PHILOSOPHISCHE VORTRÄGE
VERÖFFENTLICHT VON DER
KANT-GESELLSCHAFT.
UNTER MITWIRKUNG VON
H. VAIHINGER
UND
M. FRISCHEISEN-KÖHLER
HERAUSGEGEBEN VON
ARTHUR LIEBERT.
Nr.
18.
Durch schwere Krankheit war Adolf Lasson lange verhindert
gewesen, den von ihm am 11. April 1916 in der Berliner Abteilung der
Kant-Gesellschaft gehaltenen Vortrag über den Zufall für den Druck
vorzubereiten, Während des Novembers 1917 wurde es ihm möglich, ihn in
erweiterter Form zu diktieren; eigenes längeres Schreiben war ihm durch die
Schwäche des Augenlichtes versagt. Vor dem Drucke des Manuskripts ereilte
ihn der Tod. Dem Unterzeichneten hat es obgelegen, die Korrektur zu lesen und
nach den Angaben des Entschlafenen das Inhaltsverzeichnis beizufügen.
Adolf Lasson hat sich über den Zufall schon einmal in einer
Diskussionsrede öffentlich geäußert (Philos. Vorträge,
herausg. von der Philos. Gesellsch. in Berlin, N. F., 1887). Diesen
gelegentlichen witzsprühenden Ausführungen folgt hier die zwar knappe,
aber doch systematisch durchgearbeitete zusammenfassende Darstellung. Es ist ein
merkwürdiger Zufall, daß seine letzte wissenschaftliche Arbeit diesem
Gegenstande gegolten hat, der ihm stets besonders am Herzen lag, weil er in
seiner Behandlung den Beweis geliefert sah, daß der von ihm verfochtene
Idealismus dem tatsächlichen Befunde der Wirklichkeit mehr gerecht werde
als jede sich empirisch und realistisch nennende Denkweise. Möge seine
Deutung des Zufalls denen, die den schmerzlichen, aber unvermeidlichen Zufall
seines Todes beklagen, den Trost der Erhebung zu dem ewigen Sinn und der hohen
Vernünftigkeit alles Geschehens gewähren.
Berlin NO 43, d. 17. Januar 1918.
Georg Lasson.
[3/4]
Seite
Vorbemerkung1-2
I. Arten des Grundes2-13
II. Begriffe der Modalität14-20
III. Das Spiel des Zufalls20-30
IV. Die geistige Ordnung30-37
V. Die Dienstbarkeit des Zufalls37-44
VI. Vernunft und Freiheit44-47
VII. Die Harmonie47-52
VIII. Allgemeinheit und Einzelheit52-59
IX. Das Universum als lebendige Einheit.59-68
[4/5]
V
om Zufall denken und sprechen die Menschen im allgemeinen nicht
so, wie es angemessen wäre. Und zwar ist es eine dreifache Beziehung, in
der ihre Auffassung dem Gegenstande nicht Genüge leistet. Zunächst
machen sie sich Wesen und Begriff des Zufalls nicht genügend klar. Sodann
beachten sie nicht die Unterschiede, die am umfassenden Begriff des Zufalls
hervortreten und die Zufälligkeit in Arten gliedern. Und endlich ermessen
sie nicht die entscheidende Bedeutung, die der Zufall im Zusammenhange alles
dessen was ist, und dessen, was geschieht, für das sinnliche wie für
das geistige Universum besitzt und immer wieder zur Geltung bringt. In all
diesen drei Beziehungen wollen wir im Folgenden versuchen, zu größerer
Klarheit und Bestimmtheit zu gelangen, ohne indessen unsern Gang an diese
Aufeinanderfolge ängstlich zu binden. Ein minder strenger Gang scheint dem
Gegenstande sich anzupassen, und nichts hindert, das Ziel auf bequemerem Wege zu
erreichen. Bei der großen Bedeutung des Zufalls für alles Menschliche
wie für alles Äußere ist es natürlich, daß sehr viele
ausdrücklich oder bei Gelegenheit über den Zufall gesprochen haben.
Wir werden uns auf eine Bekämpfung fremder Auslassungen nicht einlassen,
sondern den Gegenstand, wie wir es vermögen, behandeln, als ob wir zuerst über
ihn Licht zu verbreiten die Aufgabe übernommen hätten.
Es ist kein Zufall, daß ich hier vor Ihnen rede. Es war
lange das Ziel meines Ehrgeizes, an dieser Stelle zu einer andächtigen und
verständnisvollen Versammlung zu sprechen, und ich bin dankbar, daß
mir dieser Wunsch freundlich erfüllt worden ist. Ebensowenig ist es ein
Zufall, daß ich über den Zufall zu Ihnen spreche. Es ist
neuer-[5/6]dings wieder der Versuch gemacht worden, dem Zufall irgendwie durch
Berechnung von Wahrscheinlichkeiten eine Art von Beleuchtung abzugewinnen. Man
nennt das auch wohl naturwissenschaftliches Verfahren. Aber mit Natur hat es
schlechterdings gar nichts zu tun, nur mit Mathematik. Zu diesem Zwecke wählt
man sich gewisse Glücksspiele oder das Ziehen von Gegenständen
verschiedener Art aus einer Urne als Beispiele der Zufälligkeit aus. Aber
diese Beispiele können nicht als echte Vertreter reiner Zufälligkeit
dienen. Solange es sich um eine bestimmte Anzahl von Elementen, um eine
bestimmte Beschaffenheit von Gegenständen und um bestimmte Regeln in der
Abwechslung handelt, ist die Zufälligkeit nicht in ihrem vollen Sinne
vorhanden. Bei den Glücksspielen, auch abgesehen davon, daß meistens
auf eine Art von Geschicklichkeit und Berechnung des Spielenden gezählt
wird, ist die Vielheit der möglichen Abwechslungen, die sich ergeben, sehr
groß; aber sie ist nicht im vollen Sinne des Worts unendlich. Wirklichen
Zufall haben wir erst, wo die durcheinander wirbelnden Elemente an Zahl völlig
unbestimmbar sind und ebenso unbestimmbar der Zahl nach die etwaigen Gesetze und
Regeln, die das Ergebnis der durcheinander wirbelnden Bewegungen zur Folge
haben.
Wir wollen versuchen, uns zunächst über einige
grundlegende Gedanken miteinander zu verständigen, um allmählich der
Sache näher zu kommen.
Zufällig nennen wir etwas, was ist, und was doch ebensowohl
nicht sein könnte. Zufällig ist gleicherweise die Beschaffenheit eines
Gegenstandes, der ebensowohl auch anders sein könnte, und gleicherweise ein
Ereignis, das ebensowohl auch hätte ausbleiben können. Der Gegenstand,
die Beschaffenheit, das Ereignis ist wirklich da; es war also möglich, und
unter den vielen Möglichkeiten, die hätten wirklich werden können,
ist diese eine zur Verwirklichung gelangt. Ist [6/7] dies der Charakter der Zufälligkeit,
so ist natürlich die Ansicht völlig ausgeschlossen, daß das Zufällige
ein Grundloses sei. Auch das Zufällige hat seinen Grund.
In der Welt, in der wir leben und. die der Gegenstand unseres
wissenschaftlichen Nachdenkens ist, kann es nichts geben, was schlechthin
vereinzelt und ohne Verbindung mit anderem wäre. Jegliches ist von anderem
verschieden und von ihm getrennt, aber in dieser seiner Eigenheit und Trennung
bleibt es mit anderem verbunden. Dies Verhältnis denken wir als das Verhältnis
von Grund und Folge. Jegliches, was wirklich ist, ist Folge eines Grundes und
selbst wieder Grund einer Folge. Auf diese Weise zieht sich eine Verbindung
durch alle Einzelheiten, wie sie in der Welt, die uns umgibt, uns verwirklicht
entgegentreten, und durch diese Beziehung von Grund und Folge zwischen allen
ihren Einzelheiten bildet die Welt, die sinnliche und die geistige, ein
einheitliches Universum. Zu diesem gehört alles, was ist, jeder Gegenstand,
jede Beschaffenheit eines Gegenstandes, jedes Geschehen und jedes Ereignis als
integrierender Bestandteil.
Es wird gut sein, gleich an dieser Stelle uns über einige
grundlegende Überzeugungen zu verständigen, die für das Folgende
von entscheidender Bedeutung sind. Es gibt Wissenschaft und Erkenntnis der
Gegenstände. Der Satz ist durch sich selber klar und unwiderleglich. Denn gäbe
es keine Wissenschaft und keine Wahrheit, so wäre es auch nicht wahr, daß
es keine Wissenschaft und keine Wahrheit gibt. Gibt es aber Wissenschaft und
Wahrheit, so ist diese Welt, die Gegenstand unseres wissenschaftlichen
Nachdenkens ist, aufgebaut auf der Grundlage der Stammbegriffe unseres
menschlichen Verstandes. Und indem wir die Erscheinungen, die die Welt bilden,
mit unserem Erkenntnisvermögen uns zum Verständnis zu bringen suchen,
zeigen wir in diesen Erscheinungen eben diese Begriffe, begrifflichen Zusammenhänge
und Gesetze auf, die das unveräußerliche Grundwesen unseres Geistes
ausmachen. Es ist eine und dieselbe Vernunft, die unserem Geiste inne-[7/8]wohnt
und in unserem Denken wirksam ist, die auch in allen Erscheinungen des
sinnlichen und geistigen Universums unserem wissenschaftlichen Nachdenken sich
zur Erscheinung bringt. Nur in diesem Sinne kann von Wissenschaft, Erkenntnis
und Wahrheit die Rede sein. Nichts in der uns umgebenden Welt hat die Macht,
sich der Nachforschung des wissenschaftlichen Denkens zu entziehen; denn es ist
von derselben Vernunft bestimmt, die auch in unserem Denken tätig ist. In
diesem Kreise wird es unnötig sein, sich dafür auf den ehrwürdigen
Namen Immanuel Kants zu berufen. Entzieht sich der strengen Folgerichtigkeit des
Denkens keine Erscheinung dieser Welt, die uns umgibt, so ist auch der Zufall
von der Durchdringbarkeit durch das wissenschaftliche Nachdenken nicht
ausgeschlossen. Der Zufall insbesondere steht unter dem Gesetze des
Zusammenhanges von Grund und Folge.
Wo von Grund und Folge die Rede ist, da handelt es sich um zwei
getrennte, ungleiche Gegenstände, zwischen denen ein Gemeinsames, was in
beiden erhalten geblieben ist, die Verbindung bildet. Die Lehre von diesem Verhältnis
ist noch wenig ausgebildet, und die Begriffe, die man damit verbindet, sind
meistens sehr unbestimmt. Wir wollen darüber nur in aller Kürze
Folgendes bemerken. Das Verhältnis von Grund und Folge zeigt uns in seinem
einfachen Begriffe eine Vielheit von Unterschieden, die zugleich
aufeinanderfolgende Stufen bezeichnen. jede niedere Stufe weist auf die höhere
hin und ist in dieser mitenthalten. Alle diese Stufen zusammen finden in einer höchsten
ihren Abschluß und bilden dadurch ein in sich geschlossenes Ganzes.
Dem Gedankengange des gemeinen Bewußtseins am nächsten
liegt die niederste und abstrakteste Form dieses Verhältnisses. Ihr Wesen
besteht darin, daß Grund und Folge, beide von äußerer
dinglicher Art gedacht werden, räumliches Dasein und zeitliche Bewegung,
und daß das Verhältnis von Grund und Folge nicht als aus inneren Kräften
hervorgehend gedacht wird, sondern als auf äußerem [8/9] Anstoß
beruhend. Beachtet wird dabei nicht sowohl die Verschiedenheit des Grundes von
der Folge, als vielmehr das, was sich in beiden als das Gemeinsame erhält.
Es 'bleibt das Quantum in dem Wechsel der Form. Das Quantum einerseits der
Substanz, die als von dinglicher Art, als Materie vorgestellt wird, und zweitens
das Quantum der Energie als der Summe der in Spannung befindlichen und der in
tatsächlicher Arbeit sich äußernden Kräfte. Wir wollen dies
Verhältnis, das in der mechanistischen Ansicht als die einzige und
ausschließliche gültige Form des Verhältnisses von Grund und
Folge gilt, als das der Verursachung bezeichnen, und wir gebrauchen den Ausdruck
Ursache und Wirkung ausdrücklich nur für dieses rein äußerliche,
mechanische Verhältnis.
Würde dieses mechanische Verhältnis allein in der Welt
bestehen, so würde eigentlich in der Welt nichts sich ereignen und keine
Verschiedenheit zur Erscheinung kommen können. Das Quantum der Substanz und
das Quantum der Energie, beide erhalten sich. Wie aus dieser Erhaltung die
Verschiedenheit des Geschehens hervorgeht, bleibt unerklärt und wird nicht
einmal zum Gegenstande der Untersuchung gemacht. Aber Grund und Folge sind ja
getrennt, sie sind der Qualität nach verschieden, und gerade in dieser
Verschiedenheit der Qualitäten liegt das eigentliche Geschehen. Es erzeugt
sich immer wieder Schall, Wärme, Licht und Farbe, alles dies mit der Fülle
seiner Unterschiede. Soll die Welt verstanden werden, so bedarf es also für
das Verhältnis von Ursache und Wirkung einer Ergänzung; eben dies, daß
die Qual[i]täten sich stets erneuern und mit ihren Unterschieden [i]m
wechselnden Geschehen erhalten bleiben, ist selbst weder Folge und hat seinen
Grund. Dieses Verhältnis von Grund und Folge aber trägt einen
wesentlich anderen Charakter als das rein mechanische der Verursachung.
Nicht bloß das Quantum der Substanz und das Quantum der
Energie erhält sich; es erhalten sich auch die Qualitäten der Dinge,
und dazu reicht als Erklärung die [9/10] bloß äußerliche
dingliche, räumlich-zeitliche Form der Beziehung von Grund und Folge nicht
aus. Vielmehr die Qualitäten erneuern sich immer wieder vermöge
innerer, in den Dingen selber liegender Kräfte und Anlagen. Dieses Verhältnis
von Grund und Folge, wie es jeder bestimmten Form zugrunde liegt, die uns als
bleibende in der Welt entgegentritt, und wie es uns als unsere eigene Empfindung
am unmittelbarsten zum Bewußtsein kommt, bezeichnen wir als Dependenz der
Form.
Unsere Empfindung, die uns die bleibenden Qualitäten der
Dinge erschließt, deutet auf die weitere Erscheinung, die das ganze
Weltall durchzieht, auf das allgemein verbreitete Leben. Wir selber, die
Denkenden, wir leben, und wohin wir schauen, treffen wir auf fremdes Leben. Und
hier wieder erhalten sich die Grundformen aller Lebendigkeit in dem ungeheuren
Wechsel aller Erscheinungen mit dem Charakter der Beständigkeit, ja der
Ewigkeit. Das Lebendige aber ist geschlossene Gestalt, stets sich erneuernde
Einheit, die ihr Maß und ihr Gesetz in sich selber trägt. Im
Lebendigen, Organischen ist jeder kleinste Teil Folge aller anderen Teile und
Grund dieser Teile; das Ganze ist der Grund, aus dem die einzelnen Teile mit
ihrem Aufbau, ihrer Eigentümlichkeit und Wirksamkeit sich als Folge
ergeben, und zugleich besteht das Ganze durch das Zusammenwirken aller einzelnen
Teile. Für diese höchst eigenartige Erscheinung bedarf es eines neuen
Verhältnisses von Grund und Folge. Wir wollen es als psychische Dependenz
bezeichnen.
Mit dem Leben ist aber weiter die Innerlichkeit des Bewußtseins
und des Tätigseins verbunden, welches in den verschiedenen Graden von
Dumpfheit bis zur Klarheit aufsteigend sich vollendet, und diese verschiedenen
Grade nehmen wir in uns selber wahr, wie wir sie außer uns beobachten. Wir
erheben uns zu dem tätigen Denken und zu dem denkenden Wollen, und unter
dem, was wir von uns wissen, ist eben dies das erste Tatsächliche, daß
wir in unserem Denken und Wollen uns durch Freiheit bestimmen. [10/11] Auch
diese Freiheit aber hat ihren Grund zunächst in unserer Innerlichkeit und
ergibt eine neue und eigentümliche Form des Verhältnisses von Grund
und Folge. Wir nennen dieses Verhältnis die Dependenz der Freiheit, wo, die
inneren Motive die Gründe, und das wirkliche Wollen, das Tätigwerden,
die Folge darstellt.
Alle diese aufgezählten Arten des Verhältnisses von
Grund und Folge haben das gemeinsame, daß sie Gründe eines Geschehens
bezeichnen. Aber eben dieses Geschehen trägt in sich bleibende Formen mit
dem Charakter der Ewigkeit, und diese Formen werden selber Gründe einer
immer gleichen Reihe von Bestimmungen, die erst das Wirkliche wahrhaft
begreiflich machen. Von diesen Formen sind die ersten diejenigen, die noch
irgendwie auf das dingliche Dasein, auf Raum, Zeit und Bewegung als ihr Gebiet
hinweisen. So erhalten wir die mathematische Dependenz: die Formen der
Ausdehnung, der Vielheit, der Bewegung als die Gründe aller einzelnen
Bestimmungen von ewigem Charakter, die gewissermaßen den Rahmen bilden,
innerhalb dessen alle Erscheinungen der gegebenen Welt sich abspielen. Diese
ewigen mathematischen Formen sind die Gründe für alle diese
Unendlichkeit von Folgerungen, die die mathematische Wissenschaft vermittelst
der konstruktiven Tätigkeit des Denkens aus dem anschauenden Vermögen
des Geistes ableitet und zu einem System der Wissenschaft in immer weiterer
Verallgemeinerung fortschreitend auszubauen trachtet.
Indessen, eben diese mathematischen Formen mit dem Charakter der
Ewigkeit sind doch nur ein Reich der Schatten. Sie sind an der Wirklichkeit,
nicht selber volle Wirklichkeit, ein Gebiet der Abstraktion, wobei von der
inhaltlichen Seite des Wirklichen abgesehen wird. Sie verlangen zu ihrer eigenen
Verwirklichung das Reich der Begriffe, der bleibenden allgemeinen Mächte,
die die sinnliche und die geistige Welt gestalten und beherrschen, die, selber
unveränderlich, alle Veränderung, die sie innerhalb ihrer Grenzen
zulassen, nach festem Maß einschränken und innerhalb der [11/12]
gedanklichen Schranken ihres eigenen Wesens zügeln und bestimmen. So
gestalten sich die weltbeherrschenden Begriffe zu Ideen um, und zu dem Gebiete
der begrifflichen Dependenz gesellt sich abschließend die Dependenz der
Idee. Die großen geistigen Mächte, die das geistige Universum
beherrschen, die Ideen, erweisen sich so als die einzelnen obersten Herrscher im
Gebiete der geistigen Wirklichkeit. Die Idee des Rechts, der Sprache, der
Religion, der Kunst, der Wissenschaft, um nur diese zu nennen, jede übt in
ihrer Selbständigkeit und doch in enger Vereinigung mit den anderen ihre
Macht der Gestaltung alles dessen, was uns als geschichtliche Entwicklung in dem
Leben der Menschheit entgegentritt. Überall und zu allen Zeiten ist es die
Macht der Idee, die die menschlichen Verhältnisse gestaltet und den Gang
der Menschheit zum Ziele führt.
Wir haben sieben verschiedene Arten des Verhältnisses von
Grund und Folge aufgezählt. Es ist durchaus nötig, sie
auseinanderzuhalten; keine läßt sich ohne weiteres auf die anderen
zurückführen; jede folgende bedeutet eine Steigerung der früheren
auf neuer Grundlage. Aber trennen lassen sie sich nicht, sie gehören aufs
engste zusammen und bilden die Stufen und Glieder einer alle umfassenden
Einheit. Das allumfassende Gewebe der Wirklichkeit mit den wesentlichen
Unterschieden und Stufen, die sie umschließt und zur Entfaltung bringt,
wird nicht durch eine einzige Form des Verhältnisses von Grund und Folge,
sondern durch das harmonische Zusammenwirken von ihnen allen beständig
hergestellt und im Gang erhalten. Aber in der Tat stammen alle diese
unterschiedenen Formen aus einem einheitlichen obersten Grunde, der sie alle
umfaßt, sich in ihnen allen darlegt und seine innere Fülle in ihnen
zur Erscheinung bringt. Dieser oberste Grund aller Gründe, der einheitliche
Gedanke, der sich selber denkt und in seinem Denken schaffend die ganze
Stufenfolge des geistig sinnlichen Universums setzt und beherrscht, dieser
einheitliche oberste Grund lenkt und zügelt das Zusammen-[12/13]wirken
aller dieser einzelnen Formen des Verhältnisses von Grund und Folge zum
einheitlichen Ziele. Wir nennen diese oberste leitende gedankliche Macht, die
wissend und wollend die Wirklichkeit in allen ihren Einzelheiten nicht von außen
bewegt, sondern innerlich durchdringt, Vorsehung als mit dem geläufigsten
und verständlichsten Ausdruck. Vorsehung ist das bezeichnendste Attribut
Gottes als des absoluten Geistes, an dessen geistigem Wesen der Mensch mit
Vernunft im Denken und Wollen teil hat.
Wir haben in aller Kürze diese grundlegenden Überzeugungen
dargelegt mit dem selbstverständlichen Verzicht, die beweisenden Gründe,
auf denen sie beruhen, auch nur anzudeuten. Wir bemerken nur das eine, daß
die Erfahrung, die wir über unsern denkenden Geist und über die Art
machen, wie das Denken zur Erkenntnis und zur Wahrheit gelangt, die
unwiderlegliche Grundlage ist, auf der diese Überzeugungen sich aufbauen.
Der Gedanke fordert eine einheitliche, von den Gedanken einer geistigen Persönlichkeit
gelenkte und durchdrungene Welt. Nur unter dieser Voraussetzung ist
wissenschaftliches Begreifen der weltlichen Erscheinungen und das tätige
Gestalten derselben durch das vernünftige Wollen überhaupt möglich.
Was wir als Ursache und Wirkung bezeichnet haben, die
mechanische äußere Form des Verhältnisses von Grund und Folge,
ist demnach nicht nur die erste Stufe, sondern sie durchdringt zugleich alle
anderen Stufen der Begründung und dient ihnen als ihnen untergeordnet;
allerdings kommt sie als solche in strenger Reinheit niemals zur Erscheinung. In
der lebendigen Bewegung dieses sinnlich geistigen Universums ist für die
reine Äußerlichkeit des Mechanischen keine Stätte gelassen. Überall
wirken durch das mechanische Verhältnis hindurch die höheren Stufen,
jede, folgende sich über die niedere erhebend und diese im eigenen Dienste
verwendend. Und so schließt sich in der obersten Einheit der Vorsehung die
Welt mit allen ihren Gliedern und allen Bewegungen und Verrichtungen dieser
Glieder zu einer allumfassenden ideellen Einheit zusammen. [13/14]
Das Verhältnis von Grund und Folge ist eine der unveräußerlichen
Formen des menschlichen Denkens, mit denen das Erkenntnisvermögen an die
Gegenstände herantritt. Gründe werden nicht wahrgenommen, sie werden
zu den Wahrnehmungen hinzugedacht als deren Ergänzung und Erklärung.
Das ungeübte Denken geht dabei vielfach in die Irre, und aus unzulänglicher
Hinzufügung von Gründen entspringt vielfach wilder und wüster
Aberglaube. Erst das gereifte und geübte Denken erlangt in der Ergänzung
des Wahrgenommenen durch die Gründe eine gewisse Fertigkeit. Geschärfte
Aufmerksamkeit, Gewöhnung an kritische Prüfung der nächsten
Annahmen, reiche Erfahrung erzeugt eine größere Sicherheit und Zulänglichkeit
in der Erwägung der Gründe, und in langsamem Fortschritt bewältigt
das strenge Denken im systematischen und methodischen Gange der Wissenschaft die
Aufgabe, die Erscheinungen auf ihre wahren Gründe zurückzuführen.
Wir haben die in der Wissenschaft geläufigen Arten der Gründe
in unserer obigen Aufstellung dem Werte nach geordnet; nur beiläufig, weil
jemand doch daran Anstoß nehmen könnte, bemerken wir, daß wir
dabei von dem sogenannten Erkenntnisgrunde, der causa cognoscendi, abgesehen
haben. Diese gehört nicht in die Reihe der Gründe des Seins und
Geschehens in der gegenständlichen Welt; sie gehört einem ganz anderen
Gebiete an, dem Gebiete der Logik als der Wissenschaft von den Formen und Tätigkeiten
des denkenden Geistes. In der Tat wird das, was in der gegenständlichen
Welt Folge aus dem Grunde ist, als Kennzeichen oder Merkmal selber zum Grunde,
aus dem man den Grund als die Folge ableitet. Das ist der Vorgang auch da, wo
das Beispiel oder die Analogie als Erkenntnisgrund in Anspruch genommen wird.
Mit dem Satze vom Grunde stehen in enger Verbindung die Begriffe
von Wirklichkeit, Möglichkeit und Not-[14/15]wendigkeit. Wir bewegen uns
hier auf dem Gebiete, das man als dasjenige der Modalität bezeichnet. Diese
modalen Bestimmungen, auf die im einzelnen einzugehen wir uns versagen müssen,
gehören durchaus der eigenen Natur des Denkens an und werden nicht von außen
aufgenommen, sondern durch denkende Erwägung mit dem von außen
Aufgenommenen zur Aufhellung desselben in Verbindung gebracht. Es ist
augenscheinlich, daß die Bedeutung dieser Begriffe der Modalität
nicht eine durchaus einheitliche ist. Es gibt verschiedene Formen des Verhältnisses
von Grund und Folge, und je nach der besonderen Form dieses Verhältnisses,
das im gegebenen Falle in Betracht kommt, nehmen die Begriffe von Möglichkeit,
Wirklichkeit und Notwendigkeit verschiedene Bedeutung an. Wer diese
Verschiedenheit nicht klar ins Auge faßt, wird niemals imstande sein, von
diesen Begriffen eine richtige Auffassung zu gewinnen, oder von ihnen den
rechten Gebrauch zu machen.
Caesar hat wirklich morgens früh sich mit seinem Nachbarn über
das Wetter unterhalten und er hat wirklich Gallien unterworfen. Karl der Große
hat wirklich mit gutem Appetit gefrühstückt und er hat wirklich die
Bekehrung der Sachsen in die Wege geleitet. Hier steht wirklich ein Denkmal,
aber es ist kein wirkliches Kunstwerk. Ich bin wirklich mit meinem Nachbarn
befreundet, aber mein wirklicher Freund ist der Nachbar doch nicht.
Man sieht, wirklich bat hier sehr verschiedene Bedeutungen, das
gleiche gilt vom Möglichen. Der Baum kann reiche Früchte tragen und er
kann vom Sturm entwurzelt werden. Der Staat kann sich in erfreulicher Weise
weiterentwickeln und er kann durch feindliche Nachbarn in die größte
Gefahr geraten. Der junge Mann kann in seinem Fach hohe Auszeichnung erreichen
und er kann einflußreiche Förderer und Gönner gewinnen. Und nun
erst die Notwendigkeit. Die einfache hohe Notwendigkeit mit dem Charakter der
Ewigkeit, die außerzeitlich, überzeitlich und durch sich selbst ist
was sie ist, ihr eigner Grund und ihre eigne Folge, ist kein Gegenstand der
Vorstellung, aber durch [15/16] ein geübtes Denken klar erfaßbar. Die
Folgerichtigkeit, mit der aus dem Prinzip, dem ersten Gliede der Reihe als dem
Grunde, die Konsequenzen sich ergeben, wie es in der Mathematik der Fall ist, trägt
ebenso den Charakter der Notwendigkeit. Ganz verschieden ist die bedingte
Notwendigkeit als ein Zusammenhang, der von dem Eintritt eines Ereignisses abhängt,
das ebensowohl auch ausbleiben kann. Das ist eine zeitliche, eine zufällige
Notwendigkeit. jede menschliche Einzelpersönlichkeit muß als solche
einmal sterben; aber wann, wo, wie, woran, das ist eine Frage äußerer
zufälliger Umstände. Diese Vieldeutigkeit der Begriffe der Modalität
je nach der besonderen Art des Verhältnisses von Grund und Folge, um die es
sich jedes Mal handelt, gebietet bei der Überlegung und dem Urteil die äußerste
Vorsicht.
Nach diesen Vorbereitungen dürfen wir nun ins Auge fassen,
was in dem gewöhnlichen Bewußtsein der Menschen als Zufall angesehen
wird. Wir gewinnen so als nächste Bestimmung das negative Merkmal: zufällig
ist nicht was immer oder was regelmäßig vorkommt. Was einm[a]l und
nicht wieder, was ohne Regel geschieht oder da ist als Gegenstand oder
Beschaffenheit eines Gegenstandes, das ist zufällig. Also das Ungewohnte
und Ungewöhnliche, die Ausnahme von der Regel, die Abweichung von dem sonst
immer Beobachteten wird als Zufall bezeichnet. Es kann im Winter einmal
sommerliche Wärme, im Sommer winterliche Kälte eintreten. In einem
regenreichen Lande können die feuchten Niederschläge lange Zeiträume
hindurch ausbleiben und umgekehrt in einem regenarmen Lande längere Zeit
hindurch ungewöhnliche Mengen von Regen fallen. Und was dergleichen mehr
ist.
Der Zufall macht sich so am ersten kennbar dadurch, daß er
als ein Vereinzeltes, nicht als ein regelmäßig immer Wiederkehrendes
auftritt. Man kann sich also auf ihn nicht verlassen; man kann nicht auf ihn
rechnen, und es wäre höchst gewagt, wollte man auf ihn seine Pläne
bauen. Höchstens kann man ihn als einen möglichen Fall, der den
[16/17] Erfolg erleichtert oder erschwert, in die Rechnung einsetzen, und das
geschieht dann auch wohl in den Betätigungen der Menschen ziemlich
allgemein. Aber es gibt vom Zufall keine Wissenschaft und keine Erkenntnis; er
bleibt ein Mögliches, das im gegebenen Falle wirklich werden kann, aber
nicht wirklich werden muß. Das Wissen aber hat zum Gegenstande das, was
immer ist, das Allgemeine, das bleibt und regelmäßig eintritt, also
nicht das Zufällige. Vom Zufall gibt es eine Erfahrung, aber solche
Erfahrung verbürgt nicht die Wiederkehr. Die tatsächliche Wirklichkeit
beweist nicht die Sicherheit der Wiederholung. Das zufällige Ereignis kann
wiederkehren in mehr oder minder gleicher oder ähnlicher Form. Es kann aber
auch das andere Mal ganz anders kommen. Die Zufälligkeit bildet eine
schlechthin unübersehbare Mannigfaltigkeit, die ins Unendliche verläuft.
Da gibt es keinen festen Boden; jede Voraussicht schwindet, und von einem
eigentlichen Wissen kann auch dann nicht die Rede sein, wenn einer auch in einem
langen Leben die reichhaltigsten Erfahrungen gesammelt hat. So liegt eben auf
Grund der Zufälligkeit des Geschehens in allen möglichen
Unternehmungen, in aller Betätigung menschlicher Kräfte auch bei den
am klügsten. ausgesonnenen Plänen ein Element der Unsicherheit, das
menschliche Kraft und menschliche Einsicht zum Spielball äußerer
Ereignisse macht und das niemals völlig beseitigt werden kann.
Die gegenwärtige Strömung der herrschenden Meinungen
bringt es mit sich, daß man sich auf die Ansicht gefaßt machen muß,
die gar nicht so selten hörbar wird, daß es überhaupt gar keinen
Zufall gebe. Alles was geschieht, sagt man, geschieht nach Gesetzen und
vollzieht sich mit unabänderlicher Notwendigkeit. Dabei liegt gewöhnlich
die Vorstellung zu Grunde, daß das äußerliche mechanische Verhältnis
von Ursache und Wirkung das einzige sei, welches überall im ganzen Weltall
den Verlauf der Ereignisse beherrscht. Allerdings nimmt diese Ansicht von der äußeren
Notwendigkeit alles Geschehens, von der Vorherbestimmung, [17/18] dem Verhängnis,
dem Schicksal auch wohl die religiöse Form an, und der Grund, aus dem diese
unerbittliche Notwendigkeit abgeleitet ist, wird in dem Willen eines allmächtigen
Wesens gefunden, das keinerlei Freiheit und keinerlei Zufälligkeit in dem
ganzen Zusammenhange der Welt zuläßt. Diese religiöse Anschauung
müssen wir hier auf sich beruhen lassen. Wir beschränken uns auf die
Bemerkung, daß die darin zum Vorschein kommende Vorstellung von Gott sich
mit den ersten Tatsachen unseres Bewußtseins in offenbarem Widerspruch
befindet; denn unter allen Tatsachen, die sich unserm denkenden Bewußtsein
darbieten, ist die Tatsache unserer Freiheit die erste und grundlegende. Dagegen
die andere Ableitung der durchgehenden Notwendigkeit alles Geschehens aus der
mechanischen Kausalität erfordert noch eine kurze Klarstellung. Geben wir
einmal zu, daß alles, was geschieht, nach Gesetzen geschieht, so ist doch
die Überlegung geboten, daß es nicht bloß ein Gesetz gibt,
sondern viele Gesetze, die im Zusammenhange miteinander den Gang der Dinge im
Weltall bestimmen. Diese Gesetze bilden eine Vielheit, die für uns unübersehbar
ist. Was die Menschen bisher an solchen Gesetzen festgestellt haben oder
festgestellt zu haben glauben, ist doch nur ein kleiner Auszug aus all dem, was
sich der weiteren Forschung als immer wachsende Vielheit von Gesetzen ergeben
wird, Alle diese Gesetze wirken an einem und demselben Punkte auf einen und
denselben Gegenstand, Lind sie wirken nicht in derselben, sondern in
verschiedener Weise, Sie unterstützen sich nicht gegenseitig, sondern sie
durchkreuzen einander. Das eine Gesetz verändert die Wirkung des andern
Gesetzes oder hebt sie geradezu auf, und so ergibt sich in dem ungeheuren Spiel
der Kräfte, die alle gesetzlich wirken, in dieser uns umgebenden Welt weit
eher der Satz, daß nichts was geschieht gesetzlich geschieht, weil im
Zusammenwirken der vielen Gesetze kein einziges Gesetz sich rein durchzusetzen
vermag. Es ergibt also die Vielheit der Gesetze eben deshalb, weil alles nach
Gesetzen geschieht, gerade die unübersehbare Mannig-[18/19]faltigkeit der
Zufälle, die den täglichen Inhalt unserer Erfahrung ausmachen. Tatsächlich
ist das Gesetz, wie es die Wissenschaft festsetzt, eine ideelle Bestimmtheit,
die als solche in der Realität der Erscheinung niemals rein zum Ausdruck
kommt. Das uns in der Erfahrung Begegnende weicht von der ideellen Norm, die die
Wissenschaft feststellt, mehr oder minder ab. Die Bewegungen, die sich
erfahrungsgemäß vollziehen, die Beschaffenheiten, mit denen sich die
Gegenstände uns darbieten, die Zahlen, die Ausdehnungen, die Gewichte
stimmen mit denjenigen, die wissenschaftliche Forschung als das eigentliche
Wesen festgestellt hat, keineswegs überein. Und die Welt, wie sie in
unserer Wahrnehmung sich uns kennbar macht, ist von der Welt, die uns die
Wissenschaft zeichnet, durchweg mehr oder minder verschieden.
Wir sind es ganz gewöhnt zu sagen: obgleich, wiewohl, bei
alledem, trotzdem, zwar, dennoch. Das bedeutet: der Grund war vorhanden, die
Folge ist ausgeblieben ganz oder teilweise; solches Ausbleiben beruht auf der
Gegenwirkung anderer Gründe. Die verschiedenen Arten des Verhältnisses
von Grund und Folge wirken tatsächlich zum Teil gegeneinander, So geschieht
es, daß die Form nicht rein zur Erscheinung kommt. Die Kristallform ist
unvollendet; die Formen des Lebendigen, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen
sind mitunter bis zur Monstrosität abweichend. Die Äußerungen
der seelischen Innerlichkeit sind unberechenbar, und je höher die
Organisationsstufe ist, desto eigentümlicher und überraschender. Die
Triebe, die Begierden bei den Menschen, die Absichten, Vorsätze und Zwecke
gehen ihre eigentümlichen, oft sonderbaren, niemals zu erratenden Wege, und
dabei werden sie oft nicht erreicht oder nur mit schweren Veränderungen
verwirklicht. Die mathematischen Gestalten kommen in der Realität nur annähernd
und ungefähr zur Erscheinung. Daß alles Messen, Zählen, Wägen
ungenau ist, haben wir schon erwähnt. jedes Einzelwesen trägt die
Eigenschaften, die für die Gattung die bezeichnenden sind, nur mit
Abweichungen, untermischt [19/20] mit fremdartigen Zügen, bis zur Ausartung
an sich. Die idealen Mächte selber, die einzelne Sprache, das Rechtssystem,
die Kirche und die andern alle tragen neben den wesentlichen Zügen in oft
grober und schwerverständlicher Eigenheit Züge an sich, die aus der
Natur der Sache herauszufallen scheinen. Die zufällige Eigentümlichkeit
durchbricht überall das Gesetz der Sache, das Herrschende, das Regelmäßige
und bringt dafür in der begegnenden Realität das ausschweifend Zufällige
als das zunächst dem Blick sich Darbietende. Die Reinheit der inneren
Anschauung und des verstandesmäßigen Begreifens findet sich in der
gegebenen Wirklichkeit überall verletzt und nicht selten abgestoßen.
Das Reale ist in der Regel die Ausnahme und nicht die Regel.
So ist denn alles unmittelbar Gegebene, alles unmittelbar
Begegnende, alles Dasein, alle Erscheinung, alles Erlebnis eine bunte Reihe von
Zufälligkeiten. Der denkende Geist steht davor mit der Anforderung, daß
das Erscheinende seinen Grundbegriffen entsprechen, ihm verständlich sein müsse,
und diese Anforderung ist nicht erfüllt. Daher stammt die Verwunderung, aus
der alles wissenschaftliche Nachdenken und aller Forschungstrieb entspringt.
Denn die Gewißheit kann nicht täuschen: und dennoch kann der Zufall,
das unmittelbar Gegebene, nicht das wahrhaft Seiende sein; der Zufall ist zwar
am Seienden, aber er ist nicht das Seiende selbst. Der Zufall wird erfahren,
beobachtet, erlebt, überall und zu jeder Zeit aber es ist unmöglich,
sich bei ihm zu beruhigen. Das Wahre liegt hinter ihm, jenseits; es wird uns
nicht geschenkt, wir müssen es suchen, und emsigem Forschen wird das Wahre,
das zunächst Geheimnis ist, nicht undurchdringlich, nicht verborgen
bleiben. Dem Ernst, den keine Mühe bleichet, rauscht der Wahrheit tief
verborgner Quell.
In dem allumfassenden Gewirre des Geschehens kommt das
Fremdartigste zusammen, und das nimmer Zusammen-[20/21]gehörige bietet sich
dar als eine Erscheinung. Wir müssen es hinnehmen; es ist nun einmal so,
wir können es nicht ändern und müssen uns damit abfinden. Wir
haben schon oben ausgeführt: in allen unseren Tätigkeiten stehen wir
so unter der Macht einer grenzenlosen Zufälligkeit. Sie erschwert die
bestausgedachten Pläne, sie vereitelt sie, sie läßt unsere schönsten
Absichten scheitern. Keine noch so reiche Erfahrung, keine noch so große
Geschicklichkeit schützt vor der Enttäuschung. Wir sind, wir mögen
uns stellen wie wir wollen, der Spielball in der Hand äußerer Mächte,
die unsere Absichten und unsere Geschicke in Wege leiten, die wir gerade nicht
wollten. Am geläufigsten ist uns dabei die Erinnerung an die Launen und
Eigenheiten des Wetters. Man hat seit Jahrzehnten gewisse Grundlagen einer
wissenschaftlichen Meteorologie gefunden, die recht verständlich und nicht
ohne Wahrscheinlichkeit sind. Aber die Zufälligkeiten der Wettergestaltung
an diesem Ort, zu dieser Zeit werden dadurch nicht aufgehoben; die
Vorausberechnung bleibt ausgeschlossen, und das Vorherverkünden des Wetters
auch nur für die nahe Zukunft ist immer noch eine mißliche Sache. Und
unter der Macht des Wetters steht doch die größte Fülle
menschlicher Tätigkeiten und Unternehmungen, und der Erfolg unserer
Arbeiten ist in beständiger Abhängigkeit von der Gunst oder Ungunst
der Witterung. Dem entspricht nun die Zufälligkeit der inneren Welt. Es ist
unmöglich, die inneren Regungen seelischer Art vom Empfinden und Auffassen
bis zum Denken und Wollen bei den Menschen zu durchschauen, so daß man
danach sein Handeln einrichten, darauf als auf eine feste Grundlage sich stützen
könnte. Die willkürliche Abweichung der Innerlichkeit von dem
Gewohnten, Geläufigen, Normalen läßt sich nicht ausschalten, und
unser ganzer Lebenslauf gestaltet sich in dem Zusammenleben mit den anderen
Menschen günstiger oder ungünstiger, je nach den Erfahrungen, die wir über
die Wetterwendigkeit oder die Beständigkeit der uns zunächst stehenden
oder fremder stehenden Menschen zu machen haben. [21/22] Auch die Vorgänge
in unserem eigenen leiblichen Dasein, dazu der unabsehbare Wechsel der
Stimmungen in unserem eigenen seelischen Leben, dies Aufgelegt- oder Bedrücktsein,
Munterkeit und Trübsinn, Regsamkeit und Schwerfälligkeit regiert uns,
und wir können es nicht regieren. Selbst die oft bewährte
Geschicklichkeit läßt uns dann wieder im gegebenen Augenblick im
Stich. Es kommt vor, daß ein gescheiter Mensch, wo es darauf ankommt, sich
selber übertrifft; es geschieht aber auch, daß er weit hinter sich
zurückbleibt.
Nun müssen wir uns weiter erinnern, daß das
Notwendige nicht in jedem Sinne notwendig, das Zufällige nicht in jedem
Sinne zufällig ist. Gibt es irgendwo irgendwie rein äußerliche
Ursächlichkeit, so ist das von dieser Ursächlichkeit gewirkte Ergebnis
gewiß ein notwendiges; betrachtet man es aber unter dem Gesichtspunkte der
Absicht und des Zwecks, so ist dieses Notwendige ein rein Zufälliges. Das
Gleiche gilt, wenn man es unter den Gesichtspunkt der Form oder der seelischen
Innerlichkeit stellt. Ja, alles Mathematische, bei dem doch von einer
mechanischen Verursachung gar nicht die Rede sein kann, trägt den Charakter
eines festen Verhängnisses, einer unerbittlichen Notwendigkeit, bei der an
Zweck gar nicht gedacht werden kann und die in diesem Sinne als eine zufällige
Notwendigkeit erscheint. Im wirklichen Leben sind wir bei jedem Schritte von
solchen Ereignissen begleitet deren äußerliche Verursachung garnicht
bestritten wird und deren Notwendigkeit doch zugleich zufällig ist. Die
Gestalt, die Anlage, die Begabung eines Menschen mag immerhin das notwendige
Ergebnis von unendlich vielen tatsächlichen Umständen, Kräften
und Bewegungen sein; in seiner Einzelheit ist dies alles gleichwohl ein zufälliges
Ergebnis, das ebensogut auch ganz anders hätte ausfallen können. Wir müssen
die Kinder nehmen, wie sie uns geboren werden, ebenso wie wir vieles andere im
Leben uns müssen gefallen lassen, was wir uns ganz anders gewünscht hätten
und ganz anders auch zu erwarten [22/23] Anlaß hatten. Aber auch die Gunst
des Geschickes wird uns innerhalb der Notwendigkeit des Getriebes durch einen
Zufall zuteil. Es gräbt jemand in seinem Garten eine Grube, um einen Baum
zu pflanzen, und findet dabei einen seit langer Zeit vergrabenen Schatz. Grub er
bei dieser Stelle und grub er tief genug, so mußte er allerdings den
Schatz finden; aber der Fund lag außerhalb seiner Absicht und war in
diesem Sinne ein günstiger Zufall. Nehmen wir nun etwa hinzu, daß der
Finder des Schatzes sich in schwerer Verlegenheit befand und durch den Fund aus
einer schwierigen Lage befreit, ja vor der Gefahr des Unterganges gerettet
wurde, so haben wir ein Beispiel dafür, wie sinnvoll unter Umständen
der Zufall in unserem Leben zu wirken vermag. In der Tat ist unser ganzes Leben
ein Gewebe aus solchen mehr oder minder förderlichen und schädigenden
Zufällen, und es kommt vor, daß bei dem einen Menschen die förderliche
Macht des Zufalls sich mit einer Art von Regelmäßigkeit wiederholt,
bei dem andern die schädigenden und hemmenden Zufälligkeiten mit hartnäckiger
Unablässigkeit aufeinander folgen. Wir sagen dann wohl, der eine habe Glück,
der andere Unglück; dem einen leuchten günstige, dem anderen ungünstige
Sterne. Verdienst und Glück verketten sich nicht immer in der gewünschten
Weise; auch die höchste Begabung, der tüchtigste Wille, der Adel der
Gesinnung scheitern zuweilen an der nicht zu überwindenden Macht ungünstiger,
zum Widerstande gleichsam verschworener Umstände.
Es findet jemand früh einen Gönner, der ihm die Wege
glättet; durch die Macht dieses einflußreichen Gönners gelangt
der so Begünstigte auf die Höhen des Lebens. Wir steigen in einen
Wagen; eine unfreundliche Begegnung veranlaßt uns, den Wagen zu wechseln,
so kommen wir mit einem Manne zusammen, mit dem uns seitdem unverbrüchliche
Freundschaft das ganze Leben hindurch verbindet. Durch zufällige Begegnung
gewinnen die meisten Menschen die Gattin oder den Gatten. Eine unscheinbare
Schrift, die in die rechten Hände gelangt, macht den Namen [23/24] des
Schriftstellers bekannt und entscheidet über den Gang seines Lebens.
Indessen, es ist nicht nötig, solche Beispiele zu häufen. Jeder
lebende Mensch, der einige Jahrzehnte hinter sich gelegt hat, weiß sich
aus seiner Vergangenheit auf eine Reihe solcher Zufälle zu besinnen, Es
sind nicht bloß die heftigen Stürme und die gewaltigen Meereswogen,
die Feuersbrünste und Überschwemmungen, die kriegerischen Zusammenbrüche
und die verwüstenden Seuchen, die den ruhigen Gang des Lebens stören.
Das Leben der Sterblichen steht in jedem Augenblicke unter der Herrschaft
unberechenbarer kleinerer Umstände, die das Leben jedes Einzelnen in ganz
eigener Weise durchsetzen.
Diese Eigentümlichkeit nun in der Gestaltung des
Augenblicks, des Lebensganges, des Zusammentreffens mit anderen und des
Wiederauseinandergehens hat aber wieder noch die andere Seite an sich, die von
hoher ideeller Bedeutung ist. Unser ganzes sittliches Leben wird fortwährend
durch die Zufälligkeit neuer Ereignisse in immer neue Bewegung gesetzt,
Durch die zufälligen Widerstände wird das Streben befeuert, der Ernst
erhöht, die schlummernde Kraft entbunden. Wir sind im ganzen Leben in der
Lage des Schiffers, der mit den Wogen zu kämpfen hat, des Landmanns, der
mit äußerster Klugheit und Überlegung dem drohenden Zufall
vorzubeugen, den möglichst günstigen Ertrag trotz aller Ungunst der
Geschicke zu erreichen sucht. Die Not, die der Zufall in jedem Augenblicke über
uns und das Unsere bringen kann, fordert den Scharfsinn heraus, ihr zu wehren,
und wird die Mutter der Erfindung. Am Zufall hängt vermittelst der Kräfte,
die er ins Feld ruft, zum großen Teile der Fortschritt der Gesittung.
Andererseits fordern wir den Zufall ausdrücklich heraus wie
der Unternehmer, der vor dem Wagnis und der Gefahr nicht zurückschreckt.
Dabei überlassen wir uns einem mutwilligen Spiele; der Zufall spielt mit
uns, wir spielen mit dem Zufall. Dieses Spiel kann auch bitterer Ernst sein. Die
Kühnheit, die Geschicklich-[24/25]keit, die Einsicht und Erfahrung stürzt
sich in die Gefahr, auf die Gunst des Zufalls rechnend, die dem Tüchtigen
und Mutigen zu Hilfe kommen wird. So macht es der Reiter im Hindernisrennen, der
Krieger bei einer kühnen Unternehmung. Der begeisterte Wille, die
Pflichttreue übernehmen jedes Wagnis, und nicht selten hilft das Glück
dem Mutigen hindurch zum Siege. Der Forscher befährt unbekannte Meere,
dringt in unbesuchte Länder, erkundet gefahrvolle Küsten und erklimmt
die steilsten und gefahrdrohendsten Berggipfel. Durch solchen Heldenmut wird die
Kenntnis erweitert, der Fortschritt der Naturbezwingung gefördert, der
Zustand der Gesittung neuen Zielen zugeführt; wo der eine scheitert, kommt
der andere zum Ziel: und oft krönt, nachdem viele erlegen sind, den durch
reifere Erfahrung gekräftigten Willen mit Hilfe zufälliger Umstände
ein volles Gelingen.
Aber nicht immer ist es mit der Herausforderung des Zufalls so
bitterer Ernst. Wir spielen ohne wirklich zu wagen und finden eine erfreuliche
Abspannung und Erholung darin, uns den Wechselfällen zufällig
durcheinander wirbelnder Elemente auszusetzen, indem wir zugleich hoffen dürfen,
dieses Spiel durch eine Art von Überlegung und Geschicklichkeit bis zu
einem gewissen Grade meistern zu können. Wir setzen uns, meist in
Verbindung mit anderen, gewisse zu erreichende Ziele, die wir mit einem gewissen
Eifer, aber doch nicht mit größerer Anstrengung verfolgen. Die
Erreichung des Zieles wird als ein Sieg, die Verfehlung als eine Niederlage
empfunden; aber es handelt sich bei alledem nur um eine Nachahmung, nicht um
wirklichen Gewinn oder wirklichen Verlust und ebenso um nachgeahmte Gefühle,
wobei uns das Bewußtsein der bloß scheinbaren Nachbildung wirklichen
Strebens niemals verläßt. Wir beobachten bestimmte Regeln in der
Durchführung eines Vorsatzes von einem Ausgangspunkte bis zum Abschluß,
aber auch diese Regeln sind Nachbildungen der Bedingungen, unter denen wir im
wirklichen Leben unsere Kräfte kämpfend zu üben haben. Dem
strengen, zuweilen [25/26] drohenden Ernste unseres handelnden Lebens gegenüber
empfinden wir dieses Spielen mit dem Zufall, dies scheinbare Gelingen und Mißlingen
wie die Bindung an diese scheinbaren Normen und Regeln, als eine Befreiung, als
eine Lösung von den Banden, die uns in der Wirklichkeit fesseln, und in
allem diesem Wechsel von Gewinn und Verlust bleibt vorherrschend ein Gefühl
der Heiterkeit, das in der Selbständigkeit unseres Selbstbewußtseins,
dem wirren Wechsel äußerer Dinge gegenüber, wurzelt. Nur diese
Erheiterung war ernst gemeint. Ist das Spiel zu Ende, so werden die Karten
beiseite gelegt, die Brettsteine, die Würfel, die Figuren wandern in ihren
Behälter, und es ist, als ob nichts geschehen wäre. Ein ander Mal
werden sie wieder vorgenommen, und das Gegenbild der ernsten Wirklichkeit
erneuert in uns die gleichen Gefühle der Erhebung über die dringende
und zwingende Macht der äußeren Umstände mit ihren bitteren
Notwendigkeiten und den gleichen Erfolg einer Belebung unserer Kräfte für
die großen Aufgaben unseres Lebens in Pflicht und Beruf.
Dabei eröffnet sich nun die Aussicht in ein Gebiet von ganz
unermeßlicher Bedeutung. Die Seite alles Daseins, Lebens und Empfindens,
die wir mit dem Namen des Ästhetischen benennen, steht mit der Zufälligkeit
des Geschehens in allerengster Beziehung. Der Zufall spielt nicht bloß
ausnahmsweise sinnvoll, und die Gebilde, die aus dem Zufall stammen, machen
nicht bloß gelegentlich den Eindruck, als könnten sie ebensowohl
durch ausdrückliche Absicht, Wahl und Überlegung entsprungen sein. Im
Grunde gilt dies für alle äußere Gestaltung in Natur und
Menschenleben. Das Ästhetische ist eine freie Zugabe zu dem, was durch das
Gebot der Notwendigkeit, durch die Bedingungen des Bestehens und Sicherhaltens
im Zusammensein und Kampf mit allen Naturgewalten gefordert wird. Es ist eine
Gunst des Zufalls, daß der Vortrag der Naturzwecke in der äußeren
Erscheinung sinnvoll und bedeutsam sich darstellt. Man begnügt sich oft,
wenn man das Ästhetische zu erklären unternimmt, mit der Feststellung
der Tatsache, daß dieses [26/27] Ästhetische im Innern wohlgebildeter
Menschen ein Gefühl des Wohlgefallens hervorrufe; aber man verabsäumt
dabei die weitere Frage, auf welchem Grunde es denn beruht, daß das Ästhetische
menschliches Wohlgefallen erregt, Es ist hier nicht der Ort, in größerem
Umfange auf die Sache einzugehen; aber soviel kann in aller Kürze bemerkt
werden, daß dies Wohlgefallen seine Quelle hat in der eigenen
Beschaffenheit des Gegenstandes, handle es sich nun um Dinge und deren Formen
und Beschaffenheiten oder um ein Geschehen und ein Zusammensein und
Zusammenwirken von vielen Dingen und vielen Bewegungen. Auch auf ästhetischem
Gebiete kommt im Äußern in der gesamten Welt dem Geiste der Geist
entgegen. Und wenn einerseits die Bedürftigkeit und die Not der Wesen ihre
Anforderungen an den Bau der Dinge und der gesamten Welt stellt, so wird
andererseits dies Gebot der Notwendigkeit weit überboten durch den
unendlichen Reichtum der Gestaltung aller Wesen, die sinnlich wahrnehmbar sich
unserem anschauenden Vermögen darbieten. Und eben dies ist nun jener
Notwendigkeit gegenüber ein Werk ohne solche Notwendigkeit, nicht abhängig
vom Drange der Umstände und den äußeren Gewalten, sondern wie
ein Erzeugnis des Zufalls, eine auf freier Gunst beruhende Mitgift an die Fülle
der Wesen mit ihren Gestalten und Erscheinungsweisen. Das Sinnliche selber
erweist sich darin als vom Geiste durchdrungen und belebt, als Erscheinungsform
des Geistigen, und das Geistige bietet sich uns zum Genusse dar in sinnlicher
Form, alles Äußere durch innerliche gedankenvolle Gestaltung zu einer
Ausdrucksform für den geistigen Gehalt der Gegenstände erhebend. Das ästhetisch
Befriedigende kommt aber in der Welt vor, nicht als alleinherrschend, sondern
wie durch günstigen Zufall, der äußeren Notwendigkeit die
vollendete Gestalt wie im Kampfe abringend. Und daneben spielt nun in breiter
und machtvoller Ausdehnung die nichtbezwungene Menge des Wüsten,
Ungeformten und Mißgestalteten ihre betrübende Rolle, den unsäglichen
Augenschmerz bereitend, den das Häßliche [27/28] Gestaltlose Schönheitliebenden
rege macht. Aber weiterhin erweist sich auch diese Mißform, der Mißklang
und das widrige Gemische unverträglicher Einzelheiten als der Ausdruck
innerer Unvollendung und entspricht auch so in gewissem Sinne der geistigen
Anforderung.
Nur einige Bemerkungen fügen wir noch hinzu. Das Reine,
Ungetrübte, in sich Vollendete, die geschlossene Harmonie, die auf der
inneren Einheit der vielen zum Ganzen sich fügenden Einzelheiten beruht,
der lautere Glanz, der reine Wohlklang, der sinnvolle Wechsel, die übersichtlich
einheitliche Gestalt, der sichere Umriß, die in sich vollendete Linie,
alles das begegnet uns in der Wirklichkeit als ein Ausdruck und Spiegelbild der
Idealwelt, als ein Abbild der Freiheit, als Erhebung über den Zwang des Bedürfnisses.
Aber wir dürfen uns nicht darauf verlassen. Auch das Gegenteil tritt uns in
der Wirklichkeit entgegen und bildet die Unterlage, von der sich die reinen
Gestalten nur um so sicherer abheben. In diesen reinen Gestalten aber haben wir
vor uns eine Welt der Freiheit, die nicht aus der finstern Macht der Bedürftigkeit
stammt, sondern eine dem Geist erwiesene Gunst des Zufalls bedeutet. Darauf
beruht die Heiterkeit, die die vollendete Gestalt über die Welt verbreitet
und die im menschlichen Herzen wiederklingt.
