[aus: Populäre Wissenschaftliche Vorträge von H.
Helmholtz. Drittes Heft. Braunschweig, Vieweg und Sohn. 1876. S. 21-54]
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D
ie Thatsache, dass eine Wissenschaft von der Art bestehen und in
der Weise aufgebaut werden kann, wie es bei der Geometrie der Fall ist, hat von
jeher die Aufmerksamkeit aller derer, welche für die principiellen Fragen
der Erkenntnisstheorie Interesse fühlten, im höchsten Grade in
Anspruch nehmen müssen. Unter allen Zweigen menschlicher Wissenschaft giebt
es keine zweite, die gleich ihr fertig, wie eine erzgerüstete Minerva aus
dem Haupte des Zeus, hervorgesprungen erscheint, keine vor deren vernichtender
Aegis Widerspruch und Zweifel so wenig ihre Augen aufzuschlagen wagten. Dabei fällt
ihr in keiner Weise die mühsame und langwierige Aufgabe zu,
Erfahrungsthatsachen sammeln zu müssen, wie es die Naturwissenschaften im
engeren Sinne zu thun haben, sondern die ausschliessliche Form ihres
wissenschaftlichen Verfahrens ist die Deduction. Schluss wird aus Schluss
entwickelt, und doch zweifelt schliesslich Niemand von gesunden Sinnen daran,
dass diese geometrischen Sätze ihre sehr praktische Anwendung auf die uns
umgebende Wirklichkeit finden müssen. Die Feldmesskunst wie die
Architektur, die Maschinenbaukunst wie die mathematische Physik, sie berechnen
fortdauernd Raumverhältnisse der verschiedensten Art nach geometrischen Sätzen,
sie erwarten, dass der Erfolg ihrer Constructionen und Versuche sich diesen
Rechnungen füge, und noch ist kein Fall bekannt geworden, wo sie sich in
dieser Erwartung getäuscht hätten, vorausgesetzt, dass sie richtig und
mit ausreichenden Daten gerechnet hatten.
In der That ist denn auch die Thatsache, dass Geometrie besteht
und solches leistet, in dem Streite über diejenige Frage, welche gleichsam
den Kernpunkt aller Gegensätze der philosophischen Systeme bildet, immer
benutzt worden, um an einem im-[23/24]ponirenden Beispiele zu erweisen, dass ein
Erkennen von Sätzen realen Inhalts ohne entsprechende aus der Erfahrung
hergenommene Grundlage möglich sei. Namentlich bilden bei der Beantwortung
von Kant's berühmter Frage: Wie sind synthetische Sätze a priori
möglich?" die geometrischen Axiome wohl diejenigen Beispiele, welche
am evidentesten zu zeigen schienen, dass überhaupt synthetische Sätze
a priori möglich seien. Weiter gilt ihm der Umstand, dass solche Sätze
existiren und sich unserer Ueberzeugung mit Nothwendigkeit aufdrängen, als
Beweis dafür, dass der Raum eine a priori gegebene Form aller äusseren
Anschauung sei. Er scheint dadurch für diese a priori gegebene Form nicht
nur den Charakter eines rein formalen und an sich inhaltsleeren Schema in
Anspruch zu nehmen, in welches jeder beliebige Inhalt der Erfahrung passen würde,
sondern auch gewisse Besonderheiten des Schema mit einzuschliessen, die
bewirken, dass eben nur ein in gewisser Weise gesetzmässig beschränkter
Inhalt in dasselbe eintreten und uns anschaubar werden könne*).
Eben dieses erkenntnisstheoretische Interesse der Geometrie ist
es nun, welches mir den Muth giebt in einer Versammlung, deren Mitglieder nur
zum kleinsten Theile tiefer, als es der Schulunterricht mit sich brachte, in
mathematische Studien eingedrungen sind, von geometrischen Dingen zu reden. Glücklicher
Weise wird auch das, was der Gymnasialunterricht an geometrischen Kenntnissen zu
lehren pflegt, wie ich denke, genügen, um Ihnen wenigstens den Sinn der im
Folgenden zu besprechenden Sätze verständlich zu machen.
Ich beabsichtige nämlich Ihnen Bericht zu erstatten über
eine Reihe sich aneinander schliessender neuerer mathematischer Arbeiten, welche
die geometrischen Axiome, ihre Beziehungen zur
*) In seinem Buche Ueber die Grenzen der Philosophie"
behauptet Herr W. Tobias, Sätze ähnlichen Sinnes, die ich früher
ausgesprochen hatte, seien ein Missverständniss von Kant's Meinung. Aber
Kant führt speciell die Sätze, dass die gerade Linie die kürzeste
sei (Kritik d. r. Vernunft. Einleitung V, 2. Aufl. S. 16), dass der Raum drei
Dimensionen habe (Ebend. Th. I, Absch. 1. § 3, S. 41), dass nur eine gerade
Linie zwischen zwei Punkten möglich sei (Ebend. Th. II, Abth. I, von den
Axiomen der Anschauung S. 204), als Sätze an, welche die Bedingungen
der sinnlichen Anschauung a priori ausdrücken." Ob diese Sätze
aber ursprünglich in der Raumanschauung gegeben sind, oder diese nur die
Anhaltspunkte giebt, aus denen der Verstand solche Sätze a priori
entwickeln kann, worauf mein Kritiker Gewicht legt, darauf kommt es hier gar
nicht an. [24/25]
Erfahrung und die logische Möglichkeit, sie durch andere zu
ersetzen, betreffen.
Da die darauf bezüglichen Originalarbeiten der
Mathematiker, zunächst nur bestimmt Beweise für den Sachverständigen
in einem Gebiete zu führen, welches eine höhere Kraft der Abstraction
in Anspruch nimmt, als fast irgend ein anderes, dem Nichtmathematiker ziemlich
unzugänglich sind, so will ich versuchen auch für einen solchen
anschaulich zu machen, um was es sich handelt. Ich brauche wohl nicht zu
bemerken, dass meine Auseinandersetzung keinen Beweis von der Richtigkeit der
neuen Einsichten geben soll. Wer einen solchen sucht, der muss sich schon die Mühe
nehmen die Originalarbeiten zu studiren.
Wer einmal durch die Pforten der ersten elementaren Sätze
in die Geometrie, das heisst die mathematische Lehre vom Raume, eingetreten ist,
der findet vor sich auf seinem weiteren Wege jene lückenlosen Ketten von
Schlüssen, von denen ich vorher gesprochen habe, durch welche immer
mannigfachere und verwickeltere Raumformen ihre Gesetze empfangen. Aber in jenen
ersten Elementen werden einige Sätze aufgestellt, von denen die Geometrie
selbst erklärt, dass sie sie nicht beweisen könne, dass sie nur darauf
rechnen müsse, Jeder, der den Sinn dieser Sätze verstehe, werde ihre
Richtigkeit zugeben. Das sind die sogenannten Axiome der Geometrie. Zu diesen
gehört zunächst der Satz, dass wenn man die kürzeste Linie, die
zwischen zwei Punkten gezogen werden kann, eine gerade Linie nennt, es zwischen
zwei Punkten nur eine und nicht zwei verschiedene solche gerade Linien geben könne.
Es ist ferner ein Axiom, dass durch je drei Punkte des Raumes, die nicht in
einer geraden Linie liegen, eine Ebene gelegt werden kann, das heisst eine Fläche,
in welche jede gerade Linie, die zwei ihrer Punkte verbindet, ganz hinein fällt.
Ein anderes vielbesprochenes Axiom sagt aus, dass durch einen ausserhalb einer
geraden Linie liegenden Punkt nur eine einzige und nicht zwei verschiedene jener
ersten parallele Linien gelegt werden können. Parallel aber nennt man zwei
Linien, die in ein und derselben Ebene liegen und sich niemals schneiden, so
weit sie auch verlängert werden mögen. Ausserdem sprechen die
geometrischen Axiome Sätze aus, welche die Anzahl der Dimensionen sowohl
des Raumes als seiner Flächen, Linien, Punkte bestimmen, und den Begriff
der Continuität dieser Gebilde erläutern, wie die Sätze, dass die
Grenze eines Körpers eine Fläche, die einer Fläche eine Linie,
die einer Linie ein Punkt, und der Punkt untheilbar ist, und die Sätze,
dass [25/26] durch Bewegung eines Punktes eine Linie, durch Bewegung einer Linie
eine Linie oder Fläche, durch die einer Fläche eine Fläche oder
ein Körper, durch Bewegung eines Körpers aber immer nur wieder ein Körper
beschrieben werde.
Woher kommen nun solche Sätze, unbeweisbar und doch
unzweifelhaft richtig im Felde einer Wissenschaft, wo sich alles Andere der
Herrschaft des Schlusses hat unterwerfen lassen? Sind sie ein Erbtheil aus der göttlichen
Quelle unserer Vernunft, wie die idealistischen Philosophen meinen, oder ist der
Scharfsinn der bisher aufgetretenen Generationen von Mathematikern nur noch
nicht ausreichend gewesen den Beweis zu finden? Natürlich versucht jeder
neue Jünger der Geometrie, der mit frischem Eifer an diese Wissenschaft
herantritt, der Glückliche zu sein, welcher alle Vorgänger überflügelt.
Auch ist es ganz recht, dass ein Jeder sich von Neuem daran versucht; denn nur
durch die Fruchtlosigkeit der eigenen Versuche konnte man sich bei der
bisherigen Sachlage von der Unmöglichkeit des Beweises überzeugen.
