auch ziemlich breit und hoch erscheint, hat
nicht jene Tiefe, von der ich bereits gesprochen habe. Ferner ist zu bemerken,
dass in Fällen, wo der vordere Gehirnlappen sehr stark entwickelt ist, in
der Regel die Stirn - auch nach Abrechnung der Stirnhöhlengrösse sind
Zeichen davon vorhanden - über die Gesichtsknochen hinausragt. [76/77]
und dass sie einem Menschen von beschränkten intectuellen Fähigkeiten
angehört haben müsse". Ich kenne zwar diesen Schädel - der
aber nicht ganz erhalten ist, da dessen Grundtheil fehlt - nur aus Zeichnungen
und Beschreibungen. Indess reichen diese schon hin, um mich zu rechtfertigen,
wenn ich meine Verwunderung über die obige Ansicht eines berühmten
Cranioskopen ausspreche. Welcher Grad von Verstandeskräften hinreichen würde,
um in den Augen des Herrn Professor Huxley einen Philosophen zu bilden, weiss
ich zwar nicht, aber auf meine Erfahrungen gestützt, kann ich kühn
behaupten, dass ich niemals einen Menschen, der wirklich ausgezeichnete
Auffassungs- und Denkkräfte - das was Humboldt so gut als combinirenden
Verstand" bezeichnet hat - besass, mit einer Kopfbildung, ähnlich der
des Engisthal-Schädels, oder sogar mit der irgend eines Wilden, gesehen
habe.
Aus den Abbildungen und Beschreibungen der vorhistorischen Schädel
geht gewiss so viel hervor, dass sie sich im Ganzen von normalen Köpfen der
Jetztzeit durch einen stärkeren Knochenbau, einen flacheren Vorderkopf und
durch viel stärkere Stirnwülste unterscheiden. Letzterer Umstand ist
bei dem Neanderthal-Schädel besonders auffallend. Professor Virchow hat
jedoch diesen Schädel für [77/78] eine pathologische Bildung"
erklärt, und dieser Meinung ist Lucae beigetreten*).
Wenn auch vielleicht gewisse abnorme Bildungsformen des Schädels,
genetisch betrachtet, pathologische sein mögen, so ist es doch stets nöthig,
in allen concreten Fällen - wo man keinen Grund hat, Mangel an Gesundheit,
eine schlechte Constitution im Allgemeinen vorauszusetzen - den Einfluss
*) S. Archiv für Anthropologie, 6. Band, S. 14.
Braunschweig 1873.
In die pathologische Frage kann ich nicht erschöpfend
eingehen; ich bemerke aber, dass, da wir von einer absoluten Gesundheit dem
Menschen nichts wissen, es bei Untersuchungen von Bildungsformen des Kopfes,
oder denen anderer Theile des Körpers, schwer zu unterscheiden ist, ob
nicht vielleicht einige davon, die gewiss ererbt sind und uns dennoch als
abnorme erscheinen, ihre Genesis in längst vorübergegangenen
Lebensverhältnissen des Menschen hatten, die eine allzu grosse - möglicherweise
krankhafte - Thätigkeit besonderer Körpertheile verursachten. Es giebt
aber auch in dem Körper der jetzt lebenden Menschen einige überflüssige,
rudimentäre Gebilde, deren genetische Entstehung in Vorältern -
vielleicht sehr ferne Stehenden - zu suchen ist. Möglich ist es, dass die
Stirnhöhlen und die anderen leeren Räume im Schädel des Menschen
(deren Zweck die Physiologen nicht kennen), und die so gross und constant bei
vielen Thieren sind, auf eine ursprüngliche, sehr weit zurückliegende
Abstammung des Menschen vom Thiere hindeuten. Ich werfe diese Idee nur als
hypothetisch hin, und ich liebe eigentlich Hypothesen nicht, obwohl sie manchmal
zur Erforschung von Thatsachen anspornend dienen. Bei einer Familie habe ich die
Stirnhöhlen in drei Generationen von Erwachsenen, männlichen
Geschlechts, äusserst gross gefunden. Auch in dem Porträt des
Urgrossvaters des jüngsten Gliedes der Familie sind sie sehr markirt. Die Köpfe
der Glieder der drei Generationen die ich untersucht habe, zeigen trotz der erwähnten
und einiger anderer Familienähnlichkeiten, doch bedeutende individuelle
Verschiedenheiten, die mit ihren Charakteren übereinstimmen. [78/79]
individueller Bildungsenergie auf die Form des Schädels,
als ein sehr wichtiges Moment zu berücksichtigen. Dies zeigt sich auch
klar, wenn wir die Thatsache in Betracht ziehen, dass, so sehr auch die Schädel
gewisser sogenannter Menschenracen einige ziemlich constante Charaktere zeigen
(so wie auch ihr Seelenleben im Ganzen und Allgemeinen es thut), dennoch
individuelle Verschiedenheiten in denselben stets zu bemerken sind.
Im Herbste 1871 sah ich im Museum des Herrn Lukis in St. Peters
Port, Guernsey, mehrere Schädel und Theile von Schädeln - insbesondere
die vorderen Theile - eines alten keltischen Volkes. Sie sind alle in oder ganz
dicht bei alten Bauten (sogenannten Cromlechs") dieser und anderer
der Canalinseln aufgefunden worden. Diese Schädel sind als über 4000
Jahre alt geschätzt. Sie sind alle durch die Dicke und grobe Textur der
Knochen, durch die Grösse ihrer Hinterhäupter und Keil-Schläfenbeintheile,
und durch ihre flache, enge und zurückfliegende Stirn ausgezeichnet. Wenn
nicht jede Spur eines Gegendrucks auf das Hinterhauptbein fehlte, so könnte
man die flache Stirn dieser Schädel mit denen der Flatheads" von
Amerika in eine Kategorie stellen. Diese alt-keltischen Schädel sind auch höchst
interessant, insofern sie ebenfalls bestätigen, dass die Richtung der
Gehirn-[79/80] und Kopfentwickelung, die mit dem Fortschreiten der Civilisation
verbunden ist, sich vorzüglich auf die Ausdehnung und Erhöhung der
vorderen und oberen Regionen des Kopfes bezieht*).
Um besondere Seelenanlagen, welche mit bestimmten Formen des
Kopfes in Uebereinstimmung zum Vorschein kommen, weiter zu specificiren, so kann
man sehr wohlwollende, sogenannte gutherzige, mit sehr gefühllosen,
sogenannten hart- und kaltherzigen Menschen, und die Köpfe dieser beiden
Classen vergleichen. Bei den ersteren wird man eine Erhöhung vorn, gerade
wo Scheitel und Stirn sich vereinigen, finden; bei den letzteren ist dieser
Theil verhältnissmässig flach oder gedrückt. Auch findet man bei
der letzteren Classe von Menschen - wenn sie nicht allein durch Mangel an Güte
und Theilnahme für Andere charakterisirt sind, sondern sich auch sehr hab-
und selbstsüchtig zeigen - eine Kopfform, die in der Regel eurycephal
genannt werden könnte, d. h. die Keil-Schläfenbeinlappen sind bei
ihnen sehr stark entwickelt. Die sehr wohlwollenden und
*) Merkwürdig fand ich auch in der interessanten Sammlung
des Herrn Lukis die grosse Menge von aufgefundenen alten, menschlichen Zähnen.
Sie sind alle sehr gross und haben einen besonders starken Schmelz. Ich habe
gewiss mehr als 200 Stück gesehen, wovon viele noch in sehr starken
Unterkiefern festsassen, und doch fand ich nur ein einziges Beispiel von Caries.
[80/81]
grossmüthigen Menschen hingegen sind stenocephal zu nennen.
Auch lassen sich sehr stolze, hochmüthige, und andererseits sehr
bescheidene Naturen, mit Rücksicht auf ihre Kopfbildungen vergleichen. Die
Unterschiede wird man vor Allem in der grösseren oder geringeren
Entwickelung des obersten Theils ihrer Hinterhäupter finden. Ferner können
sehr vorsichtige und sehr unvorsichtige Charaktere, und ihre Kopfbildungen,
verglichen werden, und im Ganzen wird man morphologische Verhältnisse
finden, die auf eine Localisation von Seelenanlagen mit Bestimmtheit hindeuten.
In den Fällen auf die ich mich beziehe und in mehreren anderen die ich hier
nicht erwähnen will, sind die gemachten Erfahrungen sowohl negativ als
positiv, und darum um so gewichtiger.
Um noch einmal den vorderen Gehirnlappen, als den Sitz von
intellectuellen Fähigkeiten insbesondere, in Betracht zu ziehen, so sind an
den Stirnen von grossen Musikern und von grossen Malern bedeutende Unterschiede
zu bemerken. Ebenso unterscheiden sich auch die Stirnen poetischer Geister von
denen sehr prosaischer Menschen, und die Stirnbildungen, von tiefsinnigen
Denkern, die das Theoretische und Abstracte lieben, sind von denen der zuletzt
beschriebenen nicht minder verschieden. Es ist mir niemals ein grosser Portrait-
oder Histo-[81/82]rien-Maler vorgekommen, dessen Augen nicht etwas weiter
auseinander gestanden hätten, als es bei der Mehrzahl der Menschen der Fall
ist; d. h. der untere, mittlere Theil des vorderen Lappens, der vorn
(zwischen den Augenbrauen) zu liegen kommt, ist bei ihnen besonders entwickelt.
Die Stellung der Augen ist ferner beachtungswerth; wenn sie heruntergedrückt
sind, so ist ein grosses Wortgedächtniss, oder eine grosse Befähigung
Sprachen zu lernen, damit in Verbindung. Die Gehirnwindung in welcher, nach
Gall, die Sprachfähigkeit localisirt ist, liegt auf der Orbitalplatte,
gerade über den Augen. Ist diese Windung stark entwickelt, so ist die Folge
davon, wie erwähnt, in dem Heruntergedrücktsein der Augen zu bemerken.
Durch sehr zahlreiche Erfahrungen habe ich Gall's Lehre in dieser Hinsicht bestätigt
gefunden*). Auch habe ich niemals einen wirklich grossen Musiker (Componisten)
gesehen, dessen Stirn nicht oberhalb der äusseren Winkel der Augenbrauen
hervorragend war. Wenn auch die Stirnhöhlen es etwas schwierig machen, die
Entwickelung einiger der phrenologischen intellectuellen Fähigkeiten genau
abzuschätzen, so bin ich doch fest überzeugt, dass, so wie die unteren
*) Bei Besprechung des Experimentes des Dr. Ferrier werde ich
auf die Anlage, Sprachen zu erlernen, näher eingehen. [82/83]
oder die oberen Partien der Stirn vorherrschend entwickelt sind,
verschiedene Richtungen einer intellectuellen Begabung zum Vorschein kommen.
Grosse Beobachtungsgabe hängt insbesondere mit einer vollen Entwickelung
der unteren Partie der Stirn zusammen, während hingegen die Anlage zum
tiefen, logischen Denken niemals bei Menschen gefunden wird, deren Stirn eine
sehr enge und zurückweichende Stellung zeigt - indem eine volle
Entwickelung der oberen Stirnpartie für die genannte Befähigung
durchaus nothwendig ist. Wo die Auffassungs- und Denkkräfte in Harmonie
sind, da werden auch die oberen und unteren Stirnpartien harmonisch entwickelt
gefunden.
Auch habe ich Grund anzunehmen, dass das Bewusstsein, insofern
dieses Wort die Kenntnissnahme von und das Nachdenken über die von Aussen
kommenden Eindrücke, oder über unsere inneren Empfindungen, bedeuten
soll, vorzüglich als Thätigkeitsäusserung der mittleren oberen
Partien des Vorderlappens des Gehirns zu betrachten ist. Das Bewusstsein aber im
vollsten Sinne des Wortes - und alles concrete Wissen einschliessend - hängt
auch, wie schon früher bemerkt, von der Art der Qualität unserer
Auffassungen und Empfindungen ab, welche sich wiederum als Thätigkeitsäusserungen
besonderer angeborener Anlagen erweisen; denn, [83/84] ich wiederhole es, ein
Mensch der nicht fähig ist, alle primitiven und complementären Farben,
oder alle musikalischen Töne und Cadenzen wahrzunehmen, kann weder volles
Bewusstsein von Farben, noch von musikalischen Harmonien haben.
Was das Selbstbewusstsein betrifft, das bei speculativen
Psychologen eine so grosse Rolle spielt, - und als Beweis einer übersinnlichen
Seele gelten soll - so hat dieses, insofern Kenntniss der eignen Individualität
darunter zu verstehen ist, seine allmälige historische Entwickelung. Das
Kind fängt damit an, von sich in der dritten Person zu reden; es kennt sich
objectiv viel früher, als es ein subjectives Bewusstsein erlangt.
Letzteres, wenn es einmal entwickelt ist, muss sowohl den Charakter der
vorherrschenden angebornen Anlage, als auch der speciellen Erlebnisse und der
Bildung irgend eines Individuums reflectiren. Ich kann mich hier auch auf die
Erfahrung berufen, dass Menschen ihrem Ich oft ein Du entgegenstellen. Wenn z. B.
Menschen unter grosser Aufregung Handlungen begangen haben, die sie später
bedauern, so hört man sie oft zu sich selbst sagen: Wie hast du doch
so thöricht handeln können". Solche Redensarten wären unerklärlich,
wenn die menschliche Seele homogen, und das Selbstbewusstsein eine einheitliche
Kraft wäre. Auch kann die blosse Selbst-[84/85]kenntniss, wie jede andere
Form von erworbenen Kenntnissen, durch Gehirnkrankheiten verlorengehen, wie man
das so häufig bei Wahnsinnigen sieht, und Krankheiten - wie das sogenannte
Petit mal
, und selbst Betrunkenheit - können das Selbstbewusstsein
aufheben. Betrunkene Menschen sprechen oft mit grosser Lebhaftigkeit von
vielerlei Sachen, während sie doch bisweilen nicht mehr zu wissen scheinen,
wer sie eigentlich sind.
Thatsachen und Beweisgründe, ähnlich denen die ich erwähnt
habe, um zu zeigen dass das Bewusstsein nicht eine einfache homogene Kraft sei,
liessen sich auch anführen, um zu beweisen dass andere Geisteskräfte
der psychologischen Schulen, wie z. B. die Einbildungskraft, die
Aufmerksamkeit, die Sympathie, die Urtheilskraft, der Wille u. s. w.
nur als abstracte Begriffe, als allgemeine Vorstellungen zu betrachten sind, und
dass, wenn man sie mit Rücksicht auf ihren concreten Inhalt untersucht, sie
immer als Grundlage die Thätigkeitsäusserungen besonderer angeborner
Anlagen zeigen.
Das eben Gesagte vollständig zu beweisen, würde eine
lange Abhandlung erfordern. Ich beschränke mich hier auf einige Bemerkungen
über den Willen, indem die Psychologen von dieser einen ihrer Kräfte
in sehr unklaren und unbestimmten Ausdrücken reden. [85/86]
Der Deutlichkeit halber betrachten wir den Willen 1) als Wollen,
mit Begierden und Impulsen verbunden, 2) als Willenskraft, mit Energie und
Festigkeit des Charakters im Allgemeinen vereint. Was das erstere anlangt, so
ist unser Wollen ebenso verschiedenartig und ebenso stark als es unsere
angebornen Anlagen und Neigungen sind. Jede Anlage,
sui generis,
hat Antheil an dem Wollen. Der Wollüstige verlangt und will
die Befriedigung seiner besonderen Begierden; ebenso der Habsüchtige, der
Ehrgeizige, der Wohlwollende, der religiöse Mensch u. s. w., und
die mit Talenten - als für Musik, Malerei, Sprachen - Begabten, äussern
auch Wollen, indem sie die Befriedigung ihrer vorherrschenden Geistesanlagen
suchen. Hierüber mehr zu sagen, wäre überflüssig.
Aber abgesehen von besonderen Dispositionen, Begierden, Capacitäten,
Talenten, hören wir die Menschen oft als stark und schwach im Allgemeinen
classificiren, und diese Unterscheidung, die nicht ohne Grund gemacht wird,
bezieht sich zum Theil auf die ganze physiologische Constitution der Individuen.
Menschen von schwacher Gesundheit, besonders sehr nervöse, zeigen in der
Regel weniger Willens- oder Thatkraft als die starken und gesunden Menschen.
Viele pathologische Zustände, selbst temporäre Krankheiten - mitunter
ein sehr [86/87] heftiger Schnupfen - können uns für eine Zeit lang
fast jedes starken Wollens berauben. Aber wenn wir die Menschen mit Rücksicht
auf ihre Charaktere im Ganzen und Allgemeinen betrachten, so können wir von
den oben erwähnten körperlichen Zuständen abstrahiren, und nicht
allein werden, wie erwähnt, specielle Quellen des Wollens bemerkbar,
sondern man findet bei vielen Menschen eine Eigenschaft, die man Selbstgefühl,
Festigkeit und Consequenz in Befriedigung ihrer Begierden und in der Ausführung
ihrer Beschlüsse zu nennen pflegt. Auf diese Kategorie von Menschen, so wie
auf die entgegengesetzte von schwachen Charakteren, hat Gall seine
Aufmerksamkeit besonders gerichtet. Durch Beobachtung ihrer Köpfe kam er am
Ende dazu, eine besondere Anlage im Gehirn, die er Festigkeit"
nannte, anzunehmen. Wo er diese Anlage gross fand bei Personen, deren Köpfe
ausserdem eine niedrige thierische Bildung zeigten, bekam er Beweise von
Festigkeit in der Form von Eigenwillen, Beharrlichkeit und Halsstarrigkeit im
Streben nach Befriedigung gemeiner Begierden und selbstischer Triebe; bemerkte
er hingegen Festigkeit in einer moralischen Richtung - als Beständigkeit in
Menschen- und Wahrheitsliebe, in Pflichterfüllung u. s. w. so
fand er bei solchen Menschen nicht allein die Anlage zur Festigkeit"
gross, [87/88] sondern auch den ganzen vorderen und oberen Theil des Kopfes gut
entwickelt.
Vom rein theoretischen Standpunkte aus mag es fast überflüssig
erscheinen, eine besondere Anlage der Festigkeit" als Bestandtheil
des Willens anzunehmen - da die angebornen Neigungen höherer und niederer
Art bei dem Wollen betheiligt sind. Bedenken wir aber, dass viele Formen von
Seelenthätigkeiten, ursprünglich durch Umstände hervorgerufen,
zur Gewohnheit werden und sich vererben lassen, so wird eine besondere
Disposition zur Festigkeit und Consequenz im Handeln nicht unwahrscheinlich
sein; die Erfahrungen Gall's und seiner Nachfolger an verschiedenen Köpfen
scheinen das Dasein einer solchen Anlage zu bestätigen.
Dass der Wille, wie manche Denker meinen, nicht blos eine Thätigkeitsäusserung
der intellectuellen Fähigkeiten - insbesondere der Denkkräfte - sei,
wird klar, wenn wir bedenken, dass viele geistig sehr begabte Menschen,
namentlich poetische Naturen, oft, einen grossen Mangel an Willenskraft an den
Tag legen, während manche geistig beschränkte Menschen grosse
Willenskraft äussern. Auch dass Menschen oft widerstreitende Impulse
empfinden und Kämpfe mit sich zu bestehen haben, und dass dennoch die stärksten
Neigungen, ohne Rücksicht auf die Einsprache des Verstandes, die [88/89]
Handlungen bestimmen, ist allbekannt. Die Theorie vom Wollen und der
Willenskraft, auf empirische Beobachtungen basirt, wie ich sie angedeutet habe,
wirft wenigstens mehr Licht auf jene Erscheinungen des Seelenlebens, als die
Lehren der Philosophen es thun, welche den Willen als eine einheitliche Kraft
betrachten.
Ich füge hier noch einige Bemerkungen über eine
psychologische Theorie bei, die von vielen deutschen Physiologen angenommen
worden ist. Ich meine die Theorie, wonach alle Seelenthätigkeiten sich als
Vorstellungen erklären lassen. Es wird gelehrt, dass, indem die
Sinnesapparate Eindrücke empfangen, - ihre sogenannten adäquaten Reize
- und die Sinnesnerven dieselben zum Gehirn leiten, - wo wirkliche Empfindungen,
Vorstellungen und Strebungen stattfinden - indem ferner nothwendigerweise auf
alle Empfindungen Vorstellungen folgen, und diese wiederum Handlungen bestimmen,
Seelenthätigkeiten sich in Vorstellungen auflösen müssen. Der
dreifache Vorgang im Seelenleben - Empfindung, Vorstellung, Streben - ist
richtig dargestellt. Da aber die psychischen Reflex-Actionen die auf äussere
Reize folgen, von der mannigfaltigsten Art sind, und da auf keine zwei Menschen
dieselben Reize ganz ähnlich wirken, so ist es nothwendig, das Individuelle
bei Empfindungen [89/90] und Handlungen zu erklären. Dies glauben die
Physiologen, welche die Vorstellungstheorie angenommen haben, durch die Art und
den Grad der Vorstellungen thun zu können, die ein jeder Mensch in seiner
Seele angesammelt habe. Aber diese Ansicht ist weit davon entfernt, das Eigenthümliche
und Spontane der Gemüthsbewegungen und das Ungestüme der
Leidenschaften zu erklären, die so oft in Handlungen übergehen, wenn
sie auch vom Verstand, d. h. von gewissen Vorstellungen, gemissbilligt
werden. Die angeborenen Anlagen zeigen sich in psychischen Reflex-Actionen, und
oft selbst in bewussten Handlungen viel auffallender und bestimmter als irgend
welche Vorstellungen es thun. Und selbst in Fällen, wo Vorstellungen der
Klugheit oder Moralität über Handlungen entscheiden, sind in der Regel
Gemüthsanlagen vorhanden, die ihren Antheil an dieser Entscheidung haben.
Ich habe diese Theorie, wonach Seelenthätigkeiten mit Vorstellungen
identisch sein sollen, nur berührt, weil sie wiederum einen Beweis davon
liefert, wie sehr abstracte Denker, indem sie das ganze Gebiet der
Seelenerscheinungen zu übersehen meinen, dazu geneigt sind, eine allgemeine
Formel zu deren Erklärung zu erfinden.
Bei geistigen Vorgängen aber bekenne ich, dass es nicht möglich
ist, objective und subjective [90/91] Eindrücke, und ihre correlativen
Vorstellungen, gänzlich zu trennen. Die Theorie von Locke, wonach er alle
angeborenen Ideen verwarf, verlangt eine Modification. Vorstellungen, oder
wenigstens die Keime von Vorstellungen, sind bei Menschen und Thieren eingeboren
und erblich, und haben mehr oder weniger Einfluss auf ihre Handlungen. So wie
sie auf die Welt kommen, beobachtet man bei ihnen Erscheinungen, die mit dem Gedächtnisse
und den Gewohnheiten welche allmälig bei Individuen gebildet werden, eine
gewisse Analogie haben. Instinctartig wird von neugebornen Kindern oder Säugethieren
die Brust (oder die Zitzen) ihrer Mütter erfasst. Junge Hunde fangen beim
ersten Anblick gewisser Thiere an, dieselben zu jagen, und würgen sie, ohne
von ihren Eltern oder von Menschen dazu abgerichtet zu sein. Instinctiv werden
junge Katzen sich ducken, und nach Mäusen und kleinen Vögeln springen.
Bei allen Thieren kommen in der That Triebe in Thätigkeit, sowie gewisse
Gegenstände von ihnen gesehen werden. Es scheint daher, dass, so wie die
Triebe selbst als angeboten zu betrachten sind, auch gewisse Perceptionen, Ideen
oder Vorstellungen der sie anregenden Gegenstände es sein müssen*).
Auch beim
*) Als Beleg des oben Gesagten erwähne ich eine der
Erfahrun-[91/92]
Menschen sieht man verschiedenartige Empfindungen, Impulse,
Neigungen und Abneigungen, Geschmäcke u. s. w. auf die Eindrücke
folgen, welche von verschiedenen äusseren Gegenständen auf die Sinne
gemacht werden. Sehr abnorme Phänomene dieser Art nennt man Idiosynkrasien,
da sie gewöhnlich mit den Individuen die sie manifestirt haben, aussterben.
Ich erwähne als Beispiel die Abneigung und selbst Furcht, die Jakob I. von
England empfand, wenn er eine blanke Waffe erblickte. Viele Seeleneigenthümlichkeiten
setzen sich jedoch - in was immer ihre Genesis zu suchen sei - in Menschenracen
und Familien fest. Die Beobachtung dieser Thatsache hat bei Lady Mary Wortley
Montagu die Bemerkung hervorgerufen, dass Gott nicht allein Männer
und Frauen erschaffen habe, sondern auch Herveys"*). Auch die Zigeuner,
welche schon eine sehr lange Zeit
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 91]gen Charles Darwin's. -
Er hat auf den Gallopagos-Inseln gefunden, dass junge Enten, die von
einheimischen Eltern dort ausgebrütet waren, gar keine Furcht vor Menschen
zeigten - hingegen ganz junge Thiere, deren Eltern aus den Falklands-Inseln
kamen, sobald sie sich bewegen konnten, allsogleich den Menschen fürchteten,
so wie es wilde Enten gewöhnlich thun. Zur Zeit von Darwin's Reise schien
kein Vogel auf erstgenannten Inseln den Menschen zu fürchten, während
auf den Falklands-Inseln, wo der Mensch schon lange als Feind bekannt war, wilde
Enten, wie viele andere Thiere, grosse Scheu vor ihm zeigten.