Insbesondere ist es nun der Gegensatz zwischen dem menschlichen
Willen und der Zufälligkeit des äußeren Geschehens, was als das
Komische und Tragische die menschliche Innerlichkeit oberflächlicher oder
tiefer in Bewegung versetzt. Es genügt, an das weite Gebiet von
Verfehlungen, Irrtümern, Mängeln und Schwächen zu erinnern, die
unter Umständen das heiterste Lachen erregen. Fehler im Sprechen, im
Schreiben, Druckfehler, Verwechslungen, Irrtümer, Wortspiele, zufällige
Ähnlichkeiten, die Verwirrung stiften, zufälliges Zusammentreffen, das
Verlegenheiten bereitet, bilden einen unversieglichen Quell heiteren Behagens.
Wir werden dabei hin und her geworfen zwischen der eigentlichen Bedeutung und
dem, was mit anklingt. Die Sache scheint [28/29] zu stimmen; sie stimmt aber
wieder nicht, und dann stellt sich doch die Bedeutung her, die sich hernach
wieder als trügerisch erweist. Der Zusammenstoß zwischen dem
menschlichen Willen und der äußeren Verwicklung der Dinge nimmt dann
wohl auch die furchtbarste und erschütterndste Gestalt an. Der große
Mensch, die gewaltige Willenskraft, die Hoheit und Lauterkeit des Wesens, die
großen Lebensmächte, die hohen Güter der Menschheit erliegen
unter der unerbittlichen Macht verderblicher Verkettungen der Umstände, und
das edelste Streben wird durch den hartnäckigsten Widerstand feindlicher Kräfte
in den Staub gestürzt. Das ist das Schauspiel des hohen gigantischen
Schicksals, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt. Auch
hier ist es der Anblick und das Miterleben einer reinen, in sich geschlossenen
Handlung von harmonischer Gestaltung, was den Menschen ergreift, indem es in
einheitlichem Bilde den tiefen Sinn alles Geschehens in dieser Welt der
Wirklichkeiten in greifbarer und anschaulicher Gestalt dem empfänglichen
Zuschauer vorführt. Geschärft und gesteigert wird der Eindruck des
Tragischen durch die Betonung des Zufälligen in den Vorgängen, die die
Katastrophe herbeiführen. Daß die Handlungen motiviert, die Vorgänge
begründet sind, hebt die Zufälligkeit nicht auf. Es handelt sich um
eine Minute, es hängt an einem dünnen Faden; da gerade fällt der
vernichtende Schlag, der eine Minute später vermieden worden wäre. Ein
äußeres Ding spielt eine verhängnisvolle Rolle, als ob es mit tückischem
Willen an den Ereignissen beteiligt wäre. Das Furchtbare ist vorherverkündet;
der Versuch, das drohende Unheil abzuwenden, führt es nur um so sicherer
herbei. Solcher Mittel gesteigerter Wirkung haben sich die Tragiker zu allen
Zeiten bedient. Wenn der innere Sinn und die organische Geschlossenheit des
gesamten Vorganges dadurch gefördert und nicht verdeckt wird, dient auch
dieses scharfe Gewürz dem inneren Werte des Kunstwerks. [29/30]
In der Wirklichkeit unseres Erlebens stellt sich die reine Form
des organisch verbundenen Ganzen nur ausnahmsweise dar wie durch einen günstigen
Zufall. Da tritt denn des Menschen schöpferischer Trieb ein und baut eine
Welt von reinen Gestalten mit voller ästhetischer Wirkung in die gegebene
Welt hinein und über sie hinaus. Die Kunst erzeugt diese Welt reiner
Gestalten gewissermaßen als ein Spiegelbild des inneren Getriebes und des
sinnvollen Gehaltes, der in den einzelnen Erscheinungen der gegebenen Welt
verborgen, jetzt durch die Kunst in seiner Reinheit herausgestellt wird. In
diesem Streben, die reine Gestalt als Kern und Wesen alles Seienden
herauszuarbeiten, bemächtigt sich die Kunst auch des Zufalls, der als ein
wesentlicher Bestandteil in dem Blide [Bilde] der wirklichen Welt nicht fehlen
darf. Es ist der Triumph der Kunst, die zufällige Einzelheit als die
erscheinende Seite des innersten Wesens der Dinge, so mit der ewigen Wahrheit,
die in der Erscheinung ihr Spiegelbild findet, zu vermählen, daß
nirgends ein Bruch der geschlossenen Einheit, nirgends eine Trübung der
idealen Vollendung herbeigeführt wird. Die Verschiedenheit der Stilformen
beruht zum Teil auf der geistigen Kraft der Anschauung, die dem Zufall größeren
oder geringeren Raum gewährt und die zufällige Einzelheit für das
einheitliche Bild des geistdurchdrungenen Universums mit größerer
oder geringerer Kraft zu verwerten vermag.
Entschlossener Mut wagt alles; an Stelle des entschlossenen
Mutes kann aber auch ein hartnäckig festgehaltenes Vorurteil solch äußerstes
Wagnis sich gestatten. Man sollte es nicht für möglich halten, aber es
gibt wirklich ganz ernsthafte Leute, die wie einen obersten Satz die Behauptung
aufstellen: es gibt keinen Zufall; alles was geschieht, ist notwendig im Sinne
der bedingten Notwendigkeit, wonach das eine erfolgen muß, wenn das andere
eingetreten ist. Dagegen kommt auch die entgegengesetzte [30/31] Meinung vor:
die ganze Welt ist ihrer Enstehung, ihrem Bestande, ihrem Inhalte nach durch
eine ungeregelte Reihe von Zufällen hervorgebracht, und Sinn und Verstand
selber kommen in der Welt mir zufällig wie etwas Fremdartiges vor. Natürlich
sind dann auch diese Gedanken selber sinnlos und verstandlos. Weit verbreitet
ist endlich die Meinung, diejenigen, welche Macht und Herrschaft über die
Welt im ganzen und über ihre Einzelheiten idealen Mächten von
geistiger Art zuschreiben, bewegten sich in offenkundigem Widerspruch zu dieser
ihrer eigenen Ansicht, wenn sie in dieser von geistigen Mächten, von Ideen
geleiteten Welt dem Zufall auch nur das kleinste Zugeständnis machten, oder
ihn gar als einen wesentlichen Faktor in dem Gewebe wirklichen Geschehens
anerkennten. Man öffne sich damit nur eine Hintertür und bereite sich
eine Ausrede, um dem offenbaren Widerspruche des wirklichen Geschehens gegen die
behauptete Allmacht der Idee zu entgehen.
Alledem gegenüber genügt es, sich in der wirklichen
Welt ohne Voreingenommenheit durch dogmatische Annahmen umzusehen. Wäre
wirklich alles durch unerbittliche Notwendigkeit bestimmt, so wäre das
Leben von einer unerträglichen Trübseligkeit. Wenn das Kleinste wie
das Größte ohne inneren Sinn durch äußere Regeln bestimmt
würde, so stände der lebendige Mensch mit seinem Denken, Wollen, Fühlen
einer sinn- und herzlosen Macht gegenüber, deren starre Pedanterie das Blut
in den Adern würde erstarren lassen. Selbst wenn man den Gedanken und
Willen eines absoluten Geistes als Urhebers solcher äußeren
Notwendigkeit sich vorstellt, tötet solch fanatisch festgehaltener Glaube
jede freie Bewegung der lebendigen Persönlichkeit. Es ist unmöglich,
an dieser Stelle uns darüber weiter zu verbreiten. Nur das eine wollen wir
in aller Kürze bemerken: Gesetzt, es wären äußere Dinge
vorausgegeben, etwa was man so gewöhnlich Materie nennt, ein ungeheuerer
formloser Dunstball, so könnte daraus nie etwas wie eine Welt entstehen, es
sei denn, daß die mathematischen Formen und Gesetze für Ausdehnung,
Vielheit [31/32] und Bewegung ihre Herrschaft übten, daß ferner
bestimmte Gegenstände von bestimmter Art und Beschaffenheit, also nach
Gattungen und Formen geordnet, in bestimmter Weise ihre Kräfte äußerten
und bestimmte Wirkungen in der Art hervorbrächten, daß das eine sich
mit dem andern vertragen, neben dem andern bestehen und eine allgemeine Ordnung
und Harmonie sich daraus ergeben könnte. Alle diese unverbrüchlichen
Voraussetzungen für das Entstehen und den Bestand einer Welt, diese
mathematischen und begrifflichen Ordnungen sind gedanklicher Art und erfordern
ein geistiges Subjekt, das sie gedacht hat, ehe denn der Grund der Welt gelegt
wurde. Man wende sich also wie man wolle: wer sich der Sache mit klarem Denken nähert
Lind sich nicht mit Redensarten oder Vorurteilen abspeisen lassen will, kommt
durch die Notwendigkeit des Gedankens gezwungen zu dem Ergebnis, daß im
Anfange nicht der Kohlenstoff oder der Sauerstoff oder sonst Stoffe von
sinnlicher Art waren, sondern daß im Anfang der Gedanke war und durch ihn
alle Dinge gebildet worden sind und in ewig lebendiger Bewegung erhalten werden.
Wer aber sich auf etwas anderes stützen will als auf die Notwendigkeit des
Gedankens, der gerät unabänderlich in das Gebiet, wo es mit Sinn und
Verstand überhaupt zu Ende ist.
Ist aber das Prinzip der Gedanke, so muß andererseits dem
Zufall sein unermeßliches Gebiet vorbehalten bleiben. Sehen wir uns doch
im Leben um und weigern wir uns nicht, unser Urteil mit dem tatsächlichen
Bestande in Einklang zu bringen. Alles menschliche Dasein, alle geschichtliche
Entwicklung, wie das Leben des Einzelnen so die aufsteigende Bildung der
Geschlechter, alles wird durch den Zufall bestimmt. Von je an, ob in
vorgeschichtlicher oder geschichtlicher Zeit, ist die für das menschliche
Leben entscheidende Entdeckung durch den Zufall herbeigeführt worden. Zufällig
wird ein Vorgang wahrgenommen und die Aufmerksamkeit auf ihn hingelenkt. Von nun
an wird er zu einem für menschliches Wohl und Wehe entscheidenden Ereignis,
und menschliches Nachdenken erwirbt [32/33] die Fähigkeit, von ihm nützlichen
Gebrauch zu machen. Zufällig ist der, der wahrnimmt und beobachtet, genügend
vorbereitet, um die Bedeutung der Sache zu ahnen. So sind von je an die
wichtigsten Erscheinungen, die bedeutsamsten Kräfte, die wirkungsreichsten
Stoffe mit ihren Wirkungen einmal in die Kunde des Menschen gelangt und seiner
Gewalt unterworfen worden. Allerdings müssen dazu die Menschen die nötige
Vorbereitung haben und in ihrer Begriffswelt die Handhabe besitzen, um das
Entdeckte zu deuten und nutzbar zu machen. Zuweilen wird durch Suchen gefunden,
aber auch dann wird das Finden durch den Zufall begünstigt. Man denke nur
an die gewaltigen Entdeckungen auf dem Gebiete der Naturwissenschaft in den
letzten Jahrhunderten und bis auf die letzten Tage. Die Beispiele sind bekannt
genug und brauchen hier nicht aufgezählt zu werden; aber so ist es zu allen
Zeiten gewesen. Die Heilkräfte von Pflanzen, die Nutzbarkeit tierischer
Stoffe, der Wert von Mineralien für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse
ist durch den Zufall zur Erkenntnis gelangt und hat das Leben der Menschen
erleichtert, die Hemmungen vermindert. Erfindungen werden zuweilen von fachmäßigen
Erfindern gemacht, aber auch dann nicht, ohne daß der Zufall zu Hilfe käme.
Für die Aufhellung geschichtlicher Ereignisse hat der
Zufall ähnliche Bedeutung. Der Spaten, der zu irgend einem anderen Zwecke
in den Boden eindringt, stößt auf ein Gräberfeld, auf
hinterlassene Reste früherer menschlicher Geschlechter. Durch Zufall wird
ein altes Denkmal, ein aufklärendes Buch, eine Handschrift, eine ganze
Sammlung von Aufzeichnungen aus uralter Zeit gefunden. Ein zwiesprachiger
Inschriftenstein erschließt die Kunde von einem alten Volke, seiner
Sprache und Schrift, seiner Geschichte und Literatur. Der Zufall des Klimas hat
den späteren nachfolgenden Geschlechtern uralte Aufzeichnungen versunkener
Geschlechter erschlossen, die zur Aufhellung der ganzen Entwicklung des
menschlichen Geschlechts mächtig beigetragen haben. Noch die letzten Zeiten
haben [33/34] Beispiele für die begünstigende Macht des Zufalls
geliefert, selbst auf dem Gebiete der Forschung der uns nächst verwandten Völker
und der Vorzeit der eigenen Nation. Ganze Städte des Altertums sind uns wie
reichgefüllte Schatzkammern unter der Erde aufbewahrt geblieben, um uns
eine Kenntnis der Lebensformen längst vergangener Geschlechter zu ermöglichen.
Und sehr oft ist es rein die Gunst zufälliger Umstände, die uns die größten
Meisterwerke der Literatur mitten in der zerstörenden Gewalt der
Jahrtausende erhalten und auf uns hat kommen lassen.
Werfen wir nun einen Blick auf die gewichtigsten äußeren
Ereignisse der Weltgeschichte, auf die Geschicke der Völker und Staaten,
Sieg und Niederlage, Aufsteigen und Versinken, so ist auch hier wieder die erste
Tatsache, die wir wahrnehmen, die gewaltige Macht des Zufalls in den großen
Entscheidungen der Geschichte. Die Schlachten werden durch überraschende
Wendungen, zuweilen von der äußerlichsten Art gewonnen oder verloren.
Die größte Flotte, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte, wird
durch ungünstige Winde zerstreut und versenkt. Eine ausbrechende Seuche im
Heere, ein unvorhergesehener Todesfall, zuweilen eine Reihe von solchen
Wendungen, auf die niemand sich einrichten konnte, bestimmt das Geschick der Völker.
Die Witterung mit ihren unendlichen Zufälligkeiten kann die edelsten
Anstrengungen, die am besten ausgesonnenen Pläne zum Scheitern bringen. Wir
erleben gerade in diesem Augenblick, wo es sich um Bestand oder Untergang
unseres Vaterlandes handelt, die ungeheure Wirksamkeit unberechenbarer äußerer
Zufälle für Gelingen und Mißlingen. So haben sich während
eines Aushungerungskrieges die Witterungsverhältnisse für die
Gewinnung von Lebensmitteln zur Erhaltung von Menschen und Tieren ungünstiger
gestaltet als in einer langen Reihe von vorangegangenen Jahren. Alle menschliche
Klugheit, alle Sorgfalt und Umsicht, alle Feinheit der Organisation und
Berechnung hat an solcher Zufälligkeit den gefährlichsten Widersacher.
Ein Staat erlangt neue Blüte durch zufällig gefundene [34/35] Bodenschätze
und verliert seine Bedeutung durch deren Erschöpfung. In aller Kürze
sei noch bemerkt, daß die ganze Gestaltung der Erdoberfläche mit Moor
und Land, Berg und Tal, Tief- und Hochebene, mit Wald und Wiese und. fruchtbarem
Ackerland, mit Pflanzendecke und Tierbestand ja eigentlich auch das Werk zufällig
wirkender, langsam aufbauender Kräfte ist, und daß also das Geschick
menschlicher Geschlechter durch die Art des von ihnen bewohnten Bodens wie durch
die gesamte Lage im Verhältnis zu den übrigen Ländern aufs
tiefste beeinflußt wird.
Der allerentscheidendste Gesichtspunkt aber ist der folgende:
aller menschliche Fortschritt, die ganze Arbeit der Kultur auf dem geistigen
Gebiete wie auf dem Gebiete der äußeren Bedingungen des
Menschenlebens hängen an einzelnen hervorragenden Persönlichkeiten.
Die Masse in ihren dumpfen Vorstellungen und dunklen Trieben schafft nichts als
die Grundlagen, auf denen kühne, schöpferische Geister von hoher
Genialität und mächtiger Willenskraft das Gebäude menschlicher
Kultur errichten. Gewiß lebt in den Massen eine gemeinsame Geistesmacht,
die alle Entwicklung beherrscht und in bestimmte Richtungen drängt, aber
eben diese Geistesmacht fordert für ihre bestimmte Ausprägung einzelne
große Menschen, die das, was in den Massen schlummert, mit Klarheit
aussprechen und mit besonnenem Wollen verwirklichen. Eben diese Persönlichkeiten
aber, an denen der ganze Gang menschlicher Entwicklung seine wirksamste
Bedingung hat, werden den Geschlechtern durch eine Gunst des Zufalls geschenkt.
Es ist nichts als Redensart, wenn man die Ansicht äußert, die
Tatsache, daß solche hervorragenden Individuen im menschlichen Geschlechte
zum Vorschein kommen, sei auf die Verkettung äußerer mechanisch
wirkender Ursachen zurückzuführen. Zu dieser Zeit, an diesem Orte wird
ein Mensch geboren mit diesen bestimmten Anlagen, diesem Charakter und dieser
Gemütsart. Die Umstände gestatten ihm, seine Gaben zu entfalten. Er
wird durch die Welle gehoben und gelangt an den Platz, wo er die
ausgedehn-[35/36]teste Wirksamkeit mit unübersehbaren Folgen zu üben
vermag, und fortan bleibt diese Gestalt im Gedächtnis der Menschen für
alle Zeiten als eine ihrer wertvollsten Erinnerungen und eines ihrer heiligsten
Besitztümer. Es sind Helden der Tat, Staatsmänner, Feldherren,
Techniker, gewaltige Unternehmer, oder es sind Denker, Männer der
Wissenschaft, Träger der Kunst, oder es sind machtvolle Propheten, Träger
der religiösen Bewegung, deren unverlöschlicher Eindruck die
Jahrtausende überdauert. Und nun zeigt sich weiter: diese besondere
Erscheinung mit aller ihrer Macht und Herrlichkeit, wie sie in dieser Lage, zu
dieser Zeit, diesem Geschlechte ist geschenkt worden, war in aller ihrer
Eigenart gerade in dieser Lage und in diesem Augenblicke der Zeit gefordert und
hat gerade durch diese Angemessenheit an ihre Umgebung die unvergängliche
Bedeutung erlangt, die ihr den Platz in dem Gedächtnis aller kommenden
Geschlechter errungen hat. Gewiß, der gemeine Verstand möchte auch
dieses gewaltigste aller Mysterien in die triviale Gewöhnlichkeit äußerer
Verkettung der Ursachen herabziehen. Vergebens, hier gerade bei der Erscheinung
der großen Persönlichkeit rühren wir unmittelbar an das
Geheimnis der weltlenkenden Geistesmacht. Es ist alles Zufall, alles Gunst äußerer
Umstände, das Leben und das Sterben, das Großwerden und das Wirken,
aber hier ergreifen wir den Sinn des tiefen Wortes am unmittelbarsten: Und was
uns blindes Ungefähr nur dünkt, gerade das steigt aus den tiefsten
Quellen. Mit pragmatischer Geschichtsklitterung ist hier gar nichts geleistet,
und die sogenannten naturwissenschaftlichen oder psychologischen Methoden
reichen an die hohe Idealität der Tatsachen in keiner Weise heran.
Hier, beim Blick auf das Reich der schöpferischen Geister,
die die Weltgeschichte gestalten, öffnet sich die dunkle Pforte, und wir
gewinnen den Durchblick in die unermeßliche Herrlichkeit des ewigen Herrn
des Weltalls, der alles in der Welt, die großen wie die kleinen Geschicke
leitet, indem er durch seine Sendboten und Rüstzeuge [36/37] seine göttlichen
Gedanken und Willensentschließungen an die Herzen und Sinne der Menschen
gelangen läßt, damit sie dort Wurzel schlagen und die ewigen Früchte
hervortreiben.
Die oberste Voraussetzung steht fest und bedarf keines weiteren
Nachweises: das Prinzip ist der Geist, und die äußere dingliche Welt
stammt aus des Geistes schöpferischer Tätigkeit. Die Dinge können
nicht den Geist hervorbringen, die Vernunft kann nicht aus der Unvernunft, das
Leben nicht aus dem Tode stammen. Aber der Geist ist die Macht, die alles
vollbringt; der Geist ist das Prinzip, das, indem es sich selbst setzt, zugleich
alles andere als sein äußeres Gegenbild zur Verwirklichung bringt.
Nur der völlige Mangel an Nachdenken kann uns die unzweifelhafte Tatsache
verbergen, daß das Erste, was uns im Bewußtsein gegeben ist, wir
selber sind und unser Denken, und daß erst dadurch uns die Welt der äußeren
Gegenstände sich erzeugt. Wenn es nun Leute gibt, wie die, von denen vorher
die Rede war, die meinen, wer den Geist als Prinzip setzt und zum Herrn über
alles macht, der könne unmöglich in diesem geistigen Universum dem
Zufall auch nur ein geringes Plätzchen, geschweige denn einen unermeßlichen
Spielraum zugestehen, so ist das die Schuld eines groben Mißverständnisses,
das doch bei einigem Nachdenken überaus leicht zu durchschauen und
aufzuhellen ist. Die Behauptung lautet also: der Geist ist es, der herrscht; er
leitet und gestaltet alles. Was heißt das ? Wo das eine herrscht, da, muß
ein anderes sein, was beherrscht wird, und wo es ein Leitendes und Gestaltendes
gibt, da muß ein anderes vorhanden sein, was der Leitung und Gestaltung
empfänglich ist und ihrer bedarf. Das Leitende ist der Geist, die Vernunft,
die Idee; also wird dasjenige, was geleitet wird, noch nicht vernünftig
sein, und die Tätigkeit der Vernunft wird die sein, dieses noch [37/38]
nicht vernünftig Gestaltete, aber solcher Gestaltung Fähige mehr und
mehr der Vernunft anzugleichen. Wir können ganz wohl uns der Ausdrucksweise
der Alten anschließen, die dieses noch nicht Vernünftige, aber der
Vernunft Fähige Materie nannten, wobei man allerdings nicht an bloße
dingliche Stoffe denken darf. Diese Alten erblickten dann im Geiste das Prinzip
der Form, des Begriffes, des wahrhaft Seienden, das der Materie, die immer nur
wird und noch kein volles wirkliches Sein besitzt, die Form als das Gepräge
der Vernunft in stetig aufsteigender Stufenreihe verleiht. Damit wird dann das
ganze daseiende Universum als die Stätte der Entwicklung aus der
Formlosigkeit und den niederen Formen zu immer höheren Formen begriffen,
und alle Unvollkommenheit, alles Werden, aller Mangel wird als Durchgang zu dem
letzten Ziele vernünftiger Gestaltung verstanden und dem Geiste angeeignet.
Dieser Gedanke ist unausweichlich. Vernunft ist die Tätigkeit, sich zu
verwirklichen. Gäbe es nicht Unvernünftiges oder minder Vernünftiges,
so gäbe es auch keine Vernunft; denn die Vernunft hätte nichts mehr zu
schaffen. Die Vernunft übt ihre Tätigkeit in dem Sinne, daß sie
das Unzweckmäßige zweckmäßig macht. Unzweckmäßigkeit
ist die Bedingung, ohne die von vernünftiger Tätigkeit in keiner Weise
die Rede sein kann. Soll Zwecktätigkeit sein, so ist es im höchsten
Grade zweckmäßig, daß es Unzweckmäßiges gibt, und
soll die Zwecktätigkeit andauern, so ist die Anforderung unabweisbar, daß
immer neue Unzweckmäßigkeit entsteht, die immer wieder überwunden
werden muß. Für die Zweckmäßigkeit in der Welt gibt es
keinen schlagenderen Beweis als das Vorhandensein und die ungeheuere Gewalt des
Unzweckmäßigen. Es ist der vollkommenste Mißverstand, die
vorhandenen Unzweckmäßigkeiten als Beweis gegen die Herrschaft des
Zwecks und der Vernunft in der Welt zu verwenden. In der großen Weltenuhr
ist es wie in jeder Turmuhr unmöglich, den Zweck zu erreichen, wenn nicht
fortwährende Hemmungen den Ablauf der Gewichte verhindern. Fehlt die
Hemmung, [38/39] so ist das Ergebnis das Nichts. Erst das Übel, das Leiden,
ja das Böse macht die Herrschaft des Guten verständlich. All dieses Übel
macht sich in furchtbarer Weise geltend, aber die Welt besteht. Das unermeßliche
Heer der Dinge treibt sich durcheinander. Die Welt droht in jedem Augenblick ins
Chaos zu versinken, aber das Chaos stellt sich nirgends ein; vielmehr die
Ordnung besteht und stellt sich immer wieder her. Mit Wellen, Stürmen,
Schütteln, Brand, geruhig bleibt am Ende Meer und Land." Das Gleiche
gilt für alles natürliche wie alles geistige Dasein. Wieviele
hab' ich schon begraben", sagt der böse Geist, und immer
zirkuliert ein neues, frisches Blut." Die ewigen Gestalten erneuern sich,
die Gattungen der Dinge bleiben, die Formen des Geschehens, die wir Gesetze
nennen, sind ewig. In dem bacchantischen Taumel aller Dinge, in dem rastlosen
Fließen, in dem Auftauchen und Verschwinden kehren immer die gleichen
Bedingungen wieder für die gleichen Vorgänge. In dieser Welt, die uns
umgibt, ist viel Unvernünftiges, es bedrängt uns hart; aber das Bild
der Welt bleibt immer dasselbe. Die Herrschaft bleibt bei der Vernunft, und die
Vernunft in der Welt draußen ist dieselbe wie die, die wir in unserem
Denken und Wollen in uns tragen. Und so bleibt uns die Welt mit ihrem unveränderlichen
vernünftigen Gehalte trotz alledem und alledem verständlich und
vertraut. Sie gehört zu uns, wir gehören zu ihr: das All ist dennoch
das gewaltige Zeugnis von dem Geiste und seiner Macht, der sich alles schließlich
beugen muß.
Um diese Sätze zu erläutern, genügt es, einen
Blick auf die Erscheinung der geschichtlichen Persönlichkeiten zu werfen,
von der wir zuletzt gehandelt haben; sie ist besonders bezeichnend. Blicken wir
auf eine längere Zeitreihe in der geschichtlichen Entwicklung zurück,
und fassen wir die Gestaltungen ins Auge, die während dieser Zeit das
menschliche Leben und die menschliche Betätigung angenommen haben, so
finden wir, daß durch die Tätigkeit eben jener durch den Zufall
hervorgebrachten Persönlichkeiten mit ihren Gaben und Eigenschaften ein
innerlich vernünftiges Ergebnis in folge-[39/40]richtiger Weise sich
hergestellt hat. Das Zufälligste von allem Zufälligen erscheint eben
auf diesem Gebiet in dem Reiche menschlicher Persönlichkeiten, wie sie
aufeinander folgen, einander ablösen, durch ihre Leistungen einander ergänzen,
einer dem andern das halbvollendete Werk zu weiterer Durchführung überliefern.
Und siehe da! Diese zufälligen Persönlichkeiten bieten nunmehr dem
sinnigen Betrachter nicht mehr das Schauspiel der Zufälligkeit dar. Ihre
Aufeinanderfolge in aller ihrer Zufälligkeit trägt den Stempel einer
inneren vernunftgemäßen Notwendigkeit. Die Idee der Sache hat sich
vermittelst dieser zufälligen Persönlichkeiten im äußeren
Dasein eine vernunftgemäße Verwirklichung gegeben, und die
Stufenfolge der einzelnen Gestalten zeigt selbst wieder eine bedeutsame, in der
Sache wurzelnde Ordnung. Die Stilarten, die Darstellungsformen, die
Auffassungen, die technischen Vervollkommnungen in den Künsten zeigen eine
innerlich sinnvolle Entwicklung, die sich aus dem Prinzip ergibt. Das gilt für
bildende Kunst, Tonkunst, poetische Literatur in ganz gleicher Weise und macht
eine wirkliche Kunst- und Literaturgeschichte möglich, die zugleich die
Natur der Sache und den Genius des Volkes wie das innere Geistesleben des
Zeitalters aufhellt. Die hauptsächlichsten Seiten der Sache treten
nacheinander an das Licht, die verschiedenen Momente, die als Teilanschauungen
auf dem jedesmaligen Gebiete durch die Sache gegeben sind, schließen sich
erschöpfend zu einem verständlichen Ganzen zusammen. Dieses Aufsteigen
erreicht einen Höhepunkt, auf den ein allmähliches Absteigen folgt. An
anderer Stelle, zu anderer Zeit wird dann die Reihe in ebenso verständlicher
Weise fortgesetzt. Die Zufälligkeit wird damit natürlich nicht
ausgetilgt; aber so ganz zufällig ist sie doch nicht gewesen, sie wird über
sich selbst hinausgehoben und mündet in das Gebiet der Vernünftigkeit
ein.
In den Entwicklungen des wissenschaftlichen Gedankens, in
Philosophie, Naturwissenschaft, Weltgeschichte, - überall dasselbe
Schauspiel. In der Technik erst recht wird das [40/41] Nachfolgende durch
Vorangegangenes bedingt uni hervorgerufen, und die Zufälligkeit der Persönlichkeiten
hat auch hier einen ausgedehnten Spielraum. Ebenso für das innere Leben von
Staat und Recht ist die Natur der Sache das organische Band, das alle Zufälligkeiten
der Erscheinung im einzelnen gleichmäßig umfaßt und zu einer
inneren Einheit zusammenschließt. Mag in alledem noch so viel Zufälliges
nebenbei mitspielen: das innere Gesetz der Sache behält die Herrschaft in
sicherer Hand und weiß das Zufällige in Ereignissen und in Personen für
seine Zwecke geschickt zu verwenden. Diese Einsicht ist Geradezu der größte
Gewinn, den die Wissenschaft der Geschichte als Staaten- wie als
Kulturgeschichte in den letzten Jahrhunderten gemacht hat. Als solche Zufälligkeiten,
die für das große Ganze verwendbar mitwirken, müssen nun auch
die Leistungen der minder bedeutenden, der kleineren, enger begrenzten Gestalten
richtig eingeschätzt werden. Auch das Tagesinteresse verlangt seine
Befriedigung. Es kann geschehen, daß das, was heute am meisten gerühmt
wird, nach kurzem Zeitraum vergessen ist, und daß solches, was heute übersehen
wird, sich als das dauernd Wirksame erweist. Immer aber gilt der Satz: das Echte
bleibt der Nachwelt unverloren. In der gegebenen Lage reizt es viele, an dem
eben vorliegenden Problem mitzuarbeiten. Die bei weitem größere Zahl
verfehlt den Kern der Sache und setzt an einem falschen oder an einem nebensächlichen
Punkte ein. Aber einer ist unter der Menge, der trifft eben das, was durch die
Notwendigkeit der Lage gefordert ist, und er erringt den Kranz der
Unsterblichkeit. Die Geringen mögen sich mit dem Troste begnügen, daß
sie mitgeholfen haben, an dem Sockel zu bauen, auf dem die Gestalt des
klassischen Meisters durch alle Folgezeit weiter strahlen wird.
Schließlich gilt doch auch von der äußeren
Natur etwas Ähnliches. Das Zufällige tritt überall in die
Erscheinung, aber die Herrschaft gebührt nicht ihm, sondern dem Gesetz.
Alle Veränderung erhält sich in maßvollen Grenzen. Die Gestirne
verfolgen ihre Bahnen; sie werden [41/42] abgelenkt, aber die Ablenkungen in dem
einen und dem andern Sinne gleichen sich immer wieder aus. Die Erscheinungen im
Luftraum, die Erschütterungen des Erdbodens, das Emporsteigen und
Niederfallen des Wassers sind ein Gebiet unabsehbarer Zufälligkeit. Aber
nach längerer Zeit erweist sich, daß alle diese Erscheinungen, auch
die Wärmegrade, die Regenmenge, der Luftdruck, die magnetischen Ablenkungen
um eine mittlere Zahl herum schwanken, die mit einer Art von Geschicklichkeit
die Abweichungen in Schranken hält. Die Pflanzendecke der Erde, die
Tierwelt zeigen im ganzen und großen trotz aller Veränderungen im
Einzelnen, ja trotz der mächtigen Eingriffe der menschlichen List und Macht
einen gleichmäßigen Bestand. Wolken und Winde haben ihre Art von
Regelmäßigkeit, und die späten Geschlechter wandeln im
wesentlichen auf demselben Grunde, auf dem vor Jahrtausenden die
Menschengeschlechter gewandelt haben.
Und nun erst die großartige Erscheinung, die die Welt des
Lebendigen bietet in ihrem Widerstande gegen das, was sie bedroht. Wie mit einmütigem
Haß dringen alle Kräfte im Weltall auf das Lebendige ein. Vom
niederen Organismus an bis zum höchsten ist das Lebendige gezwungen, im
beständigen Kampfe sich zu behaupten; und wirklich, es behauptet sich. Die
Einzelwesen vergehen, die Gattungen bleiben. Spielarten und Varietäten
sterben aus, aber die beherrschenden Grundformen kehren wieder. Millionenfach stürmen
die Zufälligkeiten gegen das Lebendige an, aber nicht diese Zufälligkeiten,
sondern die gedankenvollen Lebensformen behalten die Oberhand. Unzweifelhaft nun
bedeutet unter allem Lebendigen der Mensch die zusammengesetzteste, am reichsten
gegliederte und zu den vollkommensten Wirkungen geeignete Gestalt. Damit
zugleich ist der Mensch unter allen die am meisten bedrohte, die am wenigsten
geschützte, die mit den größten Schwierigkeiten des Bestandes
behaftete Gattung des Lebendigen. Diese Schwierigkeiten werden noch gesteigert
durch die dem menschlichen Geschlechte und damit auch [42/43] dem einzelnen
Menschen in der Ordnung der Dinge gestellten Aufgaben und durch die zur Lösung
dieser Aufgaben erforderten Tätigkeiten. Und dennoch besteht die Menschheit
weiter. In normaler Entwicklung mehrt sich die Zahl der Menschen, wächst
die Lebensdauer, steigern sich leibliche Kraft und geistiges Vermögen. Die
Widerstandskraft den äußeren Gefahren gegenüber erweist sich
nach längeren Zeiträumen als erhöht. Alle Macht der Zufälligkeit
ist auch in diesem Falle eine beschränkte. Der Zufall spielt mit; aber
seine Rolle ist die eines Dienenden. Er umspielt mit vielfach gewundenen Linien
die regelmäßigen und gesetzlichen Zusammenhänge; aber er vermag
nicht, sie zu zerstören. Indem er das Geordnete fortwährend bedroht,
fordert er die Widerstandskraft heraus und treibt dazu, höhere Grade von
Vollkommenheit zu erreichen.
Die furchtbarste Macht entwickelt der Zufall in der Form
menschlicher Vorstellungen, Meinungen, Triebe und Begierden. Sie sind
schlechthin unberechenbar und bei der Menge der Menschen immer auf dem Sprunge,
in wildes, phantastisches, wüstes Wesen und Treiben auszuarten. Diese Zufälligkeit
menschlicher Antriebe und Handlungen irgendwie aufheben oder auch nur wesentlich
einschränken zu wollen, wäre ein ganz aussichtsloses Unternehmen.
Vielmehr, je weiter sich das Menschliche durchbildet, desto größer
werden die Unterschiede zwischen den einzelnen Personen, desto weiter gehen die
Erscheinungen der Innerlichkeit auseinander, desto wirrer wird das Getriebe der
Zufälligkeit in den Äußerungen der Innerlichkeit. Und dennoch
beobachtet man, und gerade bei den Völkern der höchsten Bildungsstufe,
in den Trieben und Handlungen der Menschen, wie sie in die äußere
Erscheinung treten, ein gewisses Maß von Regelmäßigkeit. Auf
eine gewisse Anzahl von Menschen fällt für gleiche Zeiträume je
nach der Art des Volkes und seiner Zustände und Einrichtungen eine gewisse
Zahl von Erscheinungen gleicher Art: Eheschließungen, Geburten, Todesfälle,
Selbstmorde, Bankbrüche, Vergehungen und Verbrechen. Die Zahlen schwanken
[43/44] um eine mittlere Linie von Jahr zu Jahr. Aber wenn die Umstände
sich nicht gründlicher ändern, bieten sie dem Beobachter eine gewisse
regelmäßige Wiederkehr dar.
Die Tatsache ist richtig: aber die Gedankengänge, die sich
daran anschließen, sind vielfach sehr sonderbar. Man macht aus dieser
Regelmäßigkeit ein blindwirkendes Gesetz mechanischer Notwendigkeit,
als ob die einzelnen gezwungen wären, noch schnell dieses oder jenes zu
tun, damit mir die Zahl ausgefüllt werde, die erwartet wird. ja, man hat
daraus einen handgreiflichen Beweis entnommen gegen die Freiheit des
menschlichen Willens. Von alledem kann natürlich nicht die Rede sein. Die
Erscheinung schließt sich als gleichartig den andern von uns
aufgezeichneten an. Die Zufälligkeit ist nicht schrankenlos" auch in
ihr erhält sich eine gewisse Gleichmäßigkeit. Die Zufälligkeit
des menschlichen Beliebens, so ausgelassen und wunderlich sie sich bei den
Einzelnen darstellen mag, hebt doch in keiner Weise die Kennzeichen der
Gemeinsamkeit des menschlichen Wesens auf. Auch die äußerste Willkür
und der befremdlichste Einfall behalten doch mit Art und Weise der anderen
Menschen eine gewisse Verwandtschaft bei. Bleiben die äußeren
Bedingungen, unter denen die Einzelnen ihr Leben führen, innerhalb eines
Volkes im ganzen und großen dieselben, so werden auch die Ergebnisse der
Zufälligkeit der Einzelnen mit ihrer Innerlichkeit und ihren Betätigungen
ungefähr dieselben bleiben.
Zufall und Zufälligkeit werden durch den Gedanken erfaßt.
Sie werden nicht unmittelbar empfunden wie etwa Wärme und Durst; sie werden
nicht wahrgenommen wie die grüne, Farbe oder der hohe Ton, nicht angeschaut
wie das neue Haus oder das schnelle Pferd. Die Vorstellung des Zufalls nähert
sich dem strengen Gedanken. Sie enthält schon den Gegensatz zu dem, was
nicht Zufall ist, zu Ordnung, Regel und Gesetz. Wir haben gesehen, daß
[44/45] es viele Arten der Begründung des einen durch das andere gibt, daß
diese Arten von der reinen Äußerlichkeit aufsteigen bis zur tiefsten
Innerlichkeit des Geistes, und daß sie sich alle zu einer vollkommenen
Einheit zusammenschließen, in der jede Art des Grundes den andern dient.
Sicher ist, daß auch die äußerlichste Form der Begründung,
die durch mechanisch wirkende Ursachen, eine gedankliche Bestimmung darstellt,
daß der Gedanke lind der denkende Geist nicht ausgeschlossen werden können,
wo von Grund und Folge die Rede ist. Alle diese Arten des Verhältnisses von
Grund und Folge sind durch einen höchsten Gedanken festgestellt und bilden
eine geistige Ordnung, die sich in der vom Geiste durchdrungenen Welt
durchsetzt. In dieser von der Vernunft gestalteten Welt kann es nichts geben,
was schlechthin tot, schlechthin vernunftlos wäre. Was so erscheint, ist
selbst nur Durchgangspunkt; es ist von der Vernunft gesetzt und dient ihrer
Verwirklichung als eine Seite an der Vernunft selber. Das Irrationelle, das
Alogische, wie man es nennt, liegt nicht rein außerhalb des Kreises des
Rationellen und Logischen. Auch das Unbestimmte hat seine Bestimmtheit und das
Formlose seine Form. Der Gegensatz ist kein absoluter, nur ein verhältnismäßiger.
Wir treten damit aus dem Reiche der Begriffe nicht heraus. Die Vernunft greift über
und bezwingt das ihr Widerstrebende, Vernunftlose, das immer nur im Werden ist
und niemals zu wirklichem Sein gelangt.
Der Zufall stammt aus vernünftiger Ordnung. Er erscheint an
dieser als ihr relatives Gegenteil. Die Spuren dieses Ursprungs aus der Vernunft
werden am Zufall irgendwie zu erkennen sein. Wenn irgendetwas ist, besteht und
sich erhält, so wird dabei gleich mitgesetzt, daß das Bleibende,
Begriffe, Gattungen und Gesetze, solchen Bestand und solche Selbsterhaltung ermöglichen.
Am einfachsten und unmittelbarsten stellt uns die Mathematik die Gedanken des
absoluten Geistes dar, der dies ganze System erdacht hat, ehe denn der Dinge
Grund gelegt war, der alles [45/46] nach Zahl und Grad, nach Maß und
Gewicht ordnet und so erst den Bestand einer Welt möglich macht. Inhaltlich
tritt nun das Reich der Formen und Bestimmtheiten, die Elemente und ihre
Zusammensetzungen als ein glanzvolles Gedankensystem von nie zu erschöpfender
Herrlichkeit hinzu, um ein Reich der Natur zu begründen; und darauf als auf
seiner Grundlage erhebt sich dann das Reich der Geister, in dem der absolute
Geist seinen eigenen Inhalt auseinanderlegt. So erst vollendet sich in dem
geschichtlichen Leben der Menschheit die Herrlichkeit des Universums.
Der Geist ist Freiheit, der absolute Geist hat die Freiheit
nicht für sich vorbehalten. Der Geist ist dem Lichte gleich, das sich
mitteilt und in unendlich reicher Abstufung in der Vielheit seinen Glanz
offenbart. Ist eine Welt gegeben, so ist eine unerschöpfliche Menge Vieler
vorhanden und diese Vielen bestehen zusammen. Sie stören einander, sie
hindern einander, aber sie vertragen sich miteinander. Sie sind kompossibel und
ihre Bewegungen, die irgendwie ein Abbild der ihnen verliehenen Freiheit sind,
ergeben eine Harmonie, die, beständig gestört, beständig sich
erneut und so eine innerlich zusammenhängende Welt ergibt. Wer eine Welt
denkt, denkt notwendig auch den absoluten Geist mit, dessen Gedanken die Welt,
und was in ihr ist und sich bewegt, schaffen und erhalten.
Der Zufall ist eine Abweichung von Bestimmungen, Regeln und
Gesetzen, die die Welt durchdringen. Zufall gibt es nur in einer geordneten
Welt. Wer den Zufall denkt, denkt die Ordnung mit, und wer die Ordnung denkt,
der denkt auch den Zufall. Der Zufall verleiht der Vernunft die Möglichkeit
ihrer Betätigung. Wer Form, Regel, Gesetz denkt, darf von dem Formlosen,
Regellosen, Gesetzlosen nicht absehen; denn der Bestand von Form, Regel und
Gesetz ist stetige Aufhebung und Wiederherstellung. Die Abweichung selber stammt
aus der Vernunft, die Vernunft setzt den Zweck, und der Zweck ist eben die
Erhaltung des geordneten Ganzen, das stetig in Bewegung [46/47] ist und stetig
aus dem Wirrwarr der Bewegung sich neu erzeugt. In einer geordneten Welt bildet
das Heer der Unvollkommenheiten, der Übel Lind des Bösen keinen
fremden, sondern einen notwendig mit eingeschlossenen Bestandteil. Ist das Übel
durch die Vernunft gesetzt, so wird es auch durch die Vernunft stetig überwunden.
Das Übel also ist nicht ganz und gar Übel, denn es gehört mit zu
der harmonisch geordneten Welt. In diesem Sinne ist der Optimismus als die Lehre
von der besten Welt, wenn auch nicht gerade in dem Sinne der besten aller möglichen
Welten, das sichere Ergebnis einer klaren und denkenden Überlegung, die
zugleich den Geist als den Urheber alles dessen, was erscheint, und die
Bedingungen für den dauernden Bestand einer Vielheit von Gestalten klar und
sicher ins Auge faßt. Optimismus ist die Lehre von einer durch die
Vernunft gesetzten und erhaltenen Ordnung der Welt, die sich in unausgesetztem
Kampfe mit dem Heere der Hemmungen und Widerstände eben durch die Macht der
Vernunft selbst immer wieder herstellt. Das, schlagendste Zeugnis für
diesen Grundzug in der gesamten Welterscheinung ist der Zufall, der überall
auftritt, um überall von der Ordnung der Welt überwunden zu werden.
Aus dem Geiste ist die Welt entsprungen; der Geist stellt sich
in ihr dar. Der Geist ist nicht neidisch; er teilt sich dem, was er schafft,
mit. Auch das Geschaffene hat seinen Teil an der Selbständigkeit und
Einheit, die der Charakter des Geistes ist. Alles, was da ist, hat irgend eine
Art, irgend einen Grad von Innerlichkeit, und das Bewußtsein hört
nirgends völlig auf. Allem, was da, ist, sind innere Kräfte
mitgegeben, nichts wird bloß von außen gedrängt und gestoßen;
eine Analogie zum Lebendigen durchdringt das ganze Universum bis auf die
niederste seiner Gestalten herab. Mit dieser Analogie des Lebens [47/48] ist
auch ein Abglanz der Freiheit, und sei es in mattester und schwächster
Spiegelung, gegeben. Noch im niedersten Tier, in der einfachsten Pflanze zittert
ein Nachhall von Empfindung und Innerlichkeit, von Trieb und Begehren, und was
uns als tote Materie erscheint, ist dem Nullpunkte des Lebens wohl nahegekommen,
aber immer im Begriff, irgendwie in den Lebensprozeß einzutreten und als
Bestandteil und Glied zum Leben mitzuwirken. Aus schlechthin totem Material ließe
sich kein lebendiger Organismus aufbauen. Das Eisenteilchen, das im Blute des
Denkers kreist, nimmt an der Gesamtleistung des Organismus nicht nur seinen
Anteil, sondern wirkt ausdrücklich zu ihr mit.
Aber alle diese Vielheit der Wesen mit ihrer vielfach
abgestuften Selbständigkeit ergibt doch kein chaotisches Durcheinander. Die
vernünftige Ordnung ist allen Wesen eingeboren. Sie tritt nicht von außen
an sie heran, um sie wie ein Fremdherrscher mit äußerer Gewalt zu zügeln
und zu bändigen. Alle diese Wesen mit dem Anklange an Freiheit, der ihnen
zukommt, sind innerlich gebunden und gehalten durch die Einheit der Welt, aus
der sie stammen, und die sie durchdringt. Man wird darin den Gedanken der prästabilierten
Harmonie wiederfinden und seine Begründung würdigen können. Der
Begriff der Zeit als der Vorausbestimmung wird zu weichen haben der Einsicht, daß
diese Harmonie von Ewigkeit her in jedem Augenblicke gleichmäßig
wirksam bleibt und ihre gestaltende Macht durch alle Störungen hin
behauptet. Es ist ein ganz richtiges methodisches Verfahren, von dieser
Innerlichkeit zunächst zu abstrahieren und die die Welt bauenden Kräfte
als rein äußere mechanische, und ihre Wirksamkeit als eine zufällige
zu fassen; aber man darf diese Methode nicht zu einem Dogma von dem die Welt
herstellenden Mechanismus ausbauen und damit aller Erfahrung und allen Tatsachen
zum Trotze Vernunft und Zweck in der Welt leugnen.
Es liegt in der Menschen Natur eine dunkle Ahnung von der im
Zufall sich behauptenden innerlichen Bedeutung [48/49] des Geschehens. Eben der
Zufälligkeit des Geschehens wegen läßt sich das Kommende nicht
voraussehen; aber die Menschen verzichten nicht darauf, aus allerlei äußerem
Geschehen auf das Kommende zu schließen. Die Umläufe der Planeten und
von Sonne und Mond müssen ihnen dazu verhelfen, kommende Schicksale
vorherzusagen. Der Vogelflug und die Eingeweide der Opfertiere, zufällige
Begegnungen mit Tieren und Menschen, unscheinbare Ereignisse stellen sich ihnen
als bedeutungsvolle Vorzeichen dar, auch wenn der Wahn und Aberglaube, der aus
solchem Deuten ein Gewerbe machte, längst überwunden ist; ein stilles
dunkles Gefühl des Ahnens und Vorausschauens bleibt in der Brust des
Menschen lebendig, als ob das äußere Geschehen mit den Hoffnungen und
Wünschen, mit den Sorgen und Befürchtungen der Menschen in
geheimnisvoller Beziehung stände.
Das Schauspiel menschlichen Lebens ist zum großen Teil erfüllt
von dem Streben, den inneren Kräften nachzuhelfen, die in der äußeren
Welt tätig sind, um den zufälligen Abweichungen zu wehren. Denn so
wird dem menschlichen Geschlechte dauernder Wohlstand gesichert. Mag immerhin
die neue Einrichtung, das neue Hilfsmittel, das dazu dienen soll, auch wieder
neue gelegentliche Gefahren und Schädlichkeiten mit sich bringen: im ganzen
und großen wird durch die neue Maschine, die neue Art von Landstraßen,
die neuen Wege der Mitteilung der Vorrat an zugänglichen Gütern stetig
vermehrt, die Bedrohung durch äußere Schädlichkeiten stetig
vermindert. Die fortschreitende Gewinnung der Kräfte und Stoffe der Außenwelt
geht ins Unendliche fort ohne abschließende Grenze, und dem Zufall wird
sein Spielraum immerfort weiter eingeengt. Eben dahin wirkt nun auch die
Wissenschaft, die die Erfahrungen sammelt, die Gründe der Erscheinungen
kritisch feststellt und damit die Mittel zur Abwehr und Förderung an die
Hand gibt. Krankheiten und Seuchen werden mehr und mehr zurückgedrängt.
Die Schäden für Leben, Gesundheit, Stärke der Menschen werden
abgewehrt. Die Lebensdauer der Menschen und ihr leibliches Wohl-[49/50]befinden
wachsen mit dem zunehmenden Wohlstande und dem Reichtum an äußeren Gütern.
Die Zufälligkeit selber, die die unberechenbare Innerlichkeit der Menschen
im Begehren und Handeln, in Ansichten und Meinungen mit sich bringt, wird durch
die aufklärende Wirkung der Wissenschaft mit steigendem Erfolge bekämpft.
Erziehung und Gewöhnung, die Institutionen des Staates und Rechtes, die
herrschende Sitte, die Moral, die Religion, - alles wirkt zusammen, um selbst in
der zufälligen Eigentümlichkeit der Personen die Gefahr der Abweichung
von Norm, Regel und Gesetz mit steigendem Erfolge zu verhüten.
Man darf das aber nicht allein auf menschliche Klugheit und
Geschicklichkeit, auf Wissenschaft und Technik schieben. Der gleiche Zug geht in
abgeschwächter Weise durch alle Dinge in der Welt. Gewiß stehen die
einzelnen Dinge im Kampfe miteinander, wobei jedes seinen Platz und seinen
Bestand den Angriffen der anderen gegenüber zu wahren bemüht ist; aber
es ist kein richtiger Gedanke, in diesem Kampfe ums Dasein und ums Wohlbefinden
äußere mechanische Ursachen zu sehen und nun gar die aufsteigende
Reihe der Gattungen des Lebendigen als Wirkungen mechanischer Kräfte durch
lange Zeiträume anzusehen. Wäre nicht ein inneres Maß in den
Dingen, das schon in den ersten Elementen und immer klarer sich aussprechend in
den zusammengesetzteren Gebilden sich tätig erweist, wäre nicht eine
zielsetzende, oberste, leitende Kraft in allem Geschehen der äußeren
Welt tätig: es könnte keine gebildete Gestalt, keine einheitliche Form
weder entstehen noch sich erhalten, geschweige denn, daß die niemals genug
zu preisende Herrlichkeit der Gestaltung der lebenden Wesen in ihrer unübersehbaren
Fülle durch die Wirkung äußerer Kräfte sollte erklärt
werden können. Die ideelle Einheit der geringsten der organischen Wesen
setzt den weisen Gedanken des Baumeisters ebenso voraus, wie der edel geformte
Tempel oder der Dom im Schmucke seiner zum Himmel ragenden Säulen.
Dies innere Maß in allen Dingen leugnen zu wollen, ist
ganz vergeblich. Der denkende Mensch erwartet nicht [50/51] bloß, er
fordert geradezu von den Dingen, daß alle zufällige Abweichung und
Unregelmäßigkeit durch das innere Maß in Schranken gehalten
wird. Wo wir es noch nicht erkundet haben, da. suchen wir danach und harren
geduldig, bis es endlich dem Suchenden sich erkennbar darstellt. In dem
launenhaftesten, willkürlichsten, unberechenbarsten Geschehen vermuten wir
mindestens eine Ordnung der periodischen Wiederkehr und lassen nicht ab zu
beobachten, bis sich die Vermutung bestätigt. Die furchtbarste Seuche tötet
nicht alle Menschen, nicht alle sind für das Gift empfänglich; viele
haben die Kraft des Widerstandes. Endlich erlischt die Seuche auch, wo
menschliche Kunst sich unzulänglich erwiesen hat, wie von selber. Die
furchtbarste Feuersbrunst findet ihre Begrenzung, die Überschwemmung waltet
auf abgemessenem Raum in abgemessener Zeit, die verderblichste Erderschütterung
übt ihre zerstörende Wirkung auf einzelnen engen Gebieten. Und nun gar
die lebendigen Wesen. Sie alle bringen ihre Schutzkräfte gegen die äußeren
Zufälligkeiten, ihre inneren Vermögen, das Schädliche zu meiden,
das Förderliche zu suchen, ihre sogenannten Instinkte, die Antriebe, das
der Erhaltung der Gattung Dienliche herzustellen und dem Naturzweck hilfreich zu
sein, als einen unveräußerlichen Bestandteil ihrer Organisation mit
sich. jetzt ist es Mode, daß die Wohlgesinnten einzelne auffallende
Beispiele zum Erweise dafür beibringen. Im achtzehnten Jahrhundert war man
gescheit genug, nicht erst solche Einzelheiten als Beweismittel aufzuhäufen;
man ließ eben die Sache für sich selber zeugen, die ja nicht hie und
da, sondern überall in der Welt uns entgegentritt.
Wir unterscheiden in dem ganzen Umfange der Welterscheinungen
drei Reiche: das Reich der äußeren Dinge in Raum und Zeit, das Reich
der seelischen Innerlichkeit und das Reich des Geistes. Dieses dritte Reich führt
die Herrschaft über alles, was ist, und stellt in der scheinbaren Trennung
die überwältigende Einheit her. Hier, in diesem letzten der drei
Reiche waltet der Begriff mit deutlichster, unverkennbarster Macht. Der Begriff
kennzeichnet sich [51/52] als Allgemeines, welches das Einzelne unter sich befaßt.
Wir haben den Zufall kennen gelernt als die Einzelheit schlechthin als die
Abweichung von dem Allgemeinen, von der Gattung des Seienden und dem Gesetze des
Geschehenden. Was der Zufall seinem innersten Wesen nach ist und was er im
Zusammenhange des vernünftigen Ganzen bedeutet, das wird uns am leichtesten
erkennbar, wenn wir den Begriff als solchen ins Auge lassen und sein Verhältnis
zu dem Einzelnen, das er unter sich befaßt, mit möglichster
Bestimmtheit festlegen.
Die Welt ist eine. Sie zerfällt nicht in Teile, als wäre
sie mit dem Beile zerhackt. Es fehlt der Welt nicht an dem inneren Band, gleich
einem Drama, das aus Episoden bestände. In der Welt bewegt sich die
unendliche Vielheit; aber die Einheit greift darüber hinaus, und diese
Einheit kann nur die Einheit des Gedankens sein. Denn die Dinge sind ein Außereinander,
Nebeneinander, Durcheinander und bilden kein Band der Einheit, die die Vielheit
umfassen könnte. Aber der Gedanke ist eine Einheit, die die Vielheit in
sich trägt, und diese gedankliche Vielheit geht durch ihre eigene
Bestimmtheit in die Einheit zusammen. Das Eine, was ist, ist der Geist; des
Geistes Tat aber ist der Gedanke, dieser ist Einheit und setzt Einheit. Im
Seienden ist keine unverbundene Zweiheit, keine Gegensätzlichkeit ohne
inneres Band. Alles Gesonderte geht auf die oberste Einheit zurück; aus ihr
fließen die Unterschiede und die Gegensätze; sie erhält sich in
allem Getrennten. Diese Einheit ist Geist, und aus dem Geiste muß das
gewaltige Schauspiel dieser Wunderwelt verstanden werden.
Der Mensch, wie er gefunden wird, ist in die Sinnlichkeit
versenkt und hält die Dinge draußen für das eigentlich Seiende
und Selbständige. Er weiß weder von sich, noch von seinem Denken. In
seiner Vorstellung verfließt er mit der Außenwelt, als wäre er
ein Ding unter Dingen. Das ist der Standpunkt, auf dem der Säugling steht,
wenn [52/53] er aus der Wiege heraustritt, um sich auf seine eigenen Füße
zu stellen. Wie wenige Menschen gelangen überhaupt über diesen
Standpunkt hinaus! Und doch darf man von jedem, zu folgerichtigem Denken
erzogenen Menschen verlangen, daß er von sich und seinem Denken wisse, die
äußere Welt nicht sich als gleichartig oder gar sich als abhängig
von ihr betrachte. Der vernünftige Mensch kann es wissen, daß seines
Geistes Art, seines Denkens Notwendigkeit ihm auch die äußere Welt
erzeugt.
Es ist dem Menschen versagt, völlig aus dem Denken
herauszugeraten. Schon im dumpfen Elemente der menschlichen Innerlichkeit ist
das Denken wirksam, mindestens als ein leiser Ansatz, ein der Entwicklung bedürftiger
Keim. Normale Entwicklung fördert dies Denken von Stufe zu Stufe, bis der
denkende Mensch sein eigenes Denken beobachtet, zergliedert und richtet. Die
Form, in der das Denken sich vollzieht, wenn es zur Vollendung gelangt, ist der
Begriff. Der Begriff als die Einheit, die eine Vielheit in sich umschließt
und eine Vielheit aus sich erzeugt, trägt den Charakter der Allgemeinheit.
Was der Mensch, wie er gefunden wird, zunächst in seinem Bewußtsein
hat, das ist die Menge des Einzelnen; daß er das Allgemeine denkt, ist ihm
nicht von vornherein klar. Er hält das Sinnliche, wie es sich seinem Bewußtsein
darstellt, für sinnlich und weiß nicht, daß es ein Gedachtes,
und zwar ein als sinnlich Gedachtes ist. In Wirklichkeit kommt der Mensch auch
im Gebiete des Sinnlichen aus dem Gedanken nicht heraus, beide Gebiete, das
Geistige wie das Sinnliche, sind Gebiete innerhalb des Denkens. Daß das
Allgemeine durch den Gedanken erzeugt wird, wird zugegeben. Das Einzelne dagegen
wird als von außen gegeben, als vorgefunden, als das Äußerliche
schlechthin betrachtet; man hat dabei immer nur die äußere Welt der
Dinge im Auge. Aber was der Mensch innerlich hat, ist nicht bloß
Bestandteil seiner Innerlichkeit: es ist aus seiner Innerlichkeit entsprossen
und trägt das Gepräge seines Denkens. Mithin liegen das Allgemeine und
das Einzelne nicht außereinander wie zwei getrennte Welten; geistigen
Ursprungs [53/54] ist das Einzelne ebenso wie das Allgemeine. Die Gewöhnung
der Menschen ist allerdings die, daß sie das Einzelne als ein Wirkliches,
das Allgemeine als ein vom Geiste Erfundenes und Hinzugedachtes ansehen, das
nichts Wirkliches sei. Wenn aus dem Geiste erzeugt sein so viel bedeutet wie
Unwirklichsein, dann ist das sinnlich Einzelne genau so unwirklich wie das
Allgemeine. Wirklichkeit gibt es nur vermittelst des Geistes, und die sinnlichen
Dinge schöpfen ihre Wirklichkeit aus derselben Quelle wie die allgemeinen
Begriffe. Damit ist auch die Vorstellung abgetan, als sei das Allgemeine etwas für
sich Bestehendes in einer Art äußerer Existenz. Es ist nicht wieder
dingartig, nur mit dem Charakter der Ewigkeit vorgestellt. Andererseits ist das
Sinnliche nicht bloß als abstrakter Gegensatz zum Geistigen zu fassen, es
ist geistiges Erzeugnis und trägt geistige Natur.
Der Streit ist uralt und kehrt immer wieder. Alles in der Welt
wird unverständlich, wenn man an dieser äußeren Gegensätzlichkeit
zwischen Allgemeinem und Einzelnem festhält. Man muß die
Vorstellungen von der sinnlichen Welt, von den Dingen mit ihrer
Undurchdringlichkeit hier abtun; sie passen nicht für das Gebiet des
geistigen Seins. Der Begriff ist mit seinem ganzen Inhalt in jeder seiner
Unterabteilungen und wieder in jedem Einzelnen enthalten, das er unter sich befaßt.
Der Begriff ist das Wirkende und Tätige. Er erzeugt sich selbst; er bringt
sich in jedem Einzelnen wieder hervor. Dieses menschliche Individuum ist ganz
und gar Mensch mit allen konstitutiven Bestimmungen, die den Begriff Mensch
bilden, der Begriff ist bei seiner Hervorbringung des Individuellen das Maßgebende
gewesen. Im Begriff ist das Einzelne mitgesetzt; im Einzelnen ist der Begriff
das Wirkliche. Das Allgemeine und das Einzelne gehören untrennbar zusammen;
sie sind verschieden wie die beiden untrennbaren Momente eines Gedankens. Dies
ist ein Kiesel; es ist ein, aber ein Kiesel. Dies andere ist eine Linde, aber
eine Linde, so auch ein Hund, ein Lehrsatz, ein Staat, eine Erbschaft. Es ist
dies Eine, aber als Allgemeines, und es ist allgemein als Eine. Was [54/55]
wahrgenommen wird, ist gewiß ein Einzelnes, aber wir könnten nichts
wahrnehmen, wenn wir das Allgemeine nicht schon bereit haben. - Man kann nicht
ein völlig Unbestimmbares wahrnehmen. Bloße Sinnlichkeit ohne
Gedanken, bloße sinnliche Gegenstände von dinglicher Art, das alles
ist Fabel und Märchen und ergibt eine richtige Mythologie. Jedes ist, was
es ist, als Allgemeines, das sich vereinzelt hat. Wer das Allgemeine fassen
will, muß es im Einzelnen fassen. Auch der Eigenname, mit dem man das
Individuum belegt, wird dem Individuum beigelegt als dem Einzelnen, das
allgemein ist. Die Erde ist der Planet Erde, Friedrich der König Friedrich,
der Vesuv ist der Vulkan. Der Begriff Mensch ist in Sokrates ebenso vollkommen
enthalten wie in Plato, aber auch in Hinz wie in Kunz. Die Begriffe: Wesen,
Lebewesen, Tier, Säugetier, Einhufer, Pferd sind einstimmig miteinander und
durchdringen einander vollständig in dem Rennpferd Walküre, das sie
alle einstimmig zu gestalten zusammengewirkt haben. Die Einzelnen sind durch den
gemeinsamen Begriff aufs engste verbunden. Aber als Einzelne sind sie
voneinander unterscheidbar, weil sie verschieden sind innerhalb der Grenzen, die
die Einheit des Begriffs bezeichnet. Es gibt nicht zwei Einzelne innerhalb
derselben Gattung, die ununterscheidbar wären. Diese Unterschiedenheit hat
ihre Grade; sie kann ein Äußerstes erreichen, sich dem Verschwinden nähern,
aber sie kann nicht aufhören. Das Allgemeine, Ununterschiedene ist ideell;
in aller Realität sind die Unterschiede mitgesetzt. Das Ideelle aber ist
Substanz und Wesen, und als Begriff die Macht über die Realität; das
Reale vergeht, aber das Ideelle bleibt. Die Einzelheit ist durch das Allgemeine
abhängig und durchdrungen.
Diese Sätze gelten von allem Allgemeinen und von allem
Einzelnen. Sie gelten von der äußeren Natur und von der Geisteswelt,
von den Dingen und von den Vorgängen, vom Zeitlichen und vom Ewigen. Das
Dreieck, das gedacht wird, ist das wahre Dreieck, das ewige Dreieck. Es trägt
die begrifflichen Bestimmungen an sich, die jedes einzelne Dreieck aufzeigt,
aber es trägt sie rein und un-[55/56]vermischt nach der Natur des
Gedankens. Das reale Dreieck hat jedes Mal seine besonderen Bestimmungen, die
unter den allgemeinen Bestimmungen des ideellen Dreiecks als Unterschiede
zugelassen sind. Durch diese Unterschiede ist es einzelnes, durch die
allgemeinen Bestimmungen ist es allgemeines Dreieck. Das Dreieck als solches
wird natürlich in der Realität nicht gefunden, ebensowenig wie der
Gedanke als äußerliche Existenz etwa unter den Dingen, neben den
Dingen einen besonderen Platz einnimmt. Das hindert nicht, daß das ideelle
Dreieck jedes einzelne reale Dreieck zum Dreieck macht. Ohne den Begriff hat
nichts Reales einen Bestand, eine Dauer, eine Eigenheit. Der Begriff gliedert
sich durch seine innere Lebendigkeit in Besonderheiten, Klassen, Arten, die
wieder Arten und Einzelne unter sich befassen können, aber alle diese
Unterschiede sind ein Spiel, das der Festigkeit des Begriffs nichts anhat, und
wie es vom Begriff gesetzt ist, vom Begriff auch wieder aufgehoben wird. Der
Begriff ist das Mächtige und das Freie, weil er in sich und aus sich heraus
webt und schafft. Wir, die Menschen, sind frei, soweit wir in Gedanken die Natur
des Begriffs zu unserer eigenen Natur gemacht haben; die begriffliche Freiheit
ist die Quelle, aus der die Freiheit des Willens stammt im Unterschiede von
aller Abhängigkeit der äußeren Welt.
Das innere Leben des Begriffs offenbart sich in der
Verschiedenheit, mit der er sich in den realen Gegenständen zur Erscheinung
bringt. Die Verschiedenheit geht geradezu ins Unendliche. Sie ist unerschöpflich
und in dieser Unerschöpflichkeit ein nie versiegender Quell der inneren
Teilnahme. Nichts ist so langweilig, nichts so erkältend und totenstarr,
wie die immer sich wiederholende Gleichförmigkeit des Begriffs es sein würde,
wenn sie irgend erreichbar wäre, aber schon die Annäherung an die
Gleichheit des Typus ist ermüdend. Allerdings auch die bloße
Abweichung, die das Typische, das Gepräge des Allgemeinen und allgemein Gültigen
schlechthin abtut, mag einzelnen Querköpfen ein besonderes Vergnügen
verschaffen. Das wirklich Wertvolle ist überall der inhaltliche
Reich-[56/57]tum der Sache, die das Allgemeine in sich ausprägt mit
Unterschieden, die der Natur des Allgemeinen möglichst nahe stehen und das
innere Wesen nicht aufheben, sondern in betonter Weise ausdrücken. In Natur
und Geisteswelt ist das Einzelne das Charakteristische und durch seine Eigenheit
Anziehende, aber die Bedeutung dieser Eigenheit steigt schon innerhalb der Natur
von einem niedersten zu höhereren Graden und nimmt in der Geisteswelt bis
zu einem höchsten Grade zu. Wo der Geist ins Spiel kommt, werden die
Unterschiede unermeßlich, auch die Unterschiede in den Bedingungen und
Umständen, unter denen sich der Geist betätigt. Die äußere
Welt, die dem Menschen als Material für die Erreichung seiner Zwecke zur
Hand ist, erhält dadurch ihre Bedeutung als das Reich der Mittel, mit denen
die Freiheit schalten soll. Am allerstärksten drückt sich das im
sittlichen Leben aus. Das Allgemeine liegt überall zugrunde, aber zu tun
haben wir es mit der realen Einzelheit. Jeder Vorgang ist ein einzelner
innerhalb der Gattung von Vorgängen, die man als ein Gesetz bezeichnet.
jeder Vorgang hat daher seine Eigenheit und seine Verschiedenheit. Er kommt
deshalb nicht zweimal vor. In der äußeren wie in der inneren Welt ist
jeder Augenblick eigentümlich. Wir sind auch bei längster, Lebensdauer
nicht zweimal in derselben Lage. Die Bedingungen, unter denen wir tätig
sind, wechseln in unendlich kleinen Zwischenräumen. Wie im Einzelleben, so
geht es in der Geschichte zu, im Leben der Staaten und der Völker. Die großen
Menschen, nach denen wir die Zeitalter, die Perioden der Geschichte benennen,
die großen Denker, die Künstler, die Propheten sind alle durch und
durch individualisiert. Sie selber und die Umwelt, innerhalb deren sie ihr Werk
treiben, und jede Stunde ihres Daseins bietet einen Anblick, der in ihrem Leben
nicht wiederkehrt und noch weniger in dem Leben der anderen.
In der Natur herrscht das Gesetz, aber es bleibt ideell. Der
reale Vorgang prägt wohl das Gesetz aus, aber doch mit Unterschieden, die
durch Einwirkung von allen Seiten her herbeigeführt werden in eigentümlicher
Weise. Das [57/58] Gesetz herrscht und ist das Mächtige, aber jeder
einzelne Fall drückt das Gesetz nur annähernd mit stärkerer oder
geringerer Abweichung aus. Und was nun gar das Leben anbetrifft, so ist die
Individualisierung der Lebensvorgänge jedes Zeitteilchens in dem Leben,
selbst der tieferstehenden organischen Wesen, der Tiere wie der Pflanzen,
unverkennbar und läßt ungeheuerliche Abweichungen, seltsame Mißgebilde,
ungewöhnliche Verbindungen zu, die in der aufdringlichsten Weise die Regelmäßigkeit
der Natur durchbrechen. Im Gebiete des geistigen Lebens gewinnt eben diese
Abweichung und Individualisierung weiter noch ausgeprägtere Formen und
erlangt eine unermeßliche Bedeutung. Wir bewegen uns überall unter
der Macht des Allgemeinen, und unter der unendlichen Vielgestaltigkeit des
Einzelnen.
Diese Einzelheit nun macht dasjenige aus, was wir Zufälligkeit
nennen. Wenn der Forscher ein Experiment macht, so sucht er nach Möglichkeit
die Zufälligkeit und Einzelheit des Vorganges auszuschließen und die
Bedingungen möglichst rein herzustellen, deren Ergebnis er in vorbedachter
Weise festzuhalten bemüht ist. Aber kein Versuch erreicht auch bei der größten
Sorgfalt sein Ziel vollkommen; das Allgemeine bleibt ideell. Im Realen muß
man sich mit dem ungefähren Entsprechen des Einzelnen gegenüber den
allgemeinen Maßstäben begnügen. Die Natur selber stellt solche
ideellen Bedingungen nie rein her, und wo ein Vorgang in der Natur, und sei es
auch am Himmel unter den Sternen, ausdrücklich beobachtet wird, da ist
immer mit der Zufälligkeit des einzelnen Falles zu rechnen, die das
Gedankliche nicht rein hervortreten läßt. Die sogenannten Konstanten
sind selber in der Realität nicht konstant, sondern weichen mehr oder
minder ab. Das Denken erst stellt aus der realen Einzelheit, aus der Fülle
der Beobachtungen durch die denkende Erfahrung auf Grund der möglichst
reichhaltigen Sammlung von Exemplaren und von Wahrnehmungen das ideelle
Allgemeine als die Grundform fest, um welche die realen Einzelfälle ihre
Kreise ziehen. Bei alledem bleibt diesem Ideellen der Vorrang, das eigentliche
Wesen des Falles [58/59] darzustellen, und dem Realen gegenüber gilt immer
der Vorbehalt, daß das Zufällige an ihm ausgeschieden werden muß,
damit das Gedankliche und Begriffliche, das in ihm das eigentliche Wesen
ausmacht, in seiner Reinheit herausgestellt werde.
Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Gewiß; die alten
Formen, die alten Begriffe, die Gattungen, die Gesetze bleiben, aber auch dieser
Satz erfährt seine Einschränkung. Eigentlich ist jedes, was vorkommt,
was da ist und was geschieht, doch wieder ein Neues und so noch nie Dagewesenes.
jedes Einzelne ist unersetzlich und unvertretbar. Daß diese fortwährende
Abwechslung und Erneuerung doch jene allgemeinen Grundlagen alles Seins nicht
aufhebt, diese unzweifelhafte Tatsache, ohne die jedes Denken und Sprechen unmöglich
wäre, könnte nicht vorhanden sein, wenn nicht innerlich im
Zusammenhange aller Dinge, ebenso wie die Unendlichkeit des Einzelnen, die
Dauerbarkeit und Beständigkeit des Allgemeinen mit enthalten wäre.
Dies aber gerade ist das, was man unter Zweck versteht. Man soll nicht, wenn vom
Zweck die Rede ist, immer an die Überlegungen und Absichten eines Menschen
denken. Der Zweck ist ein objektives Element in allem, was ist und was
geschieht. Ein so unentbehrliches Element, daß, ohne den Zweck dabei
mitzudenken, überhaupt nicht gedacht werden kann. Denn wenn gedacht wird,
wird immer das Allgemeine gedacht mit seinen Bestimmungen, die selbst wieder
allgemein sind, und dieses Allgemeine wird als ein Bleibendes, immer wieder
Hergestelltes gedacht. Das ist der Sinn des Satzes von der Identität; die
Begriffe bleiben, sie gleiten nicht, wenn alles Einzelne wechselt. Eben dies, daß
das Allgemeine mitten in der Unendlichkeit des Einzelnen unversehrt sich erhält
und sich wieder herstellt, das ist der Grundcharakter alles dessen, was ist, und
dieser Grundcharakter im Seienden ist der Zweck. Es ist also nur eine
Redewendung und [59/60] nicht ein wirklicher Gedanke, wenn man es so darstellt,
als wolle man vom Zweck und der Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit
in der Betrachtung der Dinge absehen. Wer irgend etwas denkt oder sagt, denkt
ebenso notwendig die Kategorie des Zweckes mit, wie er die Kategorien der
Substanz, des Wesens und des Begriffes denkt. Und wenn einer, der Notwendigkeit
des Denkens folgend, nach dem Satz des Grundes den Zusammenhang aller einzelnen
Wesen untereinander und die Abhängigkeit jedes Erscheinenden von anderen
Erscheinenden behauptet, so kann er gar nicht umhin, unter den Arten des Grundes
als den obersten Grund, aus dem alle anderen Arten des Grundes abstammen, den
Zweck mitzudenken. Wenn einer vorgibt, er schließe die Betrachtung unter
dem Gesichtspunkte des Zwecks von seinem Denken aus, so ist es nur ein Beweis
dafür, daß er von seinem Denken, wie es sich wirklich vollzieht, gar
kein Bewußtsein besitzt und über die Vorgänge in seinem Denken
sich niemals Rechenschaft abgelegt hat.
Zusammenhang ist das Wesen dieser einheitlichen Welt. Es gibt
keine Einzelheit, die außerhalb der allumfassenden Verbindung stände.
Dieser Zusammenhang ist näher oder ferner, unmittelbarer oder vermittelter,
aber nirgends bricht er ab. In diesem Zusammenhange gibt es demnach Grade des
Umfangs, der Allgemeinheit, der Macht. Und wenn man einen Zusammenhang von
geringerem Umfange und geringerer Macht denkt, so ergibt sich die Notwendigkeit,
daß man auch den Zusammenhang vom allergrößten Umfang und von
absoluter Macht setzt, um nicht in den Fortgang ins Unendliche zu geraten. Dies
ist dann die oberste Einheit in allem, was da ist. Dieser Einheit entzieht sich
nichts. Sie hat Macht über alles. Sie wirkt nicht als äußere
Gewalt, sondern als innere Macht, die in den Dingen selber lebendig und tätig
ist, und deren Walten jegliches als einen zugehörigen gliedlichen
Bestandteil des einheitlichen Ganzen aufweist. Wir haben für diese oberste
Macht, die alles durchdringt und alles leitet, den Allen geläufigen
Ausdruck: Vorsehung. Damit wäre denn gesagt, daß schlechthin alles,
was irgendwie Gegenstand des [60/61] Wahrnehmens, des Vorstellens, des Denkens
sein kann, unter der waltenden Macht der Vorsehung im Dienste des einheitlichen
Weltalls steht, und in dem gliedlichen Zusammenhange des Alls seine bestimmte
Stellung und Bedeutung hat. Da in der Welt, in der wir leben, die allgemeinen
Formen und Begriffe sich erhalten; da diese Zwecktätigkeit der
Wiederherstellung des Allgemeinen mitten in dem unabsehbaren Chaos und Tumult
der Einzelheit sich vollzieht, als die innere Macht, die allen Dingen innewohnt
und sie zusammenhält: so ergibt sich der Gedanke der Vorsehung als der
obersten Zwecktätigkeit mit unabweisbarer Notwendigkeit, und es ist ebenso
unabweisbar, daß diese Zwecktätigkeit auf ein denkendes und wollendes
Wesen zurückgeführt werden muß.
Weil es Begriffe gibt, Allgemeines, das bleibt und besteht,
darum gibt es den Zweck, und die Zwecke in dieser realen Welt; und inmitten der
äußeren realen Existenz ist der Zweck und die Zwecktätigkeit das
eigentlich Wirkliche. Mit dem Begriff ist auch der Zweck gesetzt. Wer den Zweck
leugnet, hebt den Begriff und das Denken und sich selber als denkendes Subjekt
auf. Dagegen wer da weiß, daß er denkt, daß er in Begriffen
denkt, daß die Begriffe, in denen er denkt, den Anspruch erheben, den in
der Welt objektiv vorhandenen Begriffen zu entsprechen, der ist eben deshalb
auch gezwungen, in folgerichtigem Denken die oberste Macht und Herrschaft einer
Vorsehung mitzudenken, die durch ihr Innewohnen in allem, was ist, das Seiende
zu einer einheitlichen Welt, und alles Geschehen in dieser Welt zu einem
einheitlich geschlossenen Ganzen gestaltet.
Dadurch bekommt nun die Einzelheit ihren Sinn, dadurch wird ihr
ihre Stellung im Zusammenhange der Dinge angewiesen. Alle Einzelheit ist als
solche zufällig; aller Zufall ist Einzelheit. Wenn das Einzelne um die
bleibende Mittellinie des Allgemeinen herum sein buntes und vielgestaltiges
Spiel treibt, so fließt das aus dem Allgemeinen als folgerichtige
Erscheinung ab. In dem Einzelnen mit aller seiner chaotischen Vielheit hört
aber das Allgemeine nicht auf, wirk-[61/62]sam zu sein. Weil das Einzelne aus
dem Allgemeinen fließt, so wird es durch das Allgemeine in Schranken
gehalten und zum Zeugnis für die Macht des Allgemeinen erhoben.
Einzelheit und Zufälligkeit sind Grundbestandteile des
Weltalls und Mittel für die Vorsehung, ihre obersten Zwecke zu erreichen.
Die Einzelheit und Mannigfaltigkeit macht im Gegensatz zu der starren Einförmigkeit
des Allgemeinen die Lebendigkeit der Welt aus. Das Einzelne behauptet dem
Allgemeinen gegenüber, das als starres Gesetz gleichförmige
Notwendigkeit zur Folge haben würde, seine verhältnismäßige
Freiheit. Solche Freiheit steht im höchsten Grade dem denkenden Menschen
zu. Je nach seiner Eigentümlichkeit, durch die er sich von jedem andern
unterscheidet, faßt er mitten in der ihn umgebenden Welt, die für ihn
wiederum in jedem Augenblicke eine Eigentümlichkeit hat, die in gleicher
Weise bei keinem anderen Menschen sich vorfindet, seine Entschließungen
und vollzieht seine Handlungen.
Kein lebender Mensch steht unter einem blinden Verhängnis,
das mit unerbittlicher Notwendigkeit sein Inneres regierte und sein Äußeres
gestaltete. Der denkende Mensch bildet sein Inneres, und wenn es zum günstigen
Ergebnis kommt, gewinnt er eben durch den Gebrauch seiner Freiheit denjenigen
Charakter, der über sein ganzes weiteres inneres Leben und seine äußere
Betätigung entscheidet, ohne jemals in unverbrüchlicher Festigkeit zu
erstarren. Es sind gerade die Vorgänge seines Denkens, die von geringerer
bis zu größter Klarheit sich durchzubilden vermögen, was dem
Menschen seine Freiheit verbürgt. Der denkende Mensch steht in jedem
Augenblicke über der Macht der äußeren Dinge und bildet seine
Motive und seine Absichten aus unaufhebbarer Beweglichkeit des Gedankens heraus
mit überlegender Selbständigkeit, die sich zur eigentlichen Freiheit
durchzuarbeiten vermag, indem sie den Menschen befähigt, durch denkende
Vernunft seine Betätigung in voller Sicherheit zu allgemeingültiger
Vernünftigkeit zu erheben. In der unendlichen Vielgestaltigkeit der
menschlichen Persönlichkeiten finden sich von niederer Gebundenheit unter
die Macht der sinnlichen Ein-[62/63]drücke bis zur höchsten geistigen
Selbständigkeit des besonnenen Wollens alle Grade der Freiheit
verwirklicht. Dem so individualisierten menschlichen Wesen steht die äußere
Welt gegenüber mit dem ähnlichen Reichtum lebendiger Verschiedenheit
gewissermaßen als ein äußeres Gleichnis für die zur
Freiheit bestimmte Innerlichkeit des Menschen. Aber unermeßlich ist der
Unterschied des Wertes zwischen den einzelnen Gestalten und den einzelnen Vorgängen
in der Außenwelt einerseits und den einzelnen Persönlichkeiten und
einzelnen Leistungen der Menschen andererseits. In der äußeren Natur
vergeht die Einzelheit mit ihren Unterschieden, und die Umwandlung, die durch
solche Einzelheit dauernd bewirkt wird, ist gering gegenüber dem festen
Bestande der allgemeinen Grundlagen der äußeren Dinge. Ganz anders
ist es in der Menschenwelt mit dem gewaltigen Schauspiel der Weltgeschichte.
Hier ist die Einzelheit der Persönlichkeit die, wirkende Macht einer
Entwicklung, die immer wieder neue Formen und Gestalten hervortreibt und einem
stetigen, einem mehr oder minder klar erfaßten Zwecke einzelne Abteilungen
und weiterhin das gesamte menschliche Geschlecht entgegenführt.
Einzelheit und Zufälligkeit findet sich schon in der äußeren
Natur in den uns begegnenden Dingen und ihren Vorgängen. Aber - mögen
immerhin Unterschiede sich auch innerhalb der Bestandteile gleichartiger Massen
vorfinden: sie haben für den Bestand des Ganzen eine verhältnismäßig
geringe Bedeutung. Je ausgeprägter die Form der Dinge, desto größer
werden auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Exemplaren, und in dem
Reiche der lebendigen Wesen steigern sich ebenso die Verschiedenheiten der
Einzelwesen im Verhältnis zu der Höhe der Stufe, die das lebendige
Wesen im Reiche der Organismen erreicht. Treten wir von da aus hinüber auf
das Gebiet des Menschenlebens, so stellt sich uns das gewaltige Schauspiel dar
vom Entstehen und Vergehen, Blühen und Herabsinken der Völker und
Staaten, der Schöpfungen des Gedankens und der Gebilde des Willens, der
Ereignisse und Taten, Werke und Gedankenbildungen von unvergänglicher
Be-[63/64]deutung. Hier werden die großen Werte geschaffen, die gewaltigen
Arbeiten zur Regelung der menschlichen Verhältnisse, zum Schaffen fester
Einrichtungen, die Bildung von Rechtsordnungen, von Religionen, Sprachen
vollzogen, lauter Denksteine im Gange der menschlichen Geschicke" die sich
in unaufhaltsamem Zuge aneinanderschließen und durch die Jahrtausende
hindurch eine zusammenhängende Reihe bilden, ein dauerndes Gedächtnis
des ganzen menschlichen Geschlechts. Und alle diese Schöpfungen sind durch
einzelne Menschen, durch Individuen bewirkt worden, deren jegliches in die Welt
eingetreten ist, zufällig, unerwartet, und Spuren hinterlassen hat, die
nicht mehr verwischt werden können. Wir haben oben gezeigt, daß es
ein vollkommen fruchtloses Unternehmen wäre, aus irgend welchen äußeren
Ursachen diese Persönlichkeiten abzuleiten. Die Einzelheit der Individualität
ist aus einzelnen bestimmten Ursachen nicht ableitbar. In diesem Sinne ist sie
zufällig. Je größer der Wert der Individualität wird, desto
ergreifender wirkt der Gedanke dieser Zufälligkeit. Die großen
Menschen, die mit ihren Gaben, ihren Taten, ihren Gedanken die Menschenwelt
umgestaltet haben, und deren Nachwirkung bis in die fernsten Zeitalter reicht,
alle Jahrtausende hindurch, - sie sind geboren an diesem Ort, in diesem
Zeitpunkt, und ihr Leben hat sich unter diesen Umständen vollzogen. Sie
sind mit diesen Menschen in Berührung gekommen, in freundliche oder
feindliche. Sie haben aus der Vergangenheit diese Eindrücke in sich
aufgenommen, diese Erlebnisse haben ihr Inneres gebildet. Die Umstände sind
ihnen hinderlich oder förderlich gewesen, alles dies in ausschließlicher
Einzelheit, die so niemals sonst vorgekommen ist, niemals auch nur in ähnlicher
Weise wiederkehren wird. Es ist ein Gedanke von ebenso erschütternder wie
erhebender Kraft, daß alle diese unabsehbare, unausdenkbare Zufälligkeit
im Dienste der höchsten Zwecktätigkeit des absoluten Geistes, seines
Denkens und seines Wollens ihre Erklärung findet und auf andere Weise nicht
ableitbar, nicht denkbar ist. Wir erinnern an [64/65] unsere obigen Ausführungen.
Bei diesen Persönlichkeiten von höchstem Werte drängt sich
unabweisbar der Gedanke auf: diese Persönlichkeiten sind Rüstzeuge
einer absoluten Geistesmacht gewesen, von ihr ins Leben gerufen, mit den Gaben
ausgestattet, die gerade in dieser Zeit und in dieser Umgebung nötig waren,
um zu erhalten, zu retten, das Kommende vorzubereiten, die Bahnen fruchtbarer
Entwicklung anzudeuten und selbst vorbildlich zu wandeln. Die großen,
mustergültigen Schöpfungen in der Kunst, in der Wissenschaft, in der
Religion, aber auch die weltgeschichtlichen Taten auf dem Gebiete des
Staatslebens, in Krieg und Frieden, die Gesetzgebung, die Organisation, die
berufen ist, durch die Jahrhunderte fortzubestehen, die einzelne Tat von
ausschlaggebender Bedeutung: alles das ist von einzelnen Persönlichkeiten
geleistet worden, die zufällig in diese Welt hineingeboren worden sind und
mitten in der Gunst und Ungunst der Umstände das Unvergängliche
vollbracht haben.
Zufällig ist auch das, was diese großen Persönlichkeiten
erleben und erfahren. Durch Zufall werden sie gehoben und an die rechte Stelle
gebracht. Durch Zufall werden sie gestürzt, in ihrem Wirken geschädigt.
Zufällige Persönlichkeiten und Begegnungen treiben sie vorwärts,
nehmen sich ihrer an, treten ihnen in den Weg. Warum alles so gekommen ist, läßt
sich durch keinen Verstand ermessen. Aber - daß es so kommen sollte, daß
eine innere Notwendigkeit darin wirksam war, erweist sich der verständigen Überlegung
mit voller Klarheit und Deutlichkeit. In den Dingen drinnen lagen die
eigentlichen Gründe geistiger Art für alles dieses bedeutungsvolle
Geschehen. Es ist den Dingen nicht äußerlich aufgeprägt worden,
die Dinge sind nach ihrer Art ihren Gang gegangen. Aber die Zufälligkeit
war doch nur scheinbar. Eine höhere Leitung, die über alle Dinge
Gewalt hat und sie durchdringt, hat alles so gefügt. Der größte
Held stirbt in dem Augenblicke, wo er sich anschickt, die Welt umzugestalten,
abendländische und morgenländische Kultur miteinander zu verschmelzen,
im kräftigsten, blühendsten Mannes-[65/66]alter. Der Genius, der
bestimmt ist, unsterbliche Schöpfung der Dichtkunst zu spenden, wird in früher
Jugend von tödlicher Krankheit befallen, aber er erlangt Genesung und kommt
zu ungewöhnlich hohem Alter. In niederer Umgebung wächst der gewaltige
Denker auf, der nachher mit flammender Begeisterung seine Nation zu Taten der
Abwehr und Selbstbehauptung erweckt. Es ist nicht nötig, die Beispiele zu häufen;
die Tatsachen leben in der Erinnerung der Menschen und die Heldengestalten
stehen uns mit ihren Geschicken vor Augen. Unser Geist nährt sich von dem,
was sie vor Jahrhunderten oder vor Jahrtausenden vollbracht haben, und die
Geschichtsschreiber wissen uns den inneren Sinn und den Zusammenhang zu deuten,
der zwischen den Erfordernissen der Lage und der Begabung dieser Persönlichkeiten
besteht.
Aber sehen wir ab von den großen Männern von
geschichtlicher Bedeutung, und fassen wir das Leben der Menschen im allgemeinen
ins Auge, so erscheint uns auch hier wieder alles Menschliche als unter der
Macht der Zufälligkeit stehend. Was wir erleben, was wir leiden und was uns
gelingt, alle Freuden und Schmerzen, unsere Genossen und Freunde, unsere Neider
und Widersacher, alles das ist Fügung von ganz besonderen Umständen,
und jeder einzelne Mensch erfährt und erlebt, was kein anderer Mensch in
gleicher Weise erduldet oder erzielt. Auch hier bringt der Zufall Ergebnisse
hervor, die aus äußeren Ursachen nicht ableitbar sind. Es kommt auch
das ganz Auffallende, Außerordentliche, was niemand erwartet, niemand sich
vorgestellt hätte, zur Verwirklichung. Die Menschen sehen darin zum Teil
Vorherbestimmung und bilden sich fatalistische Vorstellungen. Sie leiten aus der
Willkür des allmächtigen Gottes ab, was ihnen oder was den andern
begegnet. Religiöse Gesinnung findet in den Ereignissen, die einen
besonders starken Eindruck machen und aus der regelmäßigen
Erscheinung herausfallen, ein unmittelbares Eingreifen der göttlichen
Allmacht. So geschehen der Erfahrung der Menschen nach unausgesetzt Wunder der
Rettung, der [66/67] Heilung, der Erhaltung und Wiederherstellung. Der für
unheilbar erklärte Kranke wird geheilt. Die Gefahr, die unentrinnbar
schien, wird abgewandt, der ganz unverhoffte Glücksfall, den man für
unmöglich gehalten hätte, tritt dennoch ein. Dergleichen erlebt der Gläubige
als ein Wunder. In der Tat sind solche Fügungen für den, der an die
sinnliche Erscheinung in seinem Denken gebunden ist, eben durch ihre Abweichung
von der Regel des äußeren Geschehens wunderbar, aber in Wahrheit ist
das eigentliche Wunder der Geist, und seine Wirksamkeit und nicht bloß das
Auffallende und Regelwidrige, sondern alles Geschehen, sofern es von dem Walten
und der Macht des Geistes Zeugnis ablegt, ist wunderbar. Wer als das eigentlich
Wirksame überall die geistigen Mächte zu betrachten gelernt hat, der
weiß sich überall von Wundern umgeben und aus der Herrschaft blinder
Naturkräfte herausgehoben. Wenn aber jemand zu der Überzeugung gelangt
ist, daß diese ganze Welt ein Reich der Zwecke ist, daß der Gedanke
der sittlichen Freiheit den obersten Zweck alles Daseienden bezeichnet, daß
alle Veranstaltung dazu bestimmt ist, die Befreiung der Persönlichkeit zu fördern
und der sittlichen Vollendung als dem obersten Zwecke zu dienen, so hat es für
ihn nichts Verwunderliches, daß der Zufall überall in der Hand der
Vorsehung als das Mittel dient, ihre Zwecke zu erreichen. Die Vorsehung wirkt
nicht äußerlich und gewaltsam etwa vermittelst der Aufhebung der
Naturgesetze, sondern sie ist innerhalb des natürlichen Geschehens gegenwärtig
als der letzte und oberste Grund, der von innen heraus alles in dieser Welt über
alle Hindernisse hinweg zu seinem Ziele leitet. Alle Einzelheit geht so in die
oberste Einheit dessen was ist, zurück, und in allem was geschieht, wirkt
sich die Idee aus, die auf jedem Gebiete des Geschehens ihre inneren Momente und
ihren gesamten Inhalt eben vermittelst der zufälligen Einzelheit zur
Darstellung bringt; das ist der wirkliche Sinn alles Geschehens und der Zufall
erweist sich im höchsten Sinne als der Handlanger und Mithelfer der
absoluten Geistesmacht, an der alles hängt. [67/68]
Solche Überzeugung ergibt die freudige Gewißheit, daß
alles was ist und was geschieht, die Welt einem höchsten seligen Ziele
entgegenführt. Über alle Leiden und Schmerzen, alle Übel und
Hemmungen hinweg, über Zerstörung und Untergang, jenseits des gesamten
irdischen Schauspiels von Elend und Jammer, sehen wir im Geiste das Höchste
Gut heranreifen, das in uns schon als das Streben nach sittlicher Freiheit
angelegt ist. Auch das, was wir im gegenwärtigen Augenblicke durchleben,
die furchtbaren Verwüstungen eines die ganze Welt in seinem Strudel fortreißenden
Krieges, ist danach Mittel in der Hand der Vorsehung, den Gang der Menschheit
dem idealen Ziele entgegenzuführen. Solche optimistische Überzeugung
ist das Erbteil des deutschen Geistes. Die Erscheinungen, die uns die Welt
bietet in ihrer Zufälligkeit, sind nicht das Letzte. Darüber hinaus
wirkt die bauende, vorwärtstreibende Macht des die Welt lenkenden Geistes,
der über alle Einzelheit hinübergreifend [.] die gedankliche Einheit
der Welt unausgesetzt wiederherstellt [.] Der absolute Geist ist ebenso
absolutes Allgemeines wie absolutes Individuum, und so ist er Gott. Wie Gott als
Vorsehung wirkt, muß im Geiste begriffen werden, nicht durch äußerliche
Vorstellungen. Gott schafft und formt als der absolute Künstler, Held und
Denker, und die großen Menschen schaffen ihre Werke, Systeme und Gebilde
nach dem Vorbilde des absoluten Geistes. Gottes Wirken ist nicht unverständlicher
als das Schaffen eines menschlichen Künstlers. Gott wirkt, wie sich der große
deutsche Kardinal Nikolaus von Kusa ausdrückt, - alle seine Werke dazu,
damit die Welt ein stetig zusammenhängendes einheitliches vollendetes
Ganzes sei: ut sit unum continuum perfectum universum.
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