Leider finden sich von Zeit zu Zeit auch immer wieder einzelne Grübler,
welche sich so lange und tief in verwickelte Schlussfolgen verstricken, bis sie
die begangenen Fehler nicht mehr entdecken können und die Sache gelöst
zu haben glauben. Namentlich der Satz von den Parallelen hat eine grosse Zahl
scheinbarer Beweise hervorgerufen.
Die grösste Schwierigkeit in diesen Untersuchungen bestand
und besteht immer darin, dass sich mit den logischen Begriffsentwickelungen gar
zu leicht Ergebnisse der alltäglichen Erfahrung als scheinbare
Denknothwendigkeiten vermischten, so lange die einzige Methode der Geometrie die
von Euklides gelehrte Methode der Anschauung war. Namentlich ist es
ausserordentlich schwer, auf diesem Wege vorschreitend sich überall klar zu
machen, ob man in den Schritten, die man für die Beweisführung nach
einander vorschreibt, nicht unwillkürlich und unwissentlich gewisse
allgemeinste Ergebnisse der Erfahrung zu Hilfe nimmt, welche die Ausführbarkeit
gewisser vorgeschriebener Theile des Verfahrens uns schon praktisch gelehrt
haben. Der wohlgeschulte Geometer fragt bei jeder Hilfslinie, die er für
irgend einen Beweis zieht, ob es auch immer möglich sein wird eine Linie
von der verlangten Art zu ziehen. Bekanntlich spielen die Constructionsaufgaben
in dem Systeme der Geometrie eine wesentliche Rolle. Oberflächlich
betrachtet sehen dieselben aus wie praktische Anwendungen, welche man zur Einübung
der Schüler hineingesetzt hat. In Wahrheit aber stellen sie die Existenz
gewisser Gebilde fest. Sie zeigen, [26/27] dass Punkte, gerade Linien oder
Kreise von der Art, wie sie in der Aufgabe zu construiren verlangt werden,
entweder unter allen Bedingungen möglich sind, oder bestimmen die etwa
vorhandenen Ausnahmsfälle. Der Punkt, um den sich die im Folgenden zu
besprechenden Untersuchungen drehen, ist wesentlich dieser Art. Die Grundlage
aller Beweise in der Euklidischen Methode ist der Nachweis der Congruenz der
betreffenden Linien, Winkel, ebenen Figuren, Körper u. s. w. Um die
Congruenz anschaulich zu machen, stellt man sich vor, dass die betreffenden
geometrischen Gebilde zu einander hinbewegt werden, natürlich ohne ihre
Form und Dimensionen zu verändern. Dass dies in der That möglich und
ausführbar sei, haben wir alle von frühester Jugend an erfahren. Wenn
wir aber Denknothwendigkeiten auf diese Annahme freier Beweglichkeit fester
Raumgebilde mit unveränderter Form nach jeder Stelle des Raumes hin bauen
wollen, so müssen wir die Frage aufwerfen, ob diese Annahme keine logisch
unerwiesene Voraussetzung einschliesst. Wir werden gleich nachher sehen, dass
sie in der That eine solche einschliesst, und zwar eine sehr folgenreiche. Wenn
sie das aber thut, so ist jeder Congruenzbeweis auf eine nur aus der Erfahrung
genommene Thatsache gestützt.
Ich führe diese Ueberlegungen hier zunächst nur an, um
klar zu machen, auf welche Schwierigkeiten wir bei der vollständigen
Analyse aller von uns gemachten Voraussetzungen nach der Methode der Anschauung
stossen. Ihnen entgehen wir, wenn wir die von der neueren rechnenden Geometrie
ausgearbeitete analytische Methode auf die Untersuchung der Principien anwenden.
Die ganze Ausführung der Rechnung ist eine rein logische Operation, sie
kann keine Beziehung zwischen den der Rechnung unterworfenen Grössen
ergeben, die nicht schon in den Gleichungen, welche den Ansatz der Rechnung
bilden, enthalten ist. Die erwähnten neueren Untersuchungen sind deshalb
fast ausschliesslich mittels der rein abstracten Methoden der analytischen
Geometrie geführt worden.
Uebrigens lässt sich nun doch, nachdem die abstracte
Methode die Punkte kennen gelehrt hat, auf die es ankommt, einigermaassen eine
Anschauung dieser Punkte geben, am besten, wenn wir in ein engeres Gebiet
herabsteigen, als unsere eigene Raumwelt ist. Denken wir uns - darin liegt keine
logische Unmöglichkeit - verstandbegabte Wesen von nur zwei Dimensionen,
die an der Oberfläche irgend eines unserer festen Körper leben und
[27/28] sich bewegen. Wir nehmen an, dass sie nicht die Fähigkeit haben,
irgend etwas ausserhalb dieser Oberfläche wahrzunehmen, wohl aber
Wahrnehmungen, ähnlich den unserigen, innerhalb der Ausdehnung der Fläche,
in der sie sich bewegen, zu machen. Wenn sich solche Wesen ihre Geometrie
ausbilden, so würden sie ihrem Raume natürlich nur zwei Dimensionen
zuschreiben. Sie würden ermitteln, dass ein Punkt, der sich bewegt, eine
Linie beschreibt, und eine Linie, die sich bewegt, eine Fläche, was für
sie das vollständigste Raumgebilde wäre, was sie kennen. Aber sie würden
sich ebenso wenig von einem weiteren räumlichen Gebilde, was entstände,
wenn eine Fläche sich aus ihrem flächenhaften Raume herausbewegte,
eine Vorstellung machen können, als wir es können von einem Gebilde,
das durch Herausbewegung eines Körpers aus dem uns bekannten Raume entstände.
Unter dem viel gemissbrauchten Ausdrucke sich vorstellen" oder sich
denken können, wie etwas geschieht" verstehe ich - und ich sehe nicht,
wie man etwas Anderes darunter verstehen könne, ohne allen Sinn des
Ausdrucks aufzugeben -, dass man sich die Reihe der sinnlichen Eindrücke
ausmalen könne, die man haben würde, wenn so etwas in einem einzelnen
Falle vor sich ginge. Ist nun gar kein sinnlicher Eindruck bekannt, der sich auf
einen solchen nie beobachteten Vorgang bezöge, wie für uns eine
Bewegung nach einer vierten, für jene Flächenwesen eine Bewegung nach
der uns bekannten dritten Dimension des Raumes wäre, so ist ein solches Vorstellen"
nicht möglich, ebenso wenig als ein von Jugend auf absolut Blinder sich
wird die Farben vorstellen" können, wenn man ihm auch eine
begriffliche Beschreibung derselben geben könnte.
Jene Flächenwesen würden ferner auch kürzeste
Linien in ihrem flächenhaften Raume ziehen können. Das wären
nicht nothwendig gerade Linien in unserem Sinne, sondern was wir nach
geometrischer Terminologie geodätische Linien der Fläche, auf der jene
leben, nennen würden, Linien, wie sie ein gespannter Faden beschreibt, den
man an die Fläche anlegt, und der ungehindert an ihr gleiten kann. Ich will
mir erlauben, im Folgenden dergleichen Linien als die geradesten Linien der
bezeichneten Fläche (beziehlich eines gegebenen Raumes) zu bezeichnen, um
dadurch ihre Analogie mit der geraden Linie in der Ebene hervorzuheben. Ich
hoffe den Begriff durch diesen Ausdruck der Anschauung meiner nicht
mathematischen Zuhörer näher zu rücken, ohne doch Verwechselungen
zu veranlassen. [28/29]
Wenn nun Wesen dieser Art auf einer unendlichen Ebene lebten, so
würden sie genau dieselbe Geometrie aufstellen, welche in unserer
Planimetrie enthalten ist. Sie würden behaupten, dass zwischen zwei Punkten
nur eine gerade Linie möglich ist, dass durch einen dritten, ausserhalb
derselben liegenden Punkt nur eine Parallele mit der ersten geführt werden
kann, dass übrigens gerade Linien in das Unendliche verlängert werden
können, ohne dass ihre Enden sich wieder begegnen, und so weiter. Ihr Raum
könnte unendlich ausgedehnt sein, aber auch wenn sie an Grenzen ihrer
Bewegung und Wahrnehmung stiessen, so würden sie sich eine Fortsetzung
jenseits dieser Grenzen anschaulich vorstellen können, und in dieser
Vorstellung würde ihr Raum ihnen unendlich ausgedehnt erscheinen, gerade
wie uns der unserige, obgleich auch wir mit unserem Leibe nicht unsere Erde
verlassen können, und unser Blick nur so weit reicht, als sichtbare
Fixsterne vorhanden sind.
Nun könnten aber intelligente Wesen dieser Art auch an der
Oberfläche einer Kugel leben. Ihre kürzeste oder geradeste Linie
zwischen zwei Punkten würde dann ein Bogen des grössten Kreises sein,
der durch die betreffenden Punkte zu legen ist. Jeder grösste Kreis, der
durch zwei gegebene Punkte geht, zerfällt dabei in zwei Theile. Wenn beide
ungleich lang sind, ist das kleinere allerdings die einzige kürzeste Linie
auf der Kugel, die zwischen diesen beiden Punkten besteht. Aber auch der andere
grössere Bogen desselben grössten Kreises ist eine geodätische
oder geradeste Linie, d. h. jedes kleinere Stück desselben ist eine kürzeste
Linie zwischen seinen beiden Endpunkten. Wegen dieses Umstandes können wir
den Begriff der geodätischen oder geradesten Linie nicht kurzweg mit dem
der kürzesten Linie identificiren. Wenn nun die beiden gegebenen Punkte
Endpunkte desselben Durchmessers der Kugel sind, so schneiden alle durch diesen
Durchmesser gelegten Ebenen Halbkreise aus der Kugelfläche, welche alle kürzeste
Linien zwischen den beiden Endpunkten sind. In einem solchen Falle giebt es also
unendlich viele unter einander gleiche kürzeste Linien zwischen den beiden
gegebenen Punkten. Somit würde das Axiom, dass nur eine kürzeste Linie
zwischen zwei Punkten bestehe, für die Kugelbewohner nicht ohne eine
gewisse Ausnahme giltig sein.
Parallele Linien würden die Bewohner der Kugel gar nicht
kennen. Sie würden behaupten, dass jede beliebige zwei geradeste Linien,
gehörig verlängert, sich schliesslich nicht nur in einem, sondern in
zwei Punkten schneiden müssten. Die Summe der [29/30] Winkel in einem
Dreieck würde immer grösser sein als zwei Rechte, und um so grösser,
je grösser die Fläche des Dreiecks. Eben deshalb würde ihnen auch
der Begriff der geometrischen Aehnlichkeit der Form zwischen grösseren und
kleineren Figuren derselben Art fehlen. Denn ein grösseres Dreieck muss
nothwendig andere Winkel haben als ein kleineres. Ihr Raum würde allerdings
unbegrenzt, aber endlich ausgedehnt gefunden oder mindestens vorgestellt werden
müssen.
Es ist klar, dass die Wesen auf der Kugel bei denselben
logischen Fähigkeiten, wie die auf der Ebene, doch ein ganz anderes System
geometrischer Axiome aufstellen müssten, als jene und wir selbst in unserem
Raume von drei Dimensionen. Diese Beispiele zeigen uns schon, dass je nach der
Art des Wohnraumes verschiedene geometrische Axiome aufgestellt werden müssten
von Wesen, deren Verstandeskräfte den unserigen ganz entsprechend sein könnten.
Aber gehen wir weiter. Denken wir uns vernünftige Wesen
existirend an der Oberfläche eines eiförmigen Körpers. Zwischen
je drei Punkten einer solchen Oberfläche könnte man kürzeste
Linien ziehen und so ein Dreieck construiren. Wenn man aber versuchte an
verschiedenen Stellen dieser Fläche congruente Dreiecke zu construiren, so
würde sich zeigen, dass, wenn zwei Dreiecke gleich lange Seiten haben, ihre
Winkel nicht gleich gross ausfallen. An dem spitzeren Ende des Eies gezeichnet,
würde die Winkelsumme des Dreiecks sich mehr von zwei Rechten
unterscheiden, als wenn ein Dreieck mit denselben Seiten an dem stumpferen Ende
gezeichnet würde; daraus geht hervor, dass an einer solchen Fläche
sich nicht einmal ein so einfaches Raumgebilde, wie ein Dreieck ist, ohne
Aenderung seiner Form von einem Orte nach jedem anderen fortbewegen lassen würde.
Ebenso würde sich zeigen, dass wenn an verschiedenen Stellen einer solchen
Oberfläche Kreise mit gleichen Radien construirt würden (die Länge
der Radien immer durch kürzeste Linien längs der Fläche
gemessen), deren Peripherie am stumpfen Ende grösser ausfallen würde,
als am spitzeren Ende.
Daraus folgt weiter, dass es eine besondere geometrische
Eigenschaft einer Fläche ist, wenn sich in ihr liegende Figuren ohne Veränderung
ihrer sämmtlichen längs der Fläche gemessenen Linien und Winkel
frei verschieben lassen, und dass dies nicht auf jeder Art von Fläche der
Fall sein wird. Die Bedingung dafür, dass eine Fläche diese wichtige
Eigenschaft habe, hatte [30/31] schon Gauss in seiner berühmten Abhandlung über
die Krümmung der Flächen nachgewiesen. Sie ist, dass das, was er das Maass
der Krümmung" genannt hat (nämlich der reciproke Werth des
Products der beiden Hauptkrümmungsradien) überall längs der
ganzen Ausdehnung der Fläche gleiche Grösse habe.
Gauss hat gleichzeitig nachgewiesen, dass dieses Maass der Krümmung
sich nicht verändert, wenn die Fläche gebogen wird, ohne dass sie
dabei in irgend einem Theile eine Dehnung oder Zusammenziehung erleidet. So können
wir ein ebenes Papierblatt zu einem Cylinder oder einem Kegel (Düte)
aufrollen, ohne dass die längs der Fläche des Blattes genommenen
Abmessungen seiner Figuren sich verändern. Und ebenso können wir die
halbkugelförmige geschlossene Hälfte einer Schweinsblase in
Spindelform zusammenrollen, ohne die Abmessungen in dieser Fläche selbst zu
verändern. Es wird also auch die Geometrie auf einer Ebene dieselbe sein,
wie in einer Cylinderfläche. Wir müssen uns nur im letzteren Falle
vorstellen, dass unbegrenzt viele Lagen dieser Fläche, wie die Lagen eines
umgewickelten Papierblatts, über einander liegen, und dass man bei jedem
ganzen Umgang um den Cylinderumfang in eine andere Lage hineinkommt, verschieden
von derjenigen, in der man sich früher befand.
Diese Bemerkungen sind nöthig, um Ihnen eine Vorstellung
von einer Art von Fläche geben zu können, deren Geometrie der der
Ebene im Ganzen ähnlich ist, für welche aber das Axiom von den
Parallellinien nicht gilt. Es ist dies eine Art gekrümmter Fläche,
welche sich in geometrischer Beziehung wie das Gegentheil einer Kugel verhält,
und die deshalb von dem ausgezeichneten italienischen Mathematiker E.
Beltrami*), der ihre Eigenschaften untersucht hat, die pseudosphärische Fläche
genannt worden ist. Es ist eine sattelförmige Fläche, von der in
unserem Raume nur begrenzte Stücke oder Streifen zusammenhängend
dargestellt werden können, die man aber doch sich nach allen Richtungen in
das Unendliche fortgesetzt denken kann, da man jedes an der Grenze des
construirten Flächentheils liegende Stück nach der Mitte desselben zurückgeschoben
und dann fortgesetzt denken kann. Das verschobene Flächenstück muss
dabei seine Biegung, aber nicht seine Dimensionen ändern, gerade so wie man
auf einem
*) Saggio di Interpretazione della Geometria Non-Euclidea.
Napoli 1868. - Teoria fondamentale degli Spazij di Curvatura costante. Annali di
Matematica. Ser. II, Tomo II, p. 232-255. [31/32]
durch dütenförmiges Zusammenrollen einer Ebene
entstandenen Kegel ein Papierblatt hin- und herschieben kann. Ein solches passt
sich der Kegelfläche überall an, aber muss der Spitze des Kegels näher
stärker gebogen werden und kann über die Spitze hinaus nicht so
verschoben werden, dass es dem existirenden Kegel und seiner idealen Fortsetzung
jenseits der Spitze angepasst bliebe.
Wie die Ebene und die Kugel sind die pseudosphärischen Flächen
von constanter Krümmung, so dass sich jedes Stück der-
selben an jede andere Stelle der Fläche vollkommen
anschliessend anlegen kann, und also alle an einem Orte in der Fläche
construirten Figuren, an jeden anderen Ort in vollkommen congruenter Form und
mit vollkommener Gleichheit aller in der Fläche selbst liegenden
Dimensionen übertragen werden können. Das von Gauss aufgestellte Maass
der Krümmung, was für die Kugel positiv und für die Ebene gleich
Null ist, würde für die pseudosphärischen Flächen einen
constanten, negativen Werth haben, weil die beiden [32/33] Hauptkrümmungen
einer sattelförmigen Fläche ihre Concavität nach
entgegengesetzten Seiten kehren.
Ein Streifen einer pseudosphärischen Fläche kann zum
Beispiel aufgewickelt als Oberfläche eines Ringes dargestellt werden.
Denken Sie sich eine Fläche wie
a a
,
b b,
Fig. 1, um ihre Symmetrie-
axe
A B
gedreht, so würden die beiden Bogen
a b
eine solche pseudosphärische Ringfläche beschreiben.
Die beiden Ränder der Fläche oben bei
a a
und unten bei
b b
würden sich mit immer schärfer werdender Biegung nach
aussen wenden, bis die Fläche [33/34] senkrecht zur Axe steht, und dort würde
sie mit einer unendlich starken Krümmung an der Kante enden. Auch zu einem
kelchförmigen Champagnerglase mit unendlich verlängertem, immer dünner
werdendem Stiele wie Fig. 2 (a. v. S.) könnte eine Hälfte einer
pseudosphärischen Fläche aufgewickelt werden. Aber an einer Seite ist
sie nothwendig immer durch einen scharf abbrechenden Rand begrenzt, über
den hinaus eine continuirliche Fortsetzung der Fläche nicht unmittelbar
ausgeführt werden kann. Nur dadurch, dass man jedes einzelne Stück des
Randes losgeschnitten und längs der Fläche des Ringes oder Kelchglases
verschoben denkt, kann man es zu Stellen von anderer Biegung bringen, an denen
weitere Fortsetzung dieses Flächenstücks möglich ist.
In dieser Weise lassen sich denn auch die geradesten Linien der
pseudosphärischen Fläche unendlich verlängern. Sie laufen nicht
wie die der Kugel in sich zurück, sondern wie auf der Ebene ist zwischen
zwei gegebenen Punkten immer nur eine einzige kürzeste Linie möglich.
Aber das Axiom von den Parallelen trifft nicht zu. Wenn eine geradeste Linie auf
der Fläche gegeben ist und ein Punkt ausserhalb derselben, so lässt
sich ein ganzes Bündel von geradesten Linien durch den Punkt legen, welche
alle die erstgenannte Linie nicht schneiden, auch wenn sie ins Unendliche verlängert
werden. Es sind dies alle Linien, welche zwischen zwei das Bündel
begrenzenden geradesten Linien liegen. Die eine von diesen, unendlich verlängert,
trifft die erstgenannte Linie im Unendlichen bei Verlängerung nach einer
Seite, die andere bei Verlängerung nach der anderen Seite.
Eine solche Geometrie, welche das Axiom von den Parallelen
fallen lässt, ist übrigens schon im Jahre 1829 nach der synthetischen
Methode des Euklid von N. J. Lobatschewsky, Professor der Mathematik zu Kasan,
vollständig ausgearbeitet worden *). Es zeigte sich, dass deren System
ebenso consequent und ohne Widerspruch durchzuführen sei, wie das des
Euklides. Diese Geometrie ist in vollständiger Uebereinstimmung mit der der
pseudosphärischen Flächen, wie sie Beltrami neuerdings ausgebildet
hat.
Wir sehen daraus, dass in der Geometrie zweier Dimensionen die
Voraussetzung, jede Figur könne ohne irgend welche Aenderung ihrer in der
Fläche liegenden Dimensionen nach allen Rich-
*) Principien der Geometrie. Kasan, 1829 bis 1830. [34/35]
tungen hin fortbewegt werden, die betreffende Fläche
charakterisirt als Ebene oder Kugel oder pseudosphärische Fläche. Das
Axiom, dass zwischen je zwei Punkten immer nur eine kürzeste Linie bestehe,
trennt die Ebene und pseudosphärische Fläche von der Kugel, und das
Axiom von den Parallelen scheidet die Ebene von der Pseudosphäre. Diese
drei Axiome sind in der That also nothwendig und hinreichend, um die Fläche,
auf welche sich die Euklidische Planimetrie bezieht, als Ebene zu
charakterisiren, im Gegensatz zu allen anderen Raumgebilden zweier Dimensionen.
Der Unterschied zwischen der Geometrie in der Ebene und
derjenigen auf der Kugelfläche ist längst klar und anschaulich
gewesen, aber der Sinn des Axioms von den Parallelen konnte erst verstanden
werden, nachdem von Gauss der Begriff der ohne Dehnung biegsamen Flächen
und damit der möglichen unendlichen Fortsetzung der pseudosphärischen
Flächen entwickelt worden war. Wir als Bewohner eines Raumes von drei
Dimensionen und begabt mit Sinneswerkzeugen, um alle diese Dimensionen
wahrzunehmen, können uns die verschiedenen Fälle, in denen flächenhafte
Wesen ihre Raumanschauung auszubilden hätten, allerdings anschaulich
vorstellen, weil wir zu diesem Ende nur unsere eigenen Anschauungen auf ein
engeres Gebiet zu beschränken haben. Anschauungen, die man hat, sich
wegdenken ist leicht; aber Anschauungen, für die man nie ein Analogon
gehabt hat, sich sinnlich vorstellen ist sehr schwer. Wenn wir deshalb zum Raume
von drei Dimensionen übergehen, so sind wir in unserem Vorstellungsvermögen
gehemmt durch den Bau unserer Organe und die damit gewonnenen Erfahrungen,
welche nur zu dem Raume passen, in dem wir leben.
Nun haben wir aber noch einen anderen Weg zur wissenschaftlichen
Behandlung der Geometrie. Es sind nämlich alle uns bekannten Raumverhältnisse
messbar, das heisst sie können auf Bestimmung von Grössen (von Linienlängen,
Winkeln, Flächen, Volumina) zurückgeführt werden. Eben deshalb können
die Aufgaben der Geometrie auch dadurch gelöst werden, dass man die
Rechnungsmethoden aufsucht, mittels deren man die unbekannten Raumgrössen
aus den bekannten herzuleiten hat. Dies geschieht in der analytischen Geometrie,
in welcher die sämmtlichen Gebilde des Raumes nur als Grössen
behandelt und durch andere Grössen bestimmt werden. Auch sprechen schon
unsere Axiome von Raumgrössen. Die gerade Linie wird als die kürzeste
zwischen zwei Punkten definirt, was eine Grössenbestimmung ist. [35/36] Das
Axiom von den Parallelen sagt aus, dass, wenn zwei gerade Linien in derselben
Ebene sich nicht schneiden (parallel sind), die Wechselwinkel, beziehlich die
Gegenwinkel, an einer dritten sie schneidenden paarweise gleich sind. Oder dafür
wird der Satz gesetzt, dass die Summe der Winkel in jedem Dreieck gleich zwei
Rechten ist. Auch dies sind Grössenbestimmungen.
Man kann nun also auch von dieser Seite des Raumbegriffs
ausgehen, wonach die Lage jedes Punktes, in Bezug auf irgend welches als fest
angesehenes Raumgebilde (Coordinatensystem), durch Messungen irgend welcher Grössen
bestimmt werden kann, und dann zusehen, welche besonderen Bestimmungen unserem
Raume, wie er bei den thatsächlich auszuführenden Messungen sich
darstellt, zukommen, und ob solche da sind, durch welche er sich von ähnlich
mannigfaltig ausgedehnten Grössen unterscheidet. Diesen Weg hat zuerst der
der Wissenschaft leider zu früh entrissene B. Riemann in Göttingen*)
eingeschlagen. Dieser Weg hat den eigenthümlichen Vorzug, dass alle
Operationen, die in ihm vorkommen, reine rechnende Grössenbestimmungen
sind, wobei die Gefahr, dass sich gewohnte Anschauungsthatsachen als
Denknothwendigkeiten unterschieben könnten, ganz wegfällt.
Die Zahl der Abmessungen, welche nöthig ist um die Lage
eines Punktes zu geben, ist gleich der Anzahl der Dimensionen des betreffenden
Raumes. In einer Linie genügt der Abstand von einem festen Punkte, also
eine Grösse; in einer Fläche muss man schon die Abstände von zwei
festen Punkten angeben, im Raum von dreien, um die Lage des Punktes zu fixiren;
oder wir brauchen, wie auf der Erde, geographische Länge, Breite und Höhe
über dem Meere, oder, wie in der analytischen Geometrie gewöhnlich,
die Abstände von drei Coordinatebenen. Riemann nennt ein System von
Unterschieden, in welchem das Einzelne durch
n
Abmessungen bestimmt werden kann, eine
n
fach ausgedehnte Mannigfaltigkeit oder eine Mannigfaltigkeit von
n
Dimensionen. Somit ist also der uns bekannte Raum, in dem wir
leben, eine dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit von Punkten, eine Fläche
eine zweifache, eine Linie eine einfache, die Zeit ebenso eine einfache. Auch
das System der Farben bildet eine dreifache Mannigfaltigkeit, insofern jede
Farbe nach Th. Young's und
*) Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde
liegen", Habilitationsschrift vom 10. Juni 1854. Veröffentlicht in Bd.
XIII der Abhandlungen der Königl. Gesellschaft zu Göttingen. [36/37]
Cl. Maxwell's*) Untersuchungen dargestellt werden kann, als die
Mischung dreier Grundfarben, von deren jeder ein bestimmtes Quantum anzuwenden
ist. Mit dem Farbenkreisel kann man solche Mischungen und Abmessungen wirklich
ausführen.
Ebenso könnten wir das Reich der einfachen Töne**) als
eine Mannigfaltigkeit von zwei Dimensionen betrachten, wenn wir sie nur nach
Tonhöhe und Tonstärke verschieden nehmen und die Verschiedenheiten der
Klangfarbe bei Seite lassen. Diese Verallgemeinerung des Begriffs ist sehr
geeignet, um hervortreten zu lassen, wodurch sich der Raum von anderen
Mannigfaltigkeiten dreier Dimensionen unterscheidet. Wir können, wie Sie
alle aus alltäglicher Erfahrung wissen, im Raume den Abstand zweier über
einander gelegener Punkte vergleichen mit dem horizontalen Abstande zweier
Punkte des Fussbodens, weil wir einen Maassstab bald an das eine, bald an das
andere Paar anlegen können. Aber wir können nicht den Abstand zweier Töne
von gleicher Höhe und verschiedener Intensität vergleichen mit dem
zweier Töne von gleicher Intensität und verschiedener Höhe.
Riemann zeigte durch Betrachtungen dieser Art, dass die wesentliche Grundlage
jeder Geometrie der Ausdruck sei, durch welchen die Entfernung zweier in
beliebiger Richtung von einander liegender Punkte, und zwar zunächst zweier
unendlich wenig von einander entfernten, gegeben wird. Für diesen Ausdruck
nahm er aus der analytischen Geometrie die allgemeinste Form***), welche
derselbe erhält, wenn man die Art der Abmessungen, durch welche der Ort
jedes Punktes gegeben wird, ganz beliebig lässt. Er zeigte dann, dass
diejenige Art der Bewegungsfreiheit bei unveränderter Form, welche den Körpern
in unserem Raume zukommt, nur bestehen kann, wenn gewisse, aus der Rechnung
hervorgehende Grössen
Å
), die bezogen auf die Verhältnisse an Flächen sich
auf das Gauss'sche Maass der Flächenkrümmung reduciren, überall
den gleichen Werth haben. Eben deshalb nennt Riemann diese Rechnungsgrössen,
wenn sie für eine bestimmte Stelle nach allen Richtungen hin denselben
Werth haben, das Krümmungsmaass des betreffenden Raumes an
*) Siehe S. 41, Heft II. dieser Vorlesungen.
**) Siehe S. 77, Heft I. dieser Vorlesungen.
***) Nämlich für das Quadrat des Abstandes zweier
unendlich naher Punkte eine homogene Function zweiten Grades der Differentiale
ihrer Coordinaten.
Å
) Es ist ein algebraïscher Ausdruck, zusammengesetzt aus
den Coëfficienten der einzelnen Glieder in dem Ausdruck für das
Quadrat der Entfernung zweier benachbarter Punkte und deren
Differentialquotienten. [37/38]
dieser Stelle. Um Missverständnisse abzuwehren*), will ich
hier nur noch hervorheben, dass dieses sogenannte Krümmungsmaass des Raums
eine auf rein analytischem Wege gefundene Rechnungsgrösse ist, und dass
seine Einführung keineswegs auf einer Unterschiebung von Verhältnissen,
die nur in der sinnlichen Anschauung Sinn hätten, beruht. Der Name ist nur
als kurze Bezeichnung eines verwickelten Verhältnisses von dem einen Falle
hergenommen, wo der bezeichneten Grösse eine sinnliche Anschauung
entspricht.
Wenn nun dieses Krümmungsmaass des Raumes überall den
Werth Null hat, entspricht ein solcher Raum überall den Axiomen des
Euklides. Wir können ihn in diesem Falle einen ebenen Räum nennen, im
Gegensatz zu anderen analytisch construirbaren Räumen, die man gekrümmte
nennen könnte, weil ihr Krümmungsmaass einen von Null verschiedenen
Werth hat. Indessen lässt sich die analytische Geometrie für Räume
der letzteren Art ebenso vollständig und in sich consequent durchführen,
wie die gewöhnliche Geometrie unseres thatsächlich bestehenden ebenen
Raumes.
Ist das Krümmungsmaass positiv, so erhalten wir den sphärischen
Raum, in welchem die geradesten Linien in sich zurücklaufen, und in welchem
es keine Parallelen giebt. Ein solcher Raum wäre wie die Oberfläche
einer Kugel unbegrenzt, aber nicht unendlich gross. Ein negatives constantes Krümmungsmaass
dagegen giebt den pseudosphärischen Raum, in welchem die geradesten Linien
in das Unendliche auslaufen, und in jeder ebensten Fläche durch jeden Punkt
ein Bündel von geradesten Linien zu legen ist, die eine gegebene andere
geradeste Linie jener Fläche nicht schneiden.
Diese letzteren Verhältnisse hat Herr Beltrami**) dadurch
der Anschauung zugänglich gemacht, dass er zeigte, wie man die Punkte,
Linien und Flächen eines pseudosphärischen Raumes von drei Dimensionen
im Innern einer Kugel des Euklides'schen Raumes so abbilden kann, dass jede
geradeste Linie des pseudosphärischen Raumes in der Kugel durch eine gerade
Linie vertreten wird, jede ebenste Fläche des ersteren durch eine Ebene in
der letzteren. Die Kugeloberfläche selbst entspricht dabei den unendlich
entfernten Punkten des pseudosphärischen Raumes; die verschiedenen Theile
desselben sind in ihrem Kugelabbild um so mehr
*) Wie ein solches z. B. in dem oben citirten Buche von Herrn W.
Tobias begangen ist. S. 70 u. a. m.
**) Teoria fondamentale degli Spazii di Curvatura costante.
Annali di Matematica. Ser. II, Tom. II, Fasc. III, p. 232-255. [38/39]
verkleinert, je näher sie der Kugeloberfläche liegen
und zwar in der Richtung der Kugelradien stärker als in den Richtungen
senkrecht darauf. Gerade Linien in der Kugel, die sich erst ausserhalb der
Kugeloberfläche schneiden, entsprechen geradesten Linien des pseudosphärischen
Raumes, die sich nirgends schneiden.
Somit zeigte sich, dass der Raum, als Gebiet messbarer Grössen
betrachtet, keineswegs dem allgemeinsten Begriffe einer Mannigfaltigkeit von
drei Dimensionen entspricht, sondern noch besondere Bestimmungen erhält,
welche bedingt sind durch die vollkommen freie Beweglichkeit der festen Körper
mit unveränderter Form nach allen Orten hin und bei allen möglichen
Richtungsänderungen, und ferner durch den besonderen Werth des Krümmungsmaasses,
welches für den thatsächlich vorliegenden Raum gleich Null zu setzen
ist, oder sich wenigstens in seinem Werthe nicht merklich von Null
unterscheidet. Diese letztere Festsetzung ist in den Axiomen von den geraden
Linien und von den Parallelen gegeben.
Während Riemann von den allgemeinsten Grundfragen der
analytischen Geometrie her dieses neue Gebiet betrat, war ich selbst theils
durch Untersuchungen über die räumliche Darstellung des Systems der
Farben, also durch Vergleichung einer dreifach ausgedehnten Mannigfaltigkeit mit
einer anderen, theils durch Untersuchungen über den Ursprung unseres
Augenmaasses für Abmessungen des Gesichtsfeldes zu ähnlichen
Betrachtungen, wie Riemann, gekommen. Während dieser von dem oben erwähnten
algebraïschen Ausdrucke, welcher die Entfernung zweier einander unendlich
naher Punkte in allgemeinster Form darstellt, als seiner Grundannahme ausgeht,
und daraus die Sätze über Beweglichkeit fester Raumgebilde herleitet,
bin ich andererseits von der Thatsache der Beobachtung ausgegangen, dass in
unserem Raume die Bewegung fester Raumgebilde mit demjenigen Grade von Freiheit
möglich ist, den wir kennen, und. habe aus dieser Thatsache die
Nothwendigkeit jenes algebraïschen Ausdrucks hergeleitet, den Riemann als
Axiom hinstellt. Die Annahmen, welche ich der Rechnung zu Grunde legen musste,
waren die folgenden.
Zuerst, um überhaupt rechnende Behandlung möglich zu
machen, muss vorausgesetzt werden, dass die Lage jedes Punktes
A
gegen gewisse als unveränderlich und fest betrachtete
Raumgebilde durch Messungen von irgend welchen Raumgrössen, seien es
Linien, oder Winkel zwischen Linien, oder Winkel zwischen Flächen u. s[.]
w., bestimmt werden könne. Bekanntlich nennt man die zur Bestimmung der
Lage des Punktes
A
nöthigen Abmessungen [39/40] seine Coordinaten. Die Anzahl
der im Allgemeinen zur vollständigen Bestimmung der Lage eines jeden
Punktes nöthigen Coordinaten bestimmt die Anzahl der Dimensionen des
betreffenden Raumes. Es wird weiter vorausgesetzt, dass bei Bewegung des Punktes
A
sich die als Coordinaten gebrauchten Raumgrössen
continuirlich verändern.
Zweitens ist die Definition eines festen Körpers,
beziehlich festen Punktsystems zu geben, wie sie nöthig ist, um
Vergleichung von Raumgrössen durch Congruenz vornehmen zu können. Da
wir hier noch keine speciellen Methoden zur Messung der Raumgrössen
voraussetzen dürfen, so kann die Definition eines festen Körpers nur
erst durch folgendes Merkmal gegeben werden: Zwischen den Coordinaten je zweier
Punkte, die einem festen Körper angehören, muss eine Gleichung
bestehen, die eine bei jeder Bewegung des Körpers unveränderte
Raumbeziehung zwischen den beiden Punkten (welche sich schliesslich als ihre
Entfernung ergiebt) ausspricht, und welche für congruente Punktpaare die
gleiche ist. Congruent aber sind solche Punktpaare, die nach einander mit
demselben im Raume festen Punktpaare zusammenfallen können.
Trotz ihrer anscheinend so unbestimmten Fassung ist diese
Bestimmung äusserst folgenreich, weil bei Vermehrung der Punktzahl die
Anzahl der Gleichungen viel schneller wächst, als die Zahl der durch sie
bestimmten Coordinaten der Punkte. Fünf Punkte,
A, B, C, D, E,
geben zehn verschiedene Punktpaare:
AB, AC, AD, AE, BC, BD, BE, CD, CE, DE,
also zehn Gleichungen, die im Raume von drei Dimensionen fünfzehn
veränderliche Coordinaten enthalten, von denen aber sechs frei verfügbar
bleiben müssen, wenn das System der fünf Punkte frei beweglich und
drehbar sein soll: Es dürfen also nur neun Coordinaten durch jene zehn
Gleichungen bestimmt werden, als abhängig von jenen sechs veränderlichen.
Bei sechs Punkten bekommen wir fünfzehn Gleichungen für zwölf veränderliche
Grössen, bei 7 Punkten 21 Gleichungen für 15 Grössen u. s. w. Nun
können wir aber aus
n
von einander unabhängigen Gleichungen
n
darin vorkommende Grössen bestimmen. Haben wir mehr als
n
Gleichungen, so müssen die überzähligen selbst
herzuleiten sein aus den
n
ersten derselben. Daraus folgt, dass jene Gleichungen, welche
zwi-[40/41]schen den Coordinaten jedes Punktpaares eines festen Körpers
bestehen, von besonderer Art sein müssen, so dass, wenn sie im Raume von
drei Dimensionen für neun aus je fünf Punkten gebildete Punktpaare erfüllt
sind, aus ihnen die Gleichung für das zehnte Paar identisch folgt. Auf
diesem Umstande beruht es, dass die genannte Annahme für die Definition der
Festigkeit doch genügt, um die Art der Gleichungen zu bestimmen, welche
zwischen den Coordinaten zweier fest miteinander verbundener Punkte bestehen.
Drittens ergab sich, dass noch eine besondere Eigenthümlichkeit
der Bewegung fester Körper der Rechnung als Thatsache zu Grunde gelegt
werden musste, eine Eigenthümlichkeit, welche uns so geläufig ist,
dass wir ohne diese Untersuchung vielleicht nie darauf gefallen wären, sie
als etwas zu betrachten, was auch nicht sein könnte. Wenn wir nämlich
in unserem Raume von drei Dimensionen zwei Punkte eines festen Körpers
festhalten, so kann er nur noch Drehungen um deren gerade Verbindungslinie als
Drehungsaxe machen. Drehen wir ihn einmal ganz um, so kommt er genau wieder in
die Lage, in der er sich zuerst befunden hatte. Dass nun Drehung ohne Umkehr
jeden festen Körper immer wieder in seine Anfangslage zurückführt,
muss besonders erwähnt werden. Es wäre eine Geometrie möglich, wo
es nicht so wäre. Am einfachsten ist dies für die Geometrie der Ebene
einzusehen. Man denke sich, dass bei jeder Drehung jeder ebenen Figur ihre
linearen Dimensionen dem Drehungswinkel proportional wüchsen, so würde
nach einer ganzen Drehung um 360 Grad die Figur nicht mehr ihrem Anfangszustande
congruent sein. Uebrigens würde ihr aber jede zweite Figur, die ihr in der
Anfangslage congruent war, auch in der zweiten Lage congruent gemacht werden können,
wenn auch die zweite Figur um 360 Grad gedreht wird. Es würde ein
consequentes System der Geometrie auch unter dieser Annahme möglich sein,
welches nicht unter die Riemann'sche Form fällt.
Andererseits habe ich gezeigt, dass die aufgezählten drei
Annahmen zusammengenommen ausreichend sind, um den von Riemann angenommenen
Ausgangspunkt der Untersuchung zu begründen, und damit auch alle weiteren
Ergebnisse von dessen Arbeit, die sich auf den Unterschied der verschiedenen Räume
nach ihrem Krümmungsmaass beziehen.
Es liesse sich nun noch fragen, ob auch die Gesetze der Bewegung
und ihrer Abhängigkeit von den bewegenden Kräften ohne Widerspruch auf
die sphärischen oder pseudosphärischen Räume übertragen
werden können. Diese Untersuchung ist von Herrn [41/42] Professor
Lipschitz*) in Bonn durchgeführt worden. Es lässt sich in der That der
zusammenfassende Ausdruck aller Gesetze der Dynamik, das Hamilton'sche Princip,
direct auf Räume, deren Krümmungsmaass nicht gleich Null ist, übertragen.
Also auch nach dieser Seite hin verfallen die abweichenden Systeme der Geometrie
in keinen Widerspruch.
Wir werden nun weiter zu fragen haben, wo diese besonderen
Bestimmungen herkommen, welche unseren Raum als ebenen Raum charakterisiren, da
dieselben, wie sich gezeigt hat, nicht in dein allgemeinen Begriffe einer
ausgedehnten Grösse von drei Dimensionen und freier Beweglichkeit der in
ihr enthaltenen begrenzten Gebilde enthalten sind. Denknothwendigkeiten, die aus
dem Begriffe einer solchen Mannigfaltigkeit und ihrer Messbarkeit, oder aus dem
aller allgemeinsten Begriffe eines festen in ihr enthaltenen Gebildes und seiner
freiesten Beweglichkeit herfliessen, sind sie nicht.
Wir wollen nun die entgegengesetzte Annahme, die sich über
ihren Ursprung machen lässt, untersuchen, die Frage nämlich, ob sie
empirischen Ursprungs seien, ob sie aus Erfahrungsthatsachen abzuleiten, durch
solche zu erweisen, beziehlich zu prüfen und vielleicht auch zu widerlegen
seien. Die letztere Eventualität würde dann auch einschliessen, dass
wir uns Reihen beobachtbarer Erfahrungsthatsachen müssten vorstellen können,
durch welche ein anderer Werth des Krümmungsmaasses angezeigt würde,
als derjenige ist, den der ebene Raum des Euklides hat. Wenn aber Räume
anderer Art in dem angegebenen Sinne vorstellbar sind, so wäre damit auch
widerlegt, dass die Axiome der Geometrie nothwendige Folgen einer a priori
gegebenen transcendentalen Form unserer Anschauungen im Kant'schen Sinne seien.
Der Unterschied der Euklidischen, sphärischen und pseudosphärischen
Geometrie beruht, wie oben bemerkt, auf dem Werthe einer gewissen Constante,
welche Riemann das Krümmungsmaass des betreffenden Raumes nennt, und deren
Werth gleich Null sein muss, wenn die Axiome des Euklides gelten. Ist sie nicht
gleich Null, so würden Dreiecke von grossem Flächeninhalte eine andere
Winkelsumme haben müssen, als kleine, erstere im sphärischen Raume
eine grössere, im pseudosphärischen eine kleinere. Ferner ist
geometrische Aehnlichkeit grosser und kleiner Körper oder
*) Untersuchungen über die ganzen homogen Functionen von
n
Differentialen. Borchardt's Journal für Mathematik, Bd.
LXX, S. 71 und Bd. LXXII, S. 1. - Untersuchung eines Problems der
Variationsrechnung, ebendas., Bd. LXXIV. [42/43]
Figuren nur möglich im Euklidischen Raume. Alle Systeme
praktisch ausgeführter geometrischer Messungen, bei denen die drei Winkel
grosser geradliniger Dreiecke einzeln gemessen worden sind, also auch namentlich
alle Systeme astronomischer Messungen, welche die Parallaxe der unmessbar weit
entfernten Fixsterne gleich Null ergeben (im pseudosphärischen Raum müssten
auch die unendlich entfernten Punkte positive Parallaxe haben), bestätigen
empirisch das Axiom von den Parallelen, und zeigen, dass in unserem Raume und
bei Anwendung unserer Messungsmethoden das Krümmungsmaass des Raumes als
von Null ununterscheidbar erscheint. Freilich muss mit Riemann die Frage
aufgeworfen werden, ob das sich nicht vielleicht anders verhalten würde,
wenn wir statt unserer begrenzten Standlinien, deren grösste die grosse Axe
der Erdbahn ist, grössere benutzen könnten.
Aber wir dürfen dabei nicht vergessen, dass alle
geometrischen Messungen schliesslich auf dem Principe der Congruenz beruhen. Wir
messen Entfernungen von Punkten, indem wir den Zirkel oder den Maassstab oder
die Messkette zu ihnen hinbewegen. Wir messen Winkel, indem wir den getheilten
Kreis oder den Theodolithen an den Scheitel des Winkels bringen. Daneben
bestimmen wir gerade Linien auch durch den unserer Erfahrung nach geradlinigen
Gang der Lichtstrahlen; aber dass das Licht sich längs kürzester
Linien ausbreitet, so lange es in einem ungeänderten brechenden Medium
bleibt, würde sich ebenso auch auf Räume von anderem Krümmungsmaass
übertragen lassen. Alle unsere geometrischen Messungen beruhen also auf der
Voraussetzung, - dass unsere von uns für fest gehaltenen Messwerkzeuge
wirklich Körper von unveränderlicher Form sind, oder dass sie
wenigstens keine anderen Arten von Formveränderung erleiden, als
diejenigen, die wir an ihnen kennen, wie z. B. die von geänderter
Temperatur, oder von der bei geänderter Stellung anders wirkenden Schwere
herrührenden kleinen Dehnungen.
Wenn wir messen, so führen wir nur mit den besten und
zuverlässigsten uns bekannten Hilfsmitteln dasselbe aus, was wir sonst
durch Beobachtung nach dem Augenmaass, dem Tastsinn, oder durch Abschreiten zu
ermitteln pflegen. In den letzteren Fällen ist unser eigener Körper
mit seinen Organen das Messwerkzeug, welches wir im Raume herumtragen. Bald ist
die Hand, bald sind die Beine unser Zirkel, oder das nach allen Richtungen sich
wendende Auge der Theodolith, mit dem wir Bogenlängen oder Flächenwinkel
im Gesichtsfelde abmessen. [43/44]
Jede Grössen vergleichende, sei es Schätzung, sei es
Messung räumlicher Verhältnisse geht also von einer Voraussetzung über
das physikalische Verhalten gewisser Naturkörper aus, sei es unseres
eigenen Leibes, sei es der angewendeten Messinstrumente, welche Voraussetzung übrigens
den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit haben und mit allen uns sonst
bekannten physikalischen Verhältnissen in der besten Uebereinstimmung
stehen mag, aber jedenfalls über das Gebiet der reinen Raumanschauungen
hinausgreift.
Ja, es lässt sich ein bestimmtes Verhalten der uns als fest
erscheinenden Körper angeben, bei welchem die Messungen im Euklidischen
Raume so ausfallen würden, als wären sie im pseudosphärischen
oder sphärischen Raume angestellt. Um dies einzusehen, erinnere ich zunächst
daran, dass, wenn die sämmtlichen linearen Dimensionen der uns umgebenden Körper
und die unseres eigenen Leibes mit ihnen in gleichem Verhältnisse, z. B.
alle auf die Hälfte, verkleinert oder alle auf das Doppelte vergrössert
würden, wir eine solche Aenderung durch unsere Mittel der Raumanschauung
gar nicht würden bemerken können. Dasselbe würde aber auch der
Fall sein, wenn die Dehnung oder Zusammenziehung nach verschiedenen Richtungen
hin verschieden wäre, vorausgesetzt, dass unser eigener Leib in derselben
Weise sich veränderte, und vorausgesetzt ferner, dass ein Körper, der
sich drehte, in jedem Augenblick ohne mechanischen Widerstand zu erleiden oder
auszuüben denjenigen Grad der Dehnung seiner verschiedenen Dimensionen annähme,
der seiner zeitigen Lage entspricht. Man denke an das Abbild der Welt in einem
Convexspiegel. Die bekannten versilberten Kugeln, welche in Gärten
aufgestellt zu werden pflegen, zeigen die wesentlichen Erscheinungen eines
solchen Bildes, wenn auch gestört durch einige optische Unregelmässigkeiten.
Ein gut gearbeiteter Convexspiegel von nicht zu grosser Oeffnung zeigt das
Spiegelbild jedes vor ihm liegenden Gegenstandes scheinbar körperlich und
in bestimmter Lage und Entfernung hinter seiner Fläche. Aber die Bilder des
fernen Horizontes und der Sonne am Himmel liegen in begrenzter Entfernung,
welche der Brennweite des Spiegels gleich ist, hinter dem Spiegel. Zwischen
diesen Bildern und der Oberfläche des Spiegels sind die Bilder aller
anderen vor letzterem liegenden Objecte enthalten, aber so, dass die Bilder um
so mehr verkleinert und um so mehr abgeplattet sind, je ferner ihre Objecte vom
Spiegel liegen. Die Abplattung, das heisst die Verkleinerung der
Tiefendimension, ist verhältnissmässig bedeutender als die
Verkleinerung der Flächendimensionen. Dennoch wird [44/45] jede gerade
Linie der Aussenwelt durch eine gerade Linie im Bilde, jede Ebene durch eine
Ebene dargestellt. Das Bild eines Mannes, der mit einem Maassstab eine von dem
Spiegel sich entfernende gerade Linie abmisst, würde immer mehr
zusammenschrumpfen, je mehr das Original sich entfernt, aber mit seinem
ebenfalls zusammenschrumpfenden Maassstab würde der Mann im Bilde genau
dieselbe Zahl von Centimetern herauszählen, wie der Mann in der
Wirklichkeit; überhaupt würden alle geometrischen Messungen, von
Linien oder Winkeln mit den gesetzmässig veränderlichen Spiegelbildern
der wirklichen Instrumente ausgeführt, genau dieselben Resultate ergeben
wie die in der Aussenwelt, alle Congruenzen würden in den Bildern bei
wirklicher Aneinanderlagerung der betreffenden Körper ebenso passen wie in
der Aussenwelt, alle Visirlinien der Aussenwelt durch gerade Visirlinien im
Spiegel ersetzt sein. Kurz, ich sehe nicht, wie die Männer im Spiegel
herausbringen sollten, dass ihre Körper nicht feste Körper seien und
ihre Erfahrungen gute Beispiele für die Richtigkeit der Axiome des
Euklides. Könnten sie aber hinausschauen in unsere Welt, wie wir
hineinschauen in die ihrige, ohne die Grenze überschreiten zu können,
so würden sie unsere Welt für das Bild eines Convexspiegels erklären
müssen und von uns gerade so reden, wie wir von ihnen, und wenn sich die Männer
beider Welten mit einander besprechen könnten, so würde, soweit ich
sehe, keiner den anderen überzeugen können, dass er die wahren Verhältnisse
habe, der andere die verzerrten; ja ich kann nicht erkennen, dass eine solche
Frage überhaupt einen Sinn hätte, so lange wir keine mechanischen
Betrachtungen einmischen.
Nun ist Herrn Beltrami's Abbildung des pseudosphärischen
Raumes in einer Vollkugel des Euklidischen Raumes von ganz ähnlicher Art,
nur dass die Fläche des Hintergrundes nicht eine Ebene, wie bei dem
Convexspiegel, sondern eine Kugelfläche ist, und das Verhältniss, in
welchem sich die der Kugelfläche näher kommenden Bilder
zusammenziehen, einen anderen mathematischen Ausdruck*) hat. Denkt man sich also
umgekehrt, dass in der Kugel, für deren Innenraum die Axiome des Euklides
gelten, sich Körper bewegen, die, wenn sie sich vom Mittelpunkte entfernen,
sich jedesmal zusammenziehen, ähnlich den Bildern im Convexspiegel, und
zwar sich in der Weise zusammenziehen, dass ihre im pseudosphärischen Raum
construirten Abbilder unveränderte Di-
*) Siehe den Zusatz am Ende dieser Vorlesung. [45/46]
mensionen behalten, so würden Beobachter, deren Leiber
selbst dieser Veränderung regelmässig unterworfen wären, bei
geometrischen Messungen, wie sie sie ausführen könnten, Ergebnisse
erhalten, als lebten sie selbst im pseudosphärischen Raume.
Wir können von hier aus sogar noch einen Schritt weiter
gehen; wir können daraus ableiten, wie einem Beobachter, dessen Augenmaass
und Raumerfahrungen sich gleich den unserigen im ebenen Raume ausgebildet haben,
die Gegenstände einer pseudosphärischen Welt erscheinen würden,
falls er in eine solche eintreten könnte. Ein solcher Beobachter würde
die Linien der Lichtstrahlen oder die Visirlinien seines Auges fortfahren als
gerade Linien anzusehen, wie solche im ebenen Raume vorkommen, und wie sie in
dem kugeligen Abbild des pseudosphärischen Raumes wirklich sind. Das
Gesichtsbild der Objecte im pseudosphärischen Raume würde ihm deshalb
denselben Eindruck machen, als befände er sich im Mittelpunkte des
Beltrami'schen Kugelbildes. Er würde die entferntesten Gegenstände
dieses Raumes in endlicher Entfernung*) rings um sich zu erblicken glauben,
nehmen wir beispielsweise an, in hundert Fuss Abstand. Ginge er aber auf diese
entfernten Gegenstände zu, so würden sie sich vor ihm dehnen, und zwar
noch mehr nach der Tiefe, als nach der Fläche; hinter ihm aber würden
sie sich zusammenziehen. Er würde erkennen, dass er nach dem Augenmaass
falsch geurtheilt hat. Sähe er zwei gerade Linien, die sich nach seiner Schätzung
miteinander parallel bis auf diese Entfernung von 100 Fuss, wo ihm die Welt
abgeschlossen erscheint, hinausziehen, so würde er, ihnen nachgehend,
erkennen, dass sie bei dieser Dehnung der Gegenstände, denen er sich nähert,
aus einander rücken, je mehr er an ihnen vorschreitet; hinter ihm dagegen würde
ihr Abstand zu schwinden scheinen, so dass sie ihm beim Vorschreiten immer mehr
divergent und immer entfernter von einander erscheinen würden. Zwei gerade
Linien aber, die vom ersten Standpunkte aus nach einem und demselben Punkte des
Hintergrundes in hundert Fuss Entfernung zu convergiren scheinen, würden
dies immer thun, so weit er ginge und er würde ihren Schnittpunkt nie
erreichen.
Nun können wir ganz ähnliche Bilder unserer wirklichen
Welt erhalten, wenn wir eine grosse Convexlinse von entsprechender negativer
Brennweite vor die Augen nehmen, oder auch nur zwei convexe Brillengläser,
die etwas prismatisch geschliffen sein müss-
*) Das reciproke, negative Quadrat dieser Entfernung wäre
das Krümmungsmaass des pseudosphärischen Raumes. [46/47]
ten, als wären sie Stücke aus einer zusammenhängenden
grösseren Linse. Solche zeigen uns ebenso, wie die oben erwähnten
Convexspiegel, die fernen Gegenstände genähert, die fernsten bis zur
Entfernung des Brennpunktes der Linse. Wenn wir mit einer solchen Linse vor den
Augen herumgehen, gehen ganz ähnliche Dehnungen der Gegenstände vor,
auf die wir zugehen, wie ich sie für den pseudosphärischen Raum
beschrieben habe. Wenn nun Jemand eine solche Linse vor die Augen nimmt, nicht
einmal von hundert Fuss, sondern eine viel stärkere von nur sechzig Zoll
Brennweite, so merkt er im ersten Augenblicke vielleicht, dass er die Gegenstände
genähert sieht. Aber nach wenigem Hin- und Hergehen schwindet die Täuschung,
und er beurtheilt trotz der falschen Bilder die Entfernungen richtig. Wir haben
allen Grund zu vermuthen, dass es uns im pseudosphärischen Raume bald genug
ebenso gehen würde, wie es bei einem angehenden Brillenträger nach
wenigen Stunden schon der Fall ist; kurz der pseudosphärische Raum würde
uns verhältnissmässig gar nicht sehr fremdartig erscheinen, wir würden
uns nur in der ersten Zeit bei der Abmessung der Grösse und Entfernung
fernerer Gegenstände nach ihrem Gesichtseindruck Täuschungen
unterworfen finden.
Die entgegengesetzten Täuschungen würde ein sphärischer
Raum von drei Dimensionen mit sich bringen, wenn wir mit dem im Euklidischen
Raume erworbenen Augenmaasse in ihn eintreten. Wir würden entferntere
Gegenstände für entfernter und grösser halten, als sie sind; wir
würden auf sie zugehend finden, dass wir sie schneller erreichen, als wir
nach dem Gesichtsbilde annehmen mussten. Wir würden aber auch Gegenstände
vor uns sehen, die wir nur mit divergirenden Gesichtslinien fixiren können;
dies würde bei allen denjenigen der Fall sein, welche von uns weiter als
ein Quadrant eines grössten Kreises entfernt sind. Diese Art des Anblicks würde
uns kaum sehr ungewöhnlich vorkommen, denn wir können denselben auch für
irdische Gegenstände hervorbringen, wenn wir vor das eine Auge ein schwach
prismatisches Glas nehmen, dessen dickere Seite zur Nase gekehrt ist. Auch dann
müssen wir die Augen divergent stellen, um entfernte Gegenstände zu
fixiren. Das erregt ein gewisses Gefühl ungewohnter Anstrengung in den
Augen, ändert aber nicht merklich den Anblick der so gesehenen Gegenstände.
Den seltsamsten Theil des Anblicks der sphärischen Welt würde aber
unser eigener Hinterkopf bilden, in dem alle unsere Gesichtslinien wieder
zusammenlaufen würden, so weit sie zwischen anderen Gegenständen frei
durchgehen können, und [47/48] welcher den äussersten Hintergrund des
ganzen perspectivischen Bildes ausfüllen müsste.
Dabei ist freilich noch weiter zu bemerken, dass, wie eine
kleine ebene elastische Scheibe, etwa eine kleine ebene Kautschukplatte, einer
schwach gewölbten Kugelfläche nur unter relativer Contraction ihres
Randes und Dehnung ihrer Mitte angepasst werden kann, so auch unser im
Euklidischen ebenen Raum gewachsener Körper nicht in einen gekrümmten
Raum übergehen könnte ohne ähnliche Dehnungen und
Zusammenpressungen seiner Theile zu erleiden, deren Zusammenhang natürlich
nur so weit erhalten bleiben könnte, als die Elasticität der Theile
ein Nachgeben ohne Reissen und Brechen erlaubte. Die Art der Dehnung würde
dieselbe sein müssen, als wenn wir uns im Mittelpunkte von Beltrami's Kugel
einen kleinen Körper dächten, und von diesem dann auf sein pseudosphärisches
oder sphärisches Abbild übergingen. Damit ein solcher Uebergang als möglich
erscheine, wird immer vorausgesetzt werden müssen, dass der übergehende
Körper hinreichend elastisch und klein sei im Vergleich mit dem reellen
oder imaginären Krümmungsradius des gekrümmten Raumes, in den er übergehen
soll.
Es wird dies genügen um zu zeigen, wie man auf dem
eingeschlagenen Wege aus den bekannten Gesetzen unserer sinnlichen Wahrnehmungen
die Reihe der sinnlichen Eindrücke herleiten kann, welche eine sphärische
oder pseudosphärische Welt uns geben würde, wenn sie existirte. Auch
dabei treffen wir nirgends auf eine Unfolgerichtigkeit oder Unmöglichkeit,
ebenso wenig wie in der rechnenden Behandlung der Maassverhältnisse. Wir können
uns den Anblick einer pseudosphärischen Welt ebenso gut nach allen
Richtungen hin ausmalen, wie wir ihren Begriff entwickeln können. Wir können
deshalb auch nicht zugeben, dass die Axiome unserer Geometrie in der gegebenen
Form unseres Anschauungsvermögens begründet wären, oder mit einer
solchen irgendwie zusammenhingen.
Anders ist es mit den drei Dimensionen des Raumes. Da alle
unsere Mittel sinnlicher Anschauung sich nur auf einen Raum von drei Dimensionen
erstrecken, und die vierte Dimension nicht bloss eine Abänderung von
Vorhandenem, sondern etwas vollkommen Neues wäre, so befinden wir uns schon
wegen unserer körperlichen Organisation in der absoluten Unmöglichkeit,
uns eine Anschauungsweise einer vierten Dimension vorzustellen.
Schliesslich möchte ich nun noch hervorheben, dass die
geometrischen Axiome gar nicht Sätze sind, die nur der reinen
Raum-[48/49]lehre angehörten. Sie sprechen, wie ich schon erwähnt
habe, von Grössen. Von Grössen kann man nur reden, wenn man irgend
welches Verfahren kennt und im Sinne hat, nach dem man diese Grössen
vergleichen, in Theile zerlegen und messen kann. Alle Raummessung und daher überhaupt
alle auf den Raum angewendeten Grössenbegriffe setzen also die Möglichkeit
der Bewegung von Raumgebilden voraus, deren Form und Grösse man trotz der
Bewegung für unveränderlich halten darf. Solche Raumformen pflegt man
in der Geometrie allerdings nur als geometrische Körper, Flächen,
Winkel, Linien zu bezeichnen, weil man von allen anderen Unterschieden
physikalischer und chemischer Art, welche die Naturkörper zeigen,
abstrahirt; aber man bewahrt doch die eine physikalische Eigenschaft derselben,
die Festigkeit. Für die Festigkeit der Körper und Raumgebilde haben
wir aber kein anderes Merkmal, als dass sie, zu jeder Zeit und an jedem Orte und
nach jeder Drehung aneinandergelegt, immer wieder dieselben Congruenzen zeigen,
wie vorher. Ob sich aber die aneinander gelegten Körper nicht selbst beide
in gleichem Sinne verändert haben, können wir auf rein geometrischem
Wege, ohne mechanische Betrachtungen hinzuzunehmen, gar nicht entscheiden.
Wenn wir es zu irgend einem Zwecke nützlich fänden, könnten
wir in vollkommen folgerichtiger Weise den Raum, in welchem wir leben, als den
scheinbaren Raum hinter einem Convexspiegel mit verkürztem und
zusammengezogenem Hintergrunde betrachten; oder wir könnten eine
abgegrenzte Kugel unseres Raumes, jenseits deren Grenzen wir nichts mehr
wahrnehmen, als den unendlichen pseudosphärischen Raum betrachten. Wir müssten
dann nur den Körpern, welche uns als fest erscheinen, und ebenso unserem
eigenen Leibe gleichzeitig die entsprechenden Dehnungen und Verkürzungen
zuschreiben, und würden allerdings das System unserer mechanischen
Principien gleichzeitig gänzlich verändern müssen; denn schon der
Satz, dass jeder bewegte Punkt, auf den keine Kraft wirkt, sich in gerader Linie
mit unveränderter Geschwindigkeit fortbewegt, passt auf das Abbild der Welt
im Convexspiegel nicht mehr. Die Bahnlinie wäre zwar noch gerade, aber die
Geschwindigkeit abhängig vom Orte.
Die geometrischen Axiome sprechen also gar nicht über Verhältnisse
des Raumes allein, sondern gleichzeitig auch über das mechanische Verhalten
unserer festesten Körper bei Bewegungen. Man könnte freilich auch den
Begriff des festen geometrischen Raumgebildes als einen transcendentalen Begriff
auffassen, der un-[49/50]abhängig von wirklichen Erfahrungen gebildet wäre,
und dem
diese
nicht nothwendig zu entsprechen brauchten, wie ja unsere Naturkörper
thatsächlich ganz rein und ungestört nicht einmal denjenigen Begriffen
entsprechen, die wir auf dem Wege der Induction von ihnen abstrahirt haben.
Unter Hinzunahme eines solchen nur als Ideal concipirten Begriffs der Festigkeit
könnte dann ein strenger Kantianer allerdings die geometrischen Axiome als
a priori durch transcendentale Anschauung gegebene Sätze betrachten, die
durch keine Erfahrung bestätigt oder widerlegt werden könnten, weil
man erst nach ihnen zu entscheiden hätte, ob irgend welche Naturkörper
als feste Körper zu betrachten seien. Dann müssten wir aber behaupten,
dass unter dieser Auffassung die geometrischen Axiome gar keine synthetischen Sätze
im Sinne Kant's wären. Denn sie würden dann nur etwas aussagen, was
aus dem Begriffe der zur Messung nothwendigen festen geometrischen Gebilde
analytisch folgen würde, da als feste Gebilde nur solche anerkannt werden könnten,
die jenen Axiomen genügen.
Nehmen wir aber zu den geometrischen Axiomen noch Sätze
hinzu, die sich auf die mechanischen Eigenschaften der Naturkörper
beziehen, wenn auch nur den Satz von der Trägheit, oder den Satz, dass die
mechanischen und physikalischen Eigenschaften der Körper unter übrigens
gleichbleibenden Einflüssen nicht vom Orte, wo sie sich befinden, abhängen
können, dann erhält ein solches System von Sätzen einen
wirklichen Inhalt, der durch Erfahrung bestätigt oder widerlegt werden,
eben deshalb aber auch durch Erfahrung gewonnen werden kann.
Uebrigens ist es natürlich nicht meine Absicht, zu
behaupten, dass die Menschheit erst durch sorgfältig ausgeführte
Systeme genauer geometrischer Messungen Anschauungen des Raumes, die den Axiomen
des Euklides entsprechen, gewonnen habe. Es musste vielmehr eine Reihe alltäglicher
Erfahrungen, namentlich die Anschauung von der geometrischen Aehnlichkeit
grosser und kleiner Körper, welche nur im ebenen Raume möglich ist,
darauf führen jede geometrische Anschauung, die dieser Thatsache
widersprach, als unmöglich zu verwerfen. Dazu war keine Erkenntniss des
begrifflichen Zusammenhanges zwischen der beobachteten Thatsache geometrischer
Aehnlichkeit und den Axiomen nöthig, sondern nur durch zahlreiche und
genaue Beobachtungen von Raumverhältnissen gewonnene anschauliche Kenntniss
ihres typischen Verhaltens, eine solche Art der Anschauung, wie sie der Künstler
von den darzustellenden Gegenständen besitzt, und mittels deren er sicher
[50/51] und fein entscheidet, ob eine versuchte neue Combination der Natur des
darzustellenden Gegenstandes entspricht, oder nicht. Das wissen wir zwar in
unserer Sprache auch mit keinem anderen Namen als dem der Anschauung"
zu bezeichnen; aber es ist dies eine empirische durch Häufung und Verstärkung
gleichartig wiederkehrender Eindrücke in unserem Gedächtniss gewonnene
Kenntniss, keine transcendentale und vor aller Erfahrung gegebene
Anschauungsform. Dass dergleichen empirisch erlangte und noch nicht zur Klarheit
des bestimmt ausgesprochenen Begriffs durchgearbeitete Anschauungen eines
typischen gesetzlichen Verhaltens häufig genug den Metaphysikern als a
priori gegebene Sätze imponirt haben, brauche ich hier nicht weiter zu erörtern.
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