*) Eine englische adelige Familie, in welcher es durch mehrere
Generationen viele Sonderlinge gab. [92/93]
inmitten civilisirter, europäischer Völker ein
vagabundirendes Leben führen, scheinen ihre Neigung dazu von
umherstreifenden Stammeltern in Hindostan ererbt zu haben *). Schon die Anatomie
des Gehirns zeigt, - obwohl dessen verworrene Faserstructur noch nicht genug
erforscht worden ist - dass alle Theile der Hemisphären in Verbindung
stehen. Hierdurch können wohl Associationen von Gefühlen und
Vorstellungen, die wir in besonderem Geschmack, Gewohnheiten u. s. w.
zur Erscheinung kommen sehen, als erblich oder individuell erworben, eine Erklärung
finden.
Ich komme nun auf die Physiognomie zu sprechen, nicht allein
weil sie von Gall als Hülfsmittel zur Menschenkenntniss benutzt wurde,
sondern auch weil er in dem natürlichen Ausdruck des Gesichts und in den
spontanen, so wie den gewohnheitsmässigen Bewegungen des Körpers
Belege für besondere Seelenanlagen und deren Localisirung im Kopfe gefunden
hat. Das eben Gesagte macht es klar, dass ich unter Physiognomie nicht die
stabilen Gesichtszüge verstehe, - obwohl diese, da sie Unterschiede von
Racen bezeichnen helfen, mit der historischen Entwickelung und den Kopfbildungen
derselben in einiger Beziehung stehen - sondern
*) Archiv für Anthropologie", Band V, S. 269.
[93/94]
ich beschränke mich auf die Pathognomie oder die natürliche
Sprache der Seelenthätigkeiten. Der Ausdruck verschiedener Gemüthsbewegungen,
Leidenschaften, intellectueller Fähigkeiten u. s. w., die als
psychische Reflex-Actionen oder als bewusste Mimik und Pantomime in den Augen,
der Stimme, den Bewegungen des Gesichtes und Körpers wahrgenommen werden,
ist sehr interessant und lehrreich. Jede Seelenanlage hat ihr bestimmtes
Zeichen, welches auch oft auf die Lage derselben im Kopfe hindeutet. Es ist z. B.
bekannt, dass stolze Menschen sich sehr aufrecht und steif halten, und dass sie
in den höchst gesteigerten Momenten ihres Selbstgefühls ihre Köpfe
sehr hoch aufrichten: Er trägt die Nase hoch", wie man von einem
stolzen Menschen zu sagen pflegt. Diese charakteristische Stellung des Kopfes
stimmt mit der schon erwähnten Lage der Selbstachtung überein. Sehr
wohlwollende, so wie auch nachdenkliche Menschen neigen ihre Köpfe nach
vorn, und auch diese Gewohnheit stimmt mit der beschriebenen Lage eines
Gehirntheils, oder Organs, für die Empfindungen des Wohlwollens, wie mit
der des Schlussvermögens überein. Besonders vorsichtige, behutsame
Menschen sind gewohnt, ihre Köpfe von der einen zur anderen Seite langsam
zu bewegen, und zugleich seitwärts zu blicken. Möglich ist es, dass
deshalb [94/95] der Ausdruck umsichtige Menschen" auf sie angewendet
worden ist. Sehr schlaue, falsche Menschen halten ihre Köpfe in der Regel
stets nach einer Seite und etwas vorwärts geneigt. Ihre Augen haben einen
unstäten, fuchsartigen Ausdruck. Selten sehen sie Jemanden voll ins
Gesicht. Die Lage des Verheimlichungs- oder Schlauheitstriebes"
harmonirt mit diesem charakteristischen Ausdruck. Auch wenn der Theil des
Keil-Schläfenbein-Lappens - wo Gall, wie erwähnt, die Lage eines Würgsinnes"
(Zerstörungssinnes) angegeben hat - sehr entwickelt ist, und in grosse Thätigkeit
kommt, sind die Bewegungen des Kopfes und des Gesichts sehr charakteristisch.
Bei starken Ausbrüchen von Zorn sieht man oft bei so afficirten Menschen,
dass sie ihre Köpfe abwechselnd sehr rasch auf beide Seiten hin und her
bewegen, wobei diese (die Köpfe), statt gehoben zu werden, sich den
Schultern zu nähern scheinen. Auch knirschen Menschen in solchen Momenten
mit den Zähnen und machen Bewegungen mit dem Munde, als ob sie beissen
wollten, oder ballen oft die Fäuste, wenn sie auch nicht beabsichtigen
dreinzuschlagen.
Der Ausdruck des Gesichts und die Stellung des Kopfes bei
Personen die starke Regungen der Verehrung oder Anbetung empfinden, ist
ebenfalls in Harmonie mit der Lehre Gall's. Ich habe mich vielfach über-[95/96]zeugt,
dass in den erwähnten und vielen anderen Fällen - die ich der Kürze
halber übergehe - Gall's Beobachtungen im Ganzen ihre Richtigkeit haben.
Es versteht sich aber, dass man jene Gewohnheiten im Ausdruck
des Gesichts und in den Bewegungen des Körpers, wo man sie, wie bei manchen
Kindern und wenig gebildeten Personen blos aus Nachahmung entstanden sieht, von
den soeben, besprochenen unterscheiden muss. Bei Kindern und bei sehr impulsiven
Erwachsenen ist die Pathognomie nichtsdestoweniger am leichtesten zu studiren;
denn sehr gebildete und an Selbstbeherrschung gewöhnte Menschen besitzen
viel Macht über den Ausdruck ihrer Empfindungen. Es ist hier nicht unerwähnenswerth,
dass Kinder und Hunde die Physiognomie eines Menschen oft besser zu verstehen
scheinen als Erwachsene, denn je mehr Werth letztere auf eine articulirte und
conventionelle Sprache legen, um so weniger richten sie ihre Aufmerksamkeit auf
den natürlichen Ausdruck und die Geberden ihrer Mitmenschen. Ich habe oft
bemerkt, dass wenn Personen die keine Kinderliebe haben, um sich bei Eltern
einzuschmeicheln, deren Kinder liebkosen wollen, die Ersteren bestochen werden,
die Letzteren nicht. In solchen Fällen ist ein Zwiespalt im Ausdruck
bemerkbar. Die eine Form ist wahr und nicht ganz zu beherrschen, die andere ist
gezwungen [96/97] und falsch. Ich habe mich in Bezug auf Pathognomie nur auf
Weniges beschränkt, obwohl es ein Gegenstand ist, der ernste Betrachtung
verdient*).
Um auf das Vorhergesagte über besondere Formen des Kopfes
und damit correspondirende vorherrschende Seelenanlagen zurück zu kommen,
so werden Manche vielleicht die Einwendung machen, dass die Erfahrungen, worauf
ich mich berufen habe, nur Coincidenzen darstellen. Sind aber die Coincidenzen -
wenn man sie so nennen will - so äusserst zahlreich und wiederkehrend, und
sowohl negativer wie positiver Natur, dass sie im Ganzen und Grossen betrachtet
als naturgesetzlich erscheinen, so verlieren alle Einwendungen dagegen ihren
Werth, wenn sie sich nicht auf Gegenerfahrungen
*) Es ist sehr zu bedauern, dass Darwin die Beobachtungen Gall's
und seiner Nachfolger ganz ignorirt. In seinem Werke über den Ausdruck der
Empfindungen u. s. w. bemüht er sich sehr, die Erklärung
desselben bei Thieren und Menschen aus fernliegenden Ursprungsursachen
abzuleiten, während er den unmittelbaren Beziehungen des Ausdrucks zum Bau
des Gehirns, als Seelenorgan, keine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Auch sind die
Abbildungen von Menschen-Physiognomien in seinem Werke eher Grimassen als natürliche
Ausdrücke von Empfindungen zu nennen. Er spricht zwar oft vom Gehirn als Sensorium",
ohne jedoch dessen Entwickelungsverhältnisse und die Beziehungen desselben
zu Gemüthsaffecten und ihrem naturgemässen Ausdrucke, im Geringsten zu
beachten. Ferner spricht er von Geisteskräften oder Vermögen, wie z. B.
dem Willen", dem Vermögen oder der Fähigkeit der
Einbildung", des Wunderns" u. s. w. in einem ähnlichen
Sinn wie die blos speculativen Psychologen es thun. [97/98]
gründen. Und solche ist man bisher nicht im Stande gewesen
beizubringen.
Was die Lehre von speciellen Functionen des Gehirns betrifft, so
stimmt sie - ich muss es betonen - mit physiologischen Grundsätzen im
Allgemeinen überein. Wir sehen im Thierreich eine Zunahme von körperlichen
Theilen oder Organen, mehr Differencirung und Specialisirung, je höher die
Thiere in der Scala aufsteigen. Bei den niedrigsten Formen des Thierlebens
werden verschiedene Functionen - Ausscheidung, Athmen, Verdauung und Bewegung -
von einem Organ verrichtet. C. Darwin sagt: Der Naturforscher hält
mit Recht Differencirung und Specialisirung für Beweise der Vervollkommnung".
Wenn nun Alles was über Localisation von Seelenanlagen
gesagt worden, wahr ist, wie kommt es, wird man vielleicht fragen, dass selbst
die Hauptgrundsätze der Phrenologie so wenig Anerkennung finden, dass
Anatomen und Aerzte im Allgemeinen, so wie Denker die vorgeben die Psychologie
naturwissenschaftlich zu behandeln, jener Lehre allen Werth absprechen? Die
Ursachen der Verkennung und Bekämpfung der Phrenologie sind vielfältig.
Ich werde nur einige davon besprechen, die mir als die wichtigsten erscheinen.
Aerzte und Anatomen haben Gall's Erfah-[98/99]rungen für
blos empirisch und werthlos gehalten, weil sie bisher nicht im Stande gewesen
sind, gesonderte Theile (Wülste abgerechnet) auf der Oberfläche der
Gehirnhemisphären zu entdecken. Hierbei haben sie jedoch unbeachtet
gelassen, dass dieser Einwand zum Theil auch auf die Lehren über das
Nervensystem seine Anwendung findet. Es wird z. B. anerkannt, dass Fasern,
die in einer Hülle zusammenlaufen, verschiedene Functionen haben, obwohl
man nicht im Stande ist, Grenzen der verschiedenen Faser-Stränge genau
anzugeben. Und was die Kenntniss der Anatomie und Physiologie des Gehirns
betrifft, so ist dieselbe von Autoritäten als sehr mangelhaft anerkannt
worden, wie folgendes Citat aus dem Werke des Professor Aeby beweisen wird:
Die Leitung von Erregungszuständen im Nervensystem
erfolgt nur im Bereiche geschlossener und nirgends unterbrochener Bahnen; ein
Ausbrechen aus denselben ist Sache der Unmöglichkeit. Es müsste
deshalb die Aufgabe der Anatomie sein, eine jede dieser Bahnen in ihrer Selbständigkeit
sowohl wie auch in ihrer etwaigen Beziehung zu anderen auf das vollständigste
darzulegen; denn so allein liesse sich ein Einblick in den Mechanismus der
ganzen Vorrichtung gewinnen und das Gebiet übersehen, welches für
jeden an bestimmter Stelle [99/100] auftauchenden Reiz zugänglich wäre.
Leider ist dieser Aufgabe gegenüber unser Vermögen ein höchst
beschränktes. Die Erfassung der gröberen Verhältnisse ist
freilich keine allzu schwierige, aber auch für die Gewinnung eines
wirklichen Verständnisses nur wenig lohnende, da die Art und der Grad der
Leistungsfähigkeit eben nicht die äussere Form, sondern nur das innere
Gefüge zu bestimmen vermag. Nach dieser Seite hin bieten nun schon die
peripherischen, dicht verschlungenen Netze der Nervenstämme oft unübersteigliche
Schwierigkeiten, geschweige denn die Centralorgane, deren verworrene Züge
von Zellen und Fasern vollends der Anstrengung spotten, sie in ihren
gegenseitigen Beziehungen zu verfolgen. In den inneren Bau und damit auch in das
wahre Wesen des Nervenapparates leitet deshalb fast ausschliesslich die
Hypothese an der Hand des physiologischen Experimentes. Wer aber weiss, wie
vieldeutig und trügerisch seine Sprache, wenn nicht die Anatomie deren
Grammatik geschrieben, der darf sich nicht wundern über die spärliche
Ausbeute sicherer Erkenntniss, welche sie bis jetzt für die feinere
Anatomie des Nervensystems geliefert"*).
Aus dem Obigen geht klar hervor, dass den
*) Aeby, a. a. O., S. 812. [100/101]
Anatomen Nichts bekannt ist, was gegen die Möglichkeit
einer Localisation von Seelenanlagen im Gehirn spricht. Was nun aber die Möglichkeit,
abgesonderte, organartige Theile auf der Oberfläche des Gehirns zu finden,
an und für sich betrifft, so scheint die Entdeckung eines tüchtigen
englischen Physiologen, des Dr. W. B. Richardson*), diese Frage entschieden zu
haben. Derselbe hat unlängst bei zwei getrockneten Menschen-Gehirnen
gefunden, dass zahlreiche kleine Theile der Windungen durch ein feines Membran
(die
pia mater)
von einander abgesondert sind, so zwar, dass er dieselben
auseinandernehmen und wieder zusammenlegen kann - wie er sich gegen mich ausdrückte
- als wenn sie Stücke eines chinesischen Spielzeuges wären".
Dr. Richardson hat die Güte gehabt, mir einen ziemlich grossen Theil einer
der Gehirnhemisphären zu zeigen, wodurch ich mich von der Wahrheit des
Gesagten überzeugte. Ob die abgesonderten Theile
*) Wie Dr. Richardson über das Gehirn und dessen Functionen
im Allgemeinen denkt, wird aus seinen Worten, wie folgt, klar: Es scheint
mir, als ob das Gehirn nicht aus Theilen desselben Stoffes, die alle in einem
einzigen Organismus verbunden wären, zusammengesetzt sei, sondern dass es
ganz deutlich in einzelne Abtheilungen eingetheilt ist, von denen jede getrennt
von den übrigen ihre besonderen Dienste zu verrichten hat".
(Memoir of Dr. Conolly, by Sir James Clark. M. D. p. 71.) London
1870. [101/102]
mit phrenologischen Organen zusammenstimmen oder nicht, ist vor
der Hand nicht zu ermitteln*).
Noch wichtiger und lehrreicher als die Entdeckung des Dr.
Richardson sind die Experimente des Dr. Ferrier an Thiergehirnen**). Dr. Ferrier
hat in der letzten Zeit schon an Gehirnen von über hundert Thieren
experimentirt.
Seine Verfahrungsweise besteht darin, die Thiere zu
narkotisiren, sodann Theile ihrer Schädel abzuschneiden, und - so lange die
Thiere am Leben und empfindlich dafür bleiben, auf verschiedene der
blossgelegten Stellen ihrer Hirnhemisphären wiederholte elektrische Reizung
wirken zu lassen***). Die
*) Dr. Richardson erzählte mir, dass er die zwei
getrockneten Gehirne von einem Pariser Arzt erhalten hatte. Dieser Arzt, ein
sehr tüchtiger Anatom, übersiedelte während des Krieges nach
London, und als er nach Niederwerfung der Commune-Herrschaft nach Paris zurückkehrte,
schenkte er dem Dr. Richardson die Gehirne. Letzterer konnte mir nicht sagen,
auf welche Weise die Gehirne getrocknet wurden. Das Stück das ich zur
Ansicht bekam, sah ganz anders aus als Gehirnstücke die durch Weingeist
oder Chlorzink verhärtet worden sind. Dr. Richardson hatte die Absicht,
Versuche mit Thiergehirnen anzustellen, um sie wo möglich ähnlich zu
trocknen, wie die von dem Pariser Arzt erhaltenen Menschen-Hirne.
**) Dr. Ferrier sagt übrigens in seiner Abhandlung: Experimental
Researches in Cerebral-Physiology and Pathology" (The West-Riding Lunatic
Asylum, Medical Reports Vol. III, London 1873): Die
nicht-Unempfindlichkeit des Gehirns für jede Art von Reizung wurde bereits
von den beiden deutschen Forschern Fritsch und Hitzig in Reichert und Du
Bois-Reymond's Archiv 1870 nachgewiesen.
***) Und zwar nur durch Faradisation", (kleine
unterbrochene Schläge der Maschine anwendend). [102/103]
Thiere an denen er experimentirte, sind Hühner,
Meerschweine, Kaninchen, Katzen und Hunde gewesen, und bei allen hat er sich bemüht,
analoge Stellen für bestimmte körperliche Bewegungen aufzufinden. In
dem ausführlichen Bericht seiner Experimente scheinen mir die
Beschreibungen derjenigen an Hunden und Katzen die wichtigsten zu sein. Die
pathologische Seite seiner Erfahrungen übergehe ich, und beschränke
mich auf diejenigen seiner Experimente, welche ein allgemeines Interesse haben,
indem sie Centren in den Gehirnhemisphären nachweisen, von wo besondere körperliche
Bewegungen - der Art wie man sie bei den Thieren in ihrem freien, unbeschädigten
Zustand beobachten kann - auszugehen scheinen. Ich theile in Folgendem einige
davon mit.
Professor Ferrier hat gefunden, 1) dass die vorderen
Partien der Cerebral-Hemisphären die Hauptcentren für willkürliche
(
voluntary
) Bewegungen und für die thätige äussere
Manifestation der Intelligenz bilden".
2) Dass die individuellen Gehirnwindungen (
Gyri
) gesonderte und bestimmte Centren bilden, und dass die
verschiedenen Bewegungen der Augenlider, des Gesichts, des Mundes und der Zunge,
des Ohres, des Halses, der Hand, des Fusses und des Schweifes besonders
localisirt sind". [103/104]
3) Dass die Action der Hemisphären kreuzweise
geschieht", d. h. Reizung der Hemisphärentheile auf der einen
Seite des Gehirns bringt Muskelthätigkeit auf der entgegengesetzten Seite
des Körpers zum Vorschein. Eine Ausnahme fand er nur hinsichtlich Bewegungen
des Mundes, der Zunge, und des Halses, die von beiden Hemisphären bilateral
coordinirt sind".
4) Durch wiederholte Experimente auf beiden Hemisphären hat
sich Dr. Ferrier von der Symmetrie der Functionen derselben"
vollkommen überzeugt. Ebenso
5) dass die
Lobi optici
oder
Corpora quadrigemina
nebst dem, dass sie beim Sehen und den Bewegungen der Iris
(Regenbogenhaut) betheiligt sind, Centren für die streckenden Muskeln des
Kopfes, des Rumpfes und der Beine bilden".
6) Dass das Cerebellum das coordinirende Centrum für
die Muskeln des Augapfels bildet", und dass die Erhaltung des körperlichen
Gleichgewichtes von diesem Gehirntheile abhängt".
7) Dass elektrische Stimulation in den Cerebral-Hemisphären,
örtlich oder allgemein, jenen Zustand von Hyperämie erregt, welcher
der normale physiologische Zustand eines thätig-functionirenden Organes ist".
Es würde zu weit führen, alle die besonderen [104/105]
Bewegungen des Körpers, des Gesichts u. s. w. durchzugehen,
welche Dr. Ferrier durch Reizung bestimmter Theile der Gehirn-Windungen
beobachtet hat. Nach der genauen Beschreibung seiner einzelnen Experimente geht
er zu Reflexionen über, von denen ich, da sie in Beziehung zu Seelenthätigkeiten
stehen, einige Auszüge geben werde.
Es hat sich herausgestellt", sagt er, dass die
Bewegungen durch Erregungen individueller Centren - wie sie in den erwähnten
Experimenten vorgenommen wurden - ihrer Natur nach absicht
lich (purposive)
oder ausdrucksvoll
(expressional)
sind, und dass sie sich als solche erweisen, die wir, falls wir
sie unter normalen Verhältnissen ausgeführt sähen, durch
psychologische Analyse, Vorgängen der Vorstellung und des Willens (der
Ideation*) und Volition) zuschreiben würden. Die greifende und
ausschlagende Bewegung der Pfote einer Katze ist nicht ein einfaches
Muskelzusammenziehen (Contraction), sondern eine complicirte und combinirte
Action zahlreicher, alle auf ein Ziel gerichteter Muskeln. Es versteht sich,
dass
*) Ideation" ist das einzige, in Beziehung auf
Seelenthätigkeiten von Dr. Ferrier gebrauchte Wort. Es ist zwar in keinem
englischen Wörterbuche zu finden, aber Dr. Ferrier scheint es im Sinne von
Vorstellungen und mitunter auch von Gemüthsempfindungen zu gebrauchen.
[105/106]
wir keinen andern Maassstab als unser eigenes Bewusstsein haben,
um die Actionen der niederen Thiere zu interpretiren, aber da wir an uns selbst
oder an Anderen solche scheinbar absichtliche Bewegungs-Complexe der Ideation"
und einem Willensimpulse zuschreiben würden, so dürfen wir schliessen,
dass die Centren der Gehirnoberfläche nicht blos motorisch, sondern willkürlich
motorisch sind, und dass sie mit der äusseren Manifestation der Intelligenz
in Zusammenhang stehen."
Es entsteht nun die wichtige Frage: Welches ist die
Beziehung zwischen den Gehirn-Windungen als Bewegungs-Centren und jenen Theilen
der Cerebral-Hemisphären, welche denjenigen geistigen Processen dienen, die
mehr direct mit jenen definitiven Muskelbewegungen in Verbindung stehen? Sind
die Vorstellungs-Centren in denselben Regionen zu finden wo die
correspondirenden Bewegungs-Centren liegen, oder zeigt eine hohe Entwickelung
gewisser Bewegungs-Centren nur eine correspondirende Entwickelung der
Vorstellungs-Centren - aber ohne Localisation - an, die sich äusserlich
durch jene manifestiren?"
Diese Speculationen sind durch die nun ziemlich
festgestellte Thatsache, dass durch zerstörende Läsionen der unteren,
vorderen Gehirn-Windungen [106/107] die Sprachfähigkeit verloren geht, bestätigt*).
Es ist eine wichtige Thatsache, dass die Centren für den Mund und die Zunge
bei Katzen und Hunden in Regionen localisirt sind, welche ich hinsichtlich ihrer
geographischen Position - und sowohl aus anatomischen als physiologischen Gründen
- geneigt bin, für die Homologen der niederen, vorderen Windungen und der
sogenannten «Insel»
(Lobus centralis)
beim Menschen anzuerkennen."
Nach weiteren Reflexionen über Fälle, wo beim Verlust
der Sprache das Auffassungsvermögen für äussere Gegenstände
dennoch vollkommen erhalten bleibt, sagt Ferrier ferner: Ich bin der
Meinung, dass die organischen Centren für das Wortgedächtniss sich in
denselben Windungen befinden, wie jene Centren welche die beim Articuliren
betheiligten Muskeln beherrschen. Wenn dies der Fall ist, so müssten wir
ein Handgedächtniss, ein Gesichts-, Augen- und Ohrgedächtniss haben,
und so können wir mit der Zeit in den Stand gesetzt werden, den organischen
Centren für verschiedene geistige Be-
*) Mehrere Fälle dieser Art sind mir mitgetheilt worden,
wovon ich einen, den mir der verstorbene Hof- und Medicinalrath Dr. Seiler in
Dresden erzählte, erwähnen werde. Ein Oberbibliothekar hatte vor
seinem Tode sein Wortgedächtniss ganz verloren. Bei der Section fand
Hofrath Seiler den Theil des vorderen Lappens, welcher auf der Orbitalplatte
liegt - gerade wo Gall den Sprachsinn localisirte - besonders entartet.
[107/108]
gabungen eine psychologische Bedeutung zu geben, und sie
phrenologisch zu localisiren".
In neuerer Zeit haben englische Aerzte zu zeigen sich bemüht,
dass Aphasia (Verlust der Sprache) auf Gehirn-Hemeplegie zurückzuführen
ist. Einige meinen, dass Sprachverlust von der Lähmung der linken Hemisphäre
abhänge, andere, dass die rechte allein damit zu thun habe. Es ist
erfreulich, dass Dr. Ferrier diesen Controversen ein Ende macht, indem er durch
seine Experimente die Symmetrie der Functionen der beiden Gehirn-Hemisphären"
nachweist, und ferner die Sprachfähigkeit im vorderen Gehirnlappen
localisirt hat. In diesen beiden Hinsichten bestätigt er daher die
Gall'sche Lehre.
Uebrigens ist noch zu bemerken, dass in Fällen von
Gehirn-Hemeplegie, einerlei auf welcher Seite sie bestehe, wo Aerzte den Verlust
des Wortgedächtnisses constatirt haben, - ein Verlust im Seelenleben, der
nebenbei gesagt, bei einem Kranken am leichtesten zu bemerken ist -
wahrscheinlich auch noch andere Seelenfähigkeiten beeinträchtigt sein
werden, obwohl eine solche Thatsache für den Arzt am Krankenbette nicht so
leicht wahrzunehmen sein wird. Sobald Aerzte erst wissen, worauf sie, in
Beziehung auf die Localisation der Seelenthätigkeiten, ihr Augenmerk zu
richten haben, [108/109] werden gewiss pathologische Befunde bei Hirnsectionen
psychologisch-lehrreich werden. Ich bin einigemal zugegen gewesen, als
Gehirnsectionen vorgenommen und Theile der Windungen degenerirt gefunden wurden.
Diese Befunde wurden jedoch von den anwesenden Aerzten nicht als in Beziehung
zum Seelenleben stehend, aufgefasst. Nach gehöriger Erkundigung habe ich
indessen erfahren, dass Veränderungen im Seelenleben der Kranken schon seit
einiger Zeit vor sich gegangen waren, ganz in Uebereinstimmung mit den localen
pathologischen Erscheinungen.
Um auf die Experimente und Schlussfolgerungen des Professor
Ferrier zurück zu kommen, so muss man sie in der That als sehr wichtig
anerkennen. Die Anhänger der Gall'schen Lehre müssen sich über
die Resultate dieser Experimente freuen, wenn sie auch das Martern von Thieren,
das nun wahrscheinlich zur Mode werden wird, bedauern sollten. Nicht allein
sehen sie durch dieselben die Hauptgrundsätze jener Lehre bestätigt,
sondern mehrere Erfahrungen des Dr. Ferrier stimmen mit denen Gall's über
die Localisation von Seelenfähigkeiten an lebenden Thieren, so wie an
Menschen, überein. Z. B. hat Dr. Ferrier, wie gesagt, den Sprachsinn"
in einer supra-orbitalen Windung localisirt, und seine Erfahrung beim Reizen des
Keil-Schläfenbein-[109/110]Lappens bei Katzen, dass nämlich die Thiere
zornig um sich bissen und ihre eignen Beine benagten", scheint - den
Abbildungen in Dr. Ferrier's Abhandlung zufolge - nahezu, wenn nicht genau, mit
der Lage eines Zerstörungssinnes", wie sie von Gall angegeben
wurde, so wie mit der Function eines solchen Sinnes übereinzustimmen. Auch
glaube ich in den Beschreibungen von Dr. Ferrier's Experimenten noch andere Bestätigungen
der Gall'schen Lehre gefunden zu haben.
Nicht unwichtig ist ebenfalls, dass Dr. Ferrier die Hauptcentren
der willkürlichen Bewegung und der thätigen äusseren
Manifestation der Intelligenz in den vorderen Gehirnpartien gefunden hat -
gerade wie Gall und seine Nachfolger gelehrt haben. Auch dass von jedem Theile
der Windungen bestimmte Muskelbewegungen ausgehen, hat seine Wichtigkeit. In dem
Wenigen was ich über Pathognomie gesagt habe, erwähnte ich soeben,
dass jede Seelenanlage, wenn in starker Thätigkeit - und nicht sehr durch
den Verstand controllirt - bestimmte charakteristische Bewegungen zum Vorschein
bringt. In Beziehung auf diesen Gegenstand sagt Dr. Ferrier: Ich bin
geneigt zu glauben, dass die innige Verbindung, die zwischen Ideation
(Vorstellung) und dem unbewussten äusseren Ausdruck derselben in
Muskelcentren besteht, einen [110/111] starken Beweis von der engen localen
Association der ideationellen und willkürlichen Bewegungscentren liefert".
Ich werde mich nun bei den Experimenten des Dr. Ferrier nicht länger
aufhalten. Er selbst sagt, dass die Einzelheiten derselben viele weitere
Untersuchungen erfordern, doch", fügt er hinzu, ist eine neue
Bahn gebrochen, und ein neues Licht auf dunkle Punkte in Cerebralphysiologie und
Pathologie geworfen worden".
Jedenfalls sind die Ergebnisse von Dr. Ferrier's Experimenten
viel werthvoller als jene von Vivisectionen oder von anderen zerstörenden
Methoden, mittelst welcher an Gehirnen experimentirt wird. Ich beziehe mich hier
insbesondere auf die Methode des Professor Nothnagel in Freiburg, der kleine Löcher
in die Schädel von Hunden und Kaninchen einbohrt, und zerstörende
Chromsäure auf die darunter liegenden Hirntheile eintropft*). Aber auch er
hat gefunden, dass die vorderen Partien des Gehirns Einfluss auf motorische Kräfte
haben. Die zuletzt erwähnten Methoden des Experimentirens liefern nur
negative Resultate, denn was das Seelenleben der Thiere betrifft, so wird man
beim Abschneiden oder Zerstören der Hemi-
*) Virchow's Archiv", Bd. VII, Heft 2. [111/112]
sphärentheile nicht im Stande sein positiv zu ermitteln,
welche Instincte verloren gegangen sind. Z. B. wird man, wenn man bei einem
Hunde gewisse Theile seines Hirns abschneidet oder zerstört, nicht in
Erfahrung bringen können, ob dem Thiere dadurch sein Instinct zum Jagen,
oder der einen Herrn zu lieben, verloren gegangen ist. Bei Thieren überhaupt
sind Seelenthätigkeiten nur dann zu beobachten, wenn sie sich unbeschädigt,
im freien Zustand, und im Umgang mit ihres Gleichen befinden.
Aber selbst wenn vieles zum Seelenleben der Thiere Gehörendes
durch Experimente erforscht werden kann, so wird dadurch eine Kenntniss der
Localisation der Seelenthätigkeiten des Menschen nicht wesentlich befördert.
Der Mensch besitzt ja viele Seeleneigenschaften, die selbst bei den höchststehenden
Thieren nie zum Vorschein kommen, und deshalb wird die Gall'sche Methode der
Beobachtung an lebenden Menschen nicht zu entbehren sein.
Was nun die Ursachen betrifft, aus welchen die Lehre Gall's
nicht allein verkannt, sondern auch so häufig bekämpft wird, so muss
ich die Thatsache hervorheben, dass bis in die neueste Zeit, und zum Theil noch
jetzt, Physiologen und Aerzte zu sehr den psychologischen Lehren philosophischer
Schulen anhängen, um eine Localisation von Seelen-[112/113]anlagen im
Gehirn - eine von den Geisteskräften der Philosophen so grundverschiedene
Annahme - für möglich zu halten.
Dann ist auch die phrenologische Benennung angeborener Anlagen
oft sehr unklar und wenig passend. Solche Wörter wie Idealität",
Witz", Wundersinn", Einheitstrieb" u. s. w.
sind psychologisch betrachtet, nicht dazu geeignet, bestimmte und
allgemein-menschliche Anlagen zu bezeichnen. Auch ist die Classification von
Grundanlagen, die nicht zur eigentlichen Intelligenz gehören, als Gefühle",
und die Eintheilung derselben in Genus I, Triebe" und Genus II,
Empfindungen", nicht zu billigen. Das Wort Trieb" könnte
wohl für alle Anlagen, wenn sie in grösster Thätigkeit sind,
gebraucht werden, während vielleicht ihre normalruhige Thätigkeit
besser als Empfindung bezeichnet wird. Die jetzige Terminologie und
Classification der Phrenologen rührt von Spurzheim und Combe her. Gall
selbst nannte alle Grundanlagen, deren Centren oder Organe im Gehirn er entdeckt
zu haben glaubte, Instincte oder Sinne; z. B. sprach er von einem Instinct
zu tödten, von einem Instinct zur Schlauheit, vom Wort-, Ton- und
Farbensinne u. s. w.
Nicht allein hat die Terminologie der Phrenologie zu Missverständnissen
geführt, sondern die [113/114] Art und Weise, wie Manche von den Anlagen
reden als wenn sie selbstständige Kräfte wären, die nach Belieben
Handlungen bestimmen, hat bei Vielen die über das Seelenleben nachdenken,
Anstoss erregt. Selbst wo hervorstechende Neigungen zu bemerken sind, sieht man
doch die combinirten Thätigkeitsäusserungen gar vieler Fähigkeiten
bei allen menschlichen Handlungen mitwirken.
Ferner sprechen prakticirende Phrenologen entweder zu viel und
oft Allgemeines, oder aber in zu positiver Weise von den Dispositionen, Capacitäten
u. s. w. von Personen deren Köpfe sie untersuchen. Sehr
hervorstechende Anlagen sind nicht oft zu bemerken, und die Köpfe von sehr
gewöhnlichen Menschen sind mehr in negativer als positiver Hinsicht
lehrreich, da die Denk- und Handlungsweise solcher Menschen überwiegend das
Resultat äusserer Verhältnisse ist. Es giebt viele Fälle, wo es
schwierig, und nur bei gehöriger Einschränkung möglich wird, die
phrenologischen Grundsätze anzuwenden. Es ist daher etwas Anderes, den
Hauptgrundsatz der Phrenologie - nämlich den, dass die relative Grösse
der Kopftheile einen Maassstab für die Beurtheilung der relativen Stärke
der angeborenen Anlagen abgiebt - im Ganzen und Allgemeinen auf dem grossen
Gebiete des Lebens [114/115] nachzuweisen, oder aber diese Grundlehre der
Phrenologie in allen Fällen anzuwenden. Ein Anhänger der Gall'schen
Lehre, der verstorbene Dr. Elliotson, hat als Ergebniss seiner Erfahrungen
folgende Grundsätze aufgestellt: 1) In Fällen wo grosse Talente oder
ganz hervorstechende Charaktereigenschaften zu bemerken sind, da wird auch stets
eine correspondirende Entwickelungsform des Kopfes gefunden. 2) Wo immer eine
mangelhafte Entwickelung besonderer Theile des Kopfes vorhanden ist, da wird
sich auch jedesmal herausstellen, dass die Seelenanlagen die dort localisirt
sein sollten, beinahe fehlen, und wenig oder keinen Einfluss auf das Seelenleben
der Individuen ausüben. Diese negativen Beweise der Localisation besonderer
Anlagen habe auch ich, wie schon bemerkt, sehr lehrreich gefunden.
Das
Odium theologicum
unter den Gründen der Opposition gegen die Gall'sche Lehre
aufzuzählen, ist jetzt kaum mehr an der Zeit, obwohl es in dieser Hinsicht
nachtheilig gewirkt hat. Indess ist die Richtung unseres Zeitgeistes nicht mehr
eine sogenannte spiritualistische zu nennen, und der Einfluss der strengen
Naturforschung auf das allgemeine Leben macht sich unverkennbar immer mehr
geltend. [115/116]
Ich habe schon erwähnt, dass Dr. Gall die Lagen von 27
Grundanlagen im Kopfe entdeckt zu haben glaubte. Zu diesen hat sein Schüler,
Dr. Spurzheim, noch 8 Organe hinzugefügt, die er gefunden zu haben meinte.
Auf den Musterköpfen, die er und Combe eingeführt haben, ist die ganze
Oberfläche in Organe eingetheilt. Diese Mappirung von Köpfen ist sehr
zu tadeln. Nicht allein ist, wie gesagt, die ganze sichtbare Oberfläche von
besonderen Organen ausgefüllt, sondern die grösste Willkür
scheint in Betreff der Grössen und Formen derselben zu herrschen. Dr. Gall
ist anders verfahren. Er liess mehrere Theile der Schädeloberfläche -
in Betreff deren seine Beobachtungen ihm keine bestimmten Resultate geliefert
hatten - ganz unbezeichnet, und wo er die Stellen von Grundanlagen angab, da
begnügte er sich nur kleine Zirkel um Centralpunkte zu zeichnen.
Die gewöhnliche Ansicht, dass die Nachfolger Gall's Köpfe
blos untersuchen, um ganz kleine Erhabenheiten, sogenannte Buckel",
aufzufinden, hat auch dazu beigetragen, die Lehre von der Localisation von
Grundanlagen in Misscredit zu bringen, wenn nicht in ein lächerliches Licht
zu stellen. Aber bei der Methode der Beobachtung des Dr. Gall ist die Berücksichtigung
kleiner Erhabenheiten am [116/117] Schädel, als Mittel zur Seelenkenntniss,
ausgeschlossen worden *).
Ich habe mich vor Allem bemüht, die Aufmerksamkeit auf
auffallende, leicht beobachtbare Formen von Köpfen, wie sie durch die
verschiedenen Entwickelungsrichtungen der Gehirnhemisphären hervorgebracht
werden, zu lenken. Dabei erkenne ich Kopfregionen und mehrere Eintheilungen
derselben als die Sitze besonderer Anlagen an. In Betreff dieser jedoch bin ich
nicht im Stande absolute Grenzen derselben anzugeben. Die empirische Kenntniss
der Localisation der Seelenanlagen ist in der That nur eine approximative und
abschätzende zu nennen, ähnlich dem Verfahren von Aerzten, wenn sie
die Grösse von inneren Organen des Körpers schätzen wollten, die
sie weder wägen noch messen können.
In Amerika hat man viele der von Dr. Spurzheim aufgezeichneten
Organe weiter eingetheilt, und eine Menge neuer Seelenanlagen angenommen, welche
auf Musterköpfe eingezeichnet worden sind. Ob aber hinreichende
Beobachtungen und wahre psychologische Einsicht die amerikanischen Phrenologen
bei diesem Verfahren geleitet haben, muss ich
*) Jamais je n'ai prétendu distinguer des
modifications peu prononcées des formes du crâne, ou des légères
nuances du caractère." Gall, Sur les Fonctions du Cerveau",
Tome III, p. 41. [117/118]
sehr bezweifeln. Nicht dass ich aus Princip gegen eine
Ausdehnung der Localisation von Seelenanlagen Etwas[!] einzuwenden hätte;
denn bei der grossen Mannigfaltigkeit der angeborenen Neigungen, Befähigungen
u. s. w. des Menschen, kann vielleicht das Differenziren und
Specialisiren im Seelenleben und eine übereinstimmende Localisation kleiner
Centren von Gehirn-Fibern- und Zellen-Complexen sich viel weiter erstrecken, als
irgend Jemand bisher vermuthet hat; aber ganz kleine Theile der Gehirn-Hemisphären
vereinzelt betrachtet, werden gewiss nicht im Stande sein, auf die Form des
Kopfes viel Einfluss zu üben. Wenn daher die psychologischen Erfahrungen
und Gründe der Amerikaner für die Annahme neuer Grundanlagen Beachtung
verdienen mögen, so kann ich doch ihrer Organologie keinen Glauben
schenken, wenn sie auf sehr kleine morphologische Verhältnisse gegründet
ist.
Kopfregionen oder Gruppen von correlativen Anlagen - ich brauche
diesen Ausdruck in Beziehung auf die historische Entwickelung und den analogen
Charakter von Seelenfähigkeiten - sind, wie schon erwähnt, die
Hauptresultate meiner vieljährigen Beobachtungen, durch welche ich das
Princip der Gall'schen Lehre auf die Probe zu stellen suchte. Es ist meine volle
Ueberzeugung, dass Jemand, der umsichtig und vorurtheilsfrei die [118/119]
Correlation zwischen hervorstechenden Anlagen, Fähigkeiten u. s. w.
und besonderen Kopfformationen wie ich sie angeführt habe, beobachten will
sich bald von der Thatsache überzeugen wird, dass 1) das Seelenleben eine
materielle Grundlage hat; 2) dass verschiedene Kategorien der Fähigkeiten
in verschiedenen Theilen des Kopfes localisirt sind.
Gegenwärtig kann die sogenannte Phrenologie weder ein
vollständiges Schema der Gehirnfunctionen, noch ein vollendetes System der
Phänomene des Seelenlebens darbieten. Indem sie aber in vielen Beziehungen
den Zusammenhang der menschlichen Seele mit der der Thiere nachweist, indem sie
ferner die primären, vergleichsweise einfachen Anlagen von den secundären
- complicirter, intellectueller und moralischer Natur - unterscheiden hilft,
zeigt sie die wahre Methode zur Erforschung des Seelenlebens an, und giebt uns
wichtige Standpunkte für weitere Untersuchungen. Auch muss die objective
Methode der Beobachtung dazu beitragen, die Lust zu subjectiven Speculationen
und zur Systemmacherei - wozu abstracte Denker so geneigt sind - einzuschränken.
Sind daher auch Lücken und Fehler in der Gall'schen Lehre nachzuweisen, so
wird es dennoch nicht wohlgethan sein, die breite Basis von Wahrheit, die darin
liegt, [119/120] noch länger zu ignoriren, wie dies so häufig
geschieht, und zwar, wie mir scheint, hauptsächlich aus dem Grunde, weil
einige prakticirende Phrenologen Vorurtheile gegen die Gall'sche Lehre erregt
haben.
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