ÜBER DEN





URSPRUNG UND DIE BEDEUTUNG





DER





GEOMETRISCHEN AXIOME.






Vortrag,



gehalten im Docentenverein zu Heidelberg



im



Jahre 1870.



















[aus: Populäre Wissenschaftliche Vorträge von H. Helmholtz. Drittes Heft. Braunschweig, Vieweg und Sohn. 1876. S. 21-54]
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[Seite 22 weiß]
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D ie Thatsache, dass eine Wissenschaft von der Art bestehen und in der Weise aufgebaut werden kann, wie es bei der Geometrie der Fall ist, hat von jeher die Aufmerksamkeit aller derer, welche für die principiellen Fragen der Erkenntnisstheorie Interesse fühlten, im höchsten Grade in Anspruch nehmen müssen. Unter allen Zweigen menschlicher Wissenschaft giebt es keine zweite, die gleich ihr fertig, wie eine erzgerüstete Minerva aus dem Haupte des Zeus, hervorgesprungen erscheint, keine vor deren vernichtender Aegis Widerspruch und Zweifel so wenig ihre Augen aufzuschlagen wagten. Dabei fällt ihr in keiner Weise die mühsame und langwierige Aufgabe zu, Erfahrungsthatsachen sammeln zu müssen, wie es die Naturwissenschaften im engeren Sinne zu thun haben, sondern die ausschliessliche Form ihres wissenschaftlichen Verfahrens ist die Deduction. Schluss wird aus Schluss entwickelt, und doch zweifelt schliesslich Niemand von gesunden Sinnen daran, dass diese geometrischen Sätze ihre sehr praktische Anwendung auf die uns umgebende Wirklichkeit finden müssen. Die Feldmesskunst wie die Architektur, die Maschinenbaukunst wie die mathematische Physik, sie berechnen fortdauernd Raumverhältnisse der verschiedensten Art nach geometrischen Sätzen, sie erwarten, dass der Erfolg ihrer Constructionen und Versuche sich diesen Rechnungen füge, und noch ist kein Fall bekannt geworden, wo sie sich in dieser Erwartung getäuscht hätten, vorausgesetzt, dass sie richtig und mit ausreichenden Daten gerechnet hatten.
In der That ist denn auch die Thatsache, dass Geometrie besteht und solches leistet, in dem Streite über diejenige Frage, welche gleichsam den Kernpunkt aller Gegensätze der philosophischen Systeme bildet, immer benutzt worden, um an einem im-[23/24]ponirenden Beispiele zu erweisen, dass ein Erkennen von Sätzen realen Inhalts ohne entsprechende aus der Erfahrung hergenommene Grundlage möglich sei. Namentlich bilden bei der Beantwortung von Kant's berühmter Frage: „Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?" die geometrischen Axiome wohl diejenigen Beispiele, welche am evidentesten zu zeigen schienen, dass überhaupt synthetische Sätze a priori möglich seien. Weiter gilt ihm der Umstand, dass solche Sätze existiren und sich unserer Ueberzeugung mit Nothwendigkeit aufdrängen, als Beweis dafür, dass der Raum eine a priori gegebene Form aller äusseren Anschauung sei. Er scheint dadurch für diese a priori gegebene Form nicht nur den Charakter eines rein formalen und an sich inhaltsleeren Schema in Anspruch zu nehmen, in welches jeder beliebige Inhalt der Erfahrung passen würde, sondern auch gewisse Besonderheiten des Schema mit einzuschliessen, die bewirken, dass eben nur ein in gewisser Weise gesetzmässig beschränkter Inhalt in dasselbe eintreten und uns anschaubar werden könne*).
Eben dieses erkenntnisstheoretische Interesse der Geometrie ist es nun, welches mir den Muth giebt in einer Versammlung, deren Mitglieder nur zum kleinsten Theile tiefer, als es der Schulunterricht mit sich brachte, in mathematische Studien eingedrungen sind, von geometrischen Dingen zu reden. Glücklicher Weise wird auch das, was der Gymnasialunterricht an geometrischen Kenntnissen zu lehren pflegt, wie ich denke, genügen, um Ihnen wenigstens den Sinn der im Folgenden zu besprechenden Sätze verständlich zu machen.
Ich beabsichtige nämlich Ihnen Bericht zu erstatten über eine Reihe sich aneinander schliessender neuerer mathematischer Arbeiten, welche die geometrischen Axiome, ihre Beziehungen zur

*) In seinem Buche „Ueber die Grenzen der Philosophie" behauptet Herr W. Tobias, Sätze ähnlichen Sinnes, die ich früher ausgesprochen hatte, seien ein Missverständniss von Kant's Meinung. Aber Kant führt speciell die Sätze, dass die gerade Linie die kürzeste sei (Kritik d. r. Vernunft. Einleitung V, 2. Aufl. S. 16), dass der Raum drei Dimensionen habe (Ebend. Th. I, Absch. 1. § 3, S. 41), dass nur eine gerade Linie zwischen zwei Punkten möglich sei (Ebend. Th. II, Abth. I, von den Axiomen der Anschauung S. 204), als Sätze an, „welche die Bedingungen der sinnlichen Anschauung a priori ausdrücken." Ob diese Sätze aber ursprünglich in der Raumanschauung gegeben sind, oder diese nur die Anhaltspunkte giebt, aus denen der Verstand solche Sätze a priori entwickeln kann, worauf mein Kritiker Gewicht legt, darauf kommt es hier gar nicht an. [24/25]

Erfahrung und die logische Möglichkeit, sie durch andere zu ersetzen, betreffen.
Da die darauf bezüglichen Originalarbeiten der Mathematiker, zunächst nur bestimmt Beweise für den Sachverständigen in einem Gebiete zu führen, welches eine höhere Kraft der Abstraction in Anspruch nimmt, als fast irgend ein anderes, dem Nichtmathematiker ziemlich unzugänglich sind, so will ich versuchen auch für einen solchen anschaulich zu machen, um was es sich handelt. Ich brauche wohl nicht zu bemerken, dass meine Auseinandersetzung keinen Beweis von der Richtigkeit der neuen Einsichten geben soll. Wer einen solchen sucht, der muss sich schon die Mühe nehmen die Originalarbeiten zu studiren.
Wer einmal durch die Pforten der ersten elementaren Sätze in die Geometrie, das heisst die mathematische Lehre vom Raume, eingetreten ist, der findet vor sich auf seinem weiteren Wege jene lückenlosen Ketten von Schlüssen, von denen ich vorher gesprochen habe, durch welche immer mannigfachere und verwickeltere Raumformen ihre Gesetze empfangen. Aber in jenen ersten Elementen werden einige Sätze aufgestellt, von denen die Geometrie selbst erklärt, dass sie sie nicht beweisen könne, dass sie nur darauf rechnen müsse, Jeder, der den Sinn dieser Sätze verstehe, werde ihre Richtigkeit zugeben. Das sind die sogenannten Axiome der Geometrie. Zu diesen gehört zunächst der Satz, dass wenn man die kürzeste Linie, die zwischen zwei Punkten gezogen werden kann, eine gerade Linie nennt, es zwischen zwei Punkten nur eine und nicht zwei verschiedene solche gerade Linien geben könne. Es ist ferner ein Axiom, dass durch je drei Punkte des Raumes, die nicht in einer geraden Linie liegen, eine Ebene gelegt werden kann, das heisst eine Fläche, in welche jede gerade Linie, die zwei ihrer Punkte verbindet, ganz hinein fällt. Ein anderes vielbesprochenes Axiom sagt aus, dass durch einen ausserhalb einer geraden Linie liegenden Punkt nur eine einzige und nicht zwei verschiedene jener ersten parallele Linien gelegt werden können. Parallel aber nennt man zwei Linien, die in ein und derselben Ebene liegen und sich niemals schneiden, so weit sie auch verlängert werden mögen. Ausserdem sprechen die geometrischen Axiome Sätze aus, welche die Anzahl der Dimensionen sowohl des Raumes als seiner Flächen, Linien, Punkte bestimmen, und den Begriff der Continuität dieser Gebilde erläutern, wie die Sätze, dass die Grenze eines Körpers eine Fläche, die einer Fläche eine Linie, die einer Linie ein Punkt, und der Punkt untheilbar ist, und die Sätze, dass [25/26] durch Bewegung eines Punktes eine Linie, durch Bewegung einer Linie eine Linie oder Fläche, durch die einer Fläche eine Fläche oder ein Körper, durch Bewegung eines Körpers aber immer nur wieder ein Körper beschrieben werde.
Woher kommen nun solche Sätze, unbeweisbar und doch unzweifelhaft richtig im Felde einer Wissenschaft, wo sich alles Andere der Herrschaft des Schlusses hat unterwerfen lassen? Sind sie ein Erbtheil aus der göttlichen Quelle unserer Vernunft, wie die idealistischen Philosophen meinen, oder ist der Scharfsinn der bisher aufgetretenen Generationen von Mathematikern nur noch nicht ausreichend gewesen den Beweis zu finden? Natürlich versucht jeder neue Jünger der Geometrie, der mit frischem Eifer an diese Wissenschaft herantritt, der Glückliche zu sein, welcher alle Vorgänger überflügelt. Auch ist es ganz recht, dass ein Jeder sich von Neuem daran versucht; denn nur durch die Fruchtlosigkeit der eigenen Versuche konnte man sich bei der bisherigen Sachlage von der Unmöglichkeit des Beweises überzeugen. Leider finden sich von Zeit zu Zeit auch immer wieder einzelne Grübler, welche sich so lange und tief in verwickelte Schlussfolgen verstricken, bis sie die begangenen Fehler nicht mehr entdecken können und die Sache gelöst zu haben glauben. Namentlich der Satz von den Parallelen hat eine grosse Zahl scheinbarer Beweise hervorgerufen.
Die grösste Schwierigkeit in diesen Untersuchungen bestand und besteht immer darin, dass sich mit den logischen Begriffsentwickelungen gar zu leicht Ergebnisse der alltäglichen Erfahrung als scheinbare Denknothwendigkeiten vermischten, so lange die einzige Methode der Geometrie die von Euklides gelehrte Methode der Anschauung war. Namentlich ist es ausserordentlich schwer, auf diesem Wege vorschreitend sich überall klar zu machen, ob man in den Schritten, die man für die Beweisführung nach einander vorschreibt, nicht unwillkürlich und unwissentlich gewisse allgemeinste Ergebnisse der Erfahrung zu Hilfe nimmt, welche die Ausführbarkeit gewisser vorgeschriebener Theile des Verfahrens uns schon praktisch gelehrt haben. Der wohlgeschulte Geometer fragt bei jeder Hilfslinie, die er für irgend einen Beweis zieht, ob es auch immer möglich sein wird eine Linie von der verlangten Art zu ziehen. Bekanntlich spielen die Constructionsaufgaben in dem Systeme der Geometrie eine wesentliche Rolle. Oberflächlich betrachtet sehen dieselben aus wie praktische Anwendungen, welche man zur Einübung der Schüler hineingesetzt hat. In Wahrheit aber stellen sie die Existenz gewisser Gebilde fest. Sie zeigen, [26/27] dass Punkte, gerade Linien oder Kreise von der Art, wie sie in der Aufgabe zu construiren verlangt werden, entweder unter allen Bedingungen möglich sind, oder bestimmen die etwa vorhandenen Ausnahmsfälle. Der Punkt, um den sich die im Folgenden zu besprechenden Untersuchungen drehen, ist wesentlich dieser Art. Die Grundlage aller Beweise in der Euklidischen Methode ist der Nachweis der Congruenz der betreffenden Linien, Winkel, ebenen Figuren, Körper u. s. w. Um die Congruenz anschaulich zu machen, stellt man sich vor, dass die betreffenden geometrischen Gebilde zu einander hinbewegt werden, natürlich ohne ihre Form und Dimensionen zu verändern. Dass dies in der That möglich und ausführbar sei, haben wir alle von frühester Jugend an erfahren. Wenn wir aber Denknothwendigkeiten auf diese Annahme freier Beweglichkeit fester Raumgebilde mit unveränderter Form nach jeder Stelle des Raumes hin bauen wollen, so müssen wir die Frage aufwerfen, ob diese Annahme keine logisch unerwiesene Voraussetzung einschliesst. Wir werden gleich nachher sehen, dass sie in der That eine solche einschliesst, und zwar eine sehr folgenreiche. Wenn sie das aber thut, so ist jeder Congruenzbeweis auf eine nur aus der Erfahrung genommene Thatsache gestützt.
Ich führe diese Ueberlegungen hier zunächst nur an, um klar zu machen, auf welche Schwierigkeiten wir bei der vollständigen Analyse aller von uns gemachten Voraussetzungen nach der Methode der Anschauung stossen. Ihnen entgehen wir, wenn wir die von der neueren rechnenden Geometrie ausgearbeitete analytische Methode auf die Untersuchung der Principien anwenden. Die ganze Ausführung der Rechnung ist eine rein logische Operation, sie kann keine Beziehung zwischen den der Rechnung unterworfenen Grössen ergeben, die nicht schon in den Gleichungen, welche den Ansatz der Rechnung bilden, enthalten ist. Die erwähnten neueren Untersuchungen sind deshalb fast ausschliesslich mittels der rein abstracten Methoden der analytischen Geometrie geführt worden.
Uebrigens lässt sich nun doch, nachdem die abstracte Methode die Punkte kennen gelehrt hat, auf die es ankommt, einigermaassen eine Anschauung dieser Punkte geben, am besten, wenn wir in ein engeres Gebiet herabsteigen, als unsere eigene Raumwelt ist. Denken wir uns - darin liegt keine logische Unmöglichkeit - verstandbegabte Wesen von nur zwei Dimensionen, die an der Oberfläche irgend eines unserer festen Körper leben und [27/28] sich bewegen. Wir nehmen an, dass sie nicht die Fähigkeit haben, irgend etwas ausserhalb dieser Oberfläche wahrzunehmen, wohl aber Wahrnehmungen, ähnlich den unserigen, innerhalb der Ausdehnung der Fläche, in der sie sich bewegen, zu machen. Wenn sich solche Wesen ihre Geometrie ausbilden, so würden sie ihrem Raume natürlich nur zwei Dimensionen zuschreiben. Sie würden ermitteln, dass ein Punkt, der sich bewegt, eine Linie beschreibt, und eine Linie, die sich bewegt, eine Fläche, was für sie das vollständigste Raumgebilde wäre, was sie kennen. Aber sie würden sich ebenso wenig von einem weiteren räumlichen Gebilde, was entstände, wenn eine Fläche sich aus ihrem flächenhaften Raume herausbewegte, eine Vorstellung machen können, als wir es können von einem Gebilde, das durch Herausbewegung eines Körpers aus dem uns bekannten Raume entstände. Unter dem viel gemissbrauchten Ausdrucke „sich vorstellen" oder „sich denken können, wie etwas geschieht" verstehe ich - und ich sehe nicht, wie man etwas Anderes darunter verstehen könne, ohne allen Sinn des Ausdrucks aufzugeben -, dass man sich die Reihe der sinnlichen Eindrücke ausmalen könne, die man haben würde, wenn so etwas in einem einzelnen Falle vor sich ginge. Ist nun gar kein sinnlicher Eindruck bekannt, der sich auf einen solchen nie beobachteten Vorgang bezöge, wie für uns eine Bewegung nach einer vierten, für jene Flächenwesen eine Bewegung nach der uns bekannten dritten Dimension des Raumes wäre, so ist ein solches „Vorstellen" nicht möglich, ebenso wenig als ein von Jugend auf absolut Blinder sich wird die Farben „vorstellen" können, wenn man ihm auch eine begriffliche Beschreibung derselben geben könnte.
Jene Flächenwesen würden ferner auch kürzeste Linien in ihrem flächenhaften Raume ziehen können. Das wären nicht nothwendig gerade Linien in unserem Sinne, sondern was wir nach geometrischer Terminologie geodätische Linien der Fläche, auf der jene leben, nennen würden, Linien, wie sie ein gespannter Faden beschreibt, den man an die Fläche anlegt, und der ungehindert an ihr gleiten kann. Ich will mir erlauben, im Folgenden dergleichen Linien als die geradesten Linien der bezeichneten Fläche (beziehlich eines gegebenen Raumes) zu bezeichnen, um dadurch ihre Analogie mit der geraden Linie in der Ebene hervorzuheben. Ich hoffe den Begriff durch diesen Ausdruck der Anschauung meiner nicht mathematischen Zuhörer näher zu rücken, ohne doch Verwechselungen zu veranlassen. [28/29]
Wenn nun Wesen dieser Art auf einer unendlichen Ebene lebten, so würden sie genau dieselbe Geometrie aufstellen, welche in unserer Planimetrie enthalten ist. Sie würden behaupten, dass zwischen zwei Punkten nur eine gerade Linie möglich ist, dass durch einen dritten, ausserhalb derselben liegenden Punkt nur eine Parallele mit der ersten geführt werden kann, dass übrigens gerade Linien in das Unendliche verlängert werden können, ohne dass ihre Enden sich wieder begegnen, und so weiter. Ihr Raum könnte unendlich ausgedehnt sein, aber auch wenn sie an Grenzen ihrer Bewegung und Wahrnehmung stiessen, so würden sie sich eine Fortsetzung jenseits dieser Grenzen anschaulich vorstellen können, und in dieser Vorstellung würde ihr Raum ihnen unendlich ausgedehnt erscheinen, gerade wie uns der unserige, obgleich auch wir mit unserem Leibe nicht unsere Erde verlassen können, und unser Blick nur so weit reicht, als sichtbare Fixsterne vorhanden sind.
Nun könnten aber intelligente Wesen dieser Art auch an der Oberfläche einer Kugel leben. Ihre kürzeste oder geradeste Linie zwischen zwei Punkten würde dann ein Bogen des grössten Kreises sein, der durch die betreffenden Punkte zu legen ist. Jeder grösste Kreis, der durch zwei gegebene Punkte geht, zerfällt dabei in zwei Theile. Wenn beide ungleich lang sind, ist das kleinere allerdings die einzige kürzeste Linie auf der Kugel, die zwischen diesen beiden Punkten besteht. Aber auch der andere grössere Bogen desselben grössten Kreises ist eine geodätische oder geradeste Linie, d. h. jedes kleinere Stück desselben ist eine kürzeste Linie zwischen seinen beiden Endpunkten. Wegen dieses Umstandes können wir den Begriff der geodätischen oder geradesten Linie nicht kurzweg mit dem der kürzesten Linie identificiren. Wenn nun die beiden gegebenen Punkte Endpunkte desselben Durchmessers der Kugel sind, so schneiden alle durch diesen Durchmesser gelegten Ebenen Halbkreise aus der Kugelfläche, welche alle kürzeste Linien zwischen den beiden Endpunkten sind. In einem solchen Falle giebt es also unendlich viele unter einander gleiche kürzeste Linien zwischen den beiden gegebenen Punkten. Somit würde das Axiom, dass nur eine kürzeste Linie zwischen zwei Punkten bestehe, für die Kugelbewohner nicht ohne eine gewisse Ausnahme giltig sein.
Parallele Linien würden die Bewohner der Kugel gar nicht kennen. Sie würden behaupten, dass jede beliebige zwei geradeste Linien, gehörig verlängert, sich schliesslich nicht nur in einem, sondern in zwei Punkten schneiden müssten. Die Summe der [29/30] Winkel in einem Dreieck würde immer grösser sein als zwei Rechte, und um so grösser, je grösser die Fläche des Dreiecks. Eben deshalb würde ihnen auch der Begriff der geometrischen Aehnlichkeit der Form zwischen grösseren und kleineren Figuren derselben Art fehlen. Denn ein grösseres Dreieck muss nothwendig andere Winkel haben als ein kleineres. Ihr Raum würde allerdings unbegrenzt, aber endlich ausgedehnt gefunden oder mindestens vorgestellt werden müssen.
Es ist klar, dass die Wesen auf der Kugel bei denselben logischen Fähigkeiten, wie die auf der Ebene, doch ein ganz anderes System geometrischer Axiome aufstellen müssten, als jene und wir selbst in unserem Raume von drei Dimensionen. Diese Beispiele zeigen uns schon, dass je nach der Art des Wohnraumes verschiedene geometrische Axiome aufgestellt werden müssten von Wesen, deren Verstandeskräfte den unserigen ganz entsprechend sein könnten.
Aber gehen wir weiter. Denken wir uns vernünftige Wesen existirend an der Oberfläche eines eiförmigen Körpers. Zwischen je drei Punkten einer solchen Oberfläche könnte man kürzeste Linien ziehen und so ein Dreieck construiren. Wenn man aber versuchte an verschiedenen Stellen dieser Fläche congruente Dreiecke zu construiren, so würde sich zeigen, dass, wenn zwei Dreiecke gleich lange Seiten haben, ihre Winkel nicht gleich gross ausfallen. An dem spitzeren Ende des Eies gezeichnet, würde die Winkelsumme des Dreiecks sich mehr von zwei Rechten unterscheiden, als wenn ein Dreieck mit denselben Seiten an dem stumpferen Ende gezeichnet würde; daraus geht hervor, dass an einer solchen Fläche sich nicht einmal ein so einfaches Raumgebilde, wie ein Dreieck ist, ohne Aenderung seiner Form von einem Orte nach jedem anderen fortbewegen lassen würde. Ebenso würde sich zeigen, dass wenn an verschiedenen Stellen einer solchen Oberfläche Kreise mit gleichen Radien construirt würden (die Länge der Radien immer durch kürzeste Linien längs der Fläche gemessen), deren Peripherie am stumpfen Ende grösser ausfallen würde, als am spitzeren Ende.
Daraus folgt weiter, dass es eine besondere geometrische Eigenschaft einer Fläche ist, wenn sich in ihr liegende Figuren ohne Veränderung ihrer sämmtlichen längs der Fläche gemessenen Linien und Winkel frei verschieben lassen, und dass dies nicht auf jeder Art von Fläche der Fall sein wird. Die Bedingung dafür, dass eine Fläche diese wichtige Eigenschaft habe, hatte [30/31] schon Gauss in seiner berühmten Abhandlung über die Krümmung der Flächen nachgewiesen. Sie ist, dass das, was er das „Maass der Krümmung" genannt hat (nämlich der reciproke Werth des Products der beiden Hauptkrümmungsradien) überall längs der ganzen Ausdehnung der Fläche gleiche Grösse habe.
Gauss hat gleichzeitig nachgewiesen, dass dieses Maass der Krümmung sich nicht verändert, wenn die Fläche gebogen wird, ohne dass sie dabei in irgend einem Theile eine Dehnung oder Zusammenziehung erleidet. So können wir ein ebenes Papierblatt zu einem Cylinder oder einem Kegel (Düte) aufrollen, ohne dass die längs der Fläche des Blattes genommenen Abmessungen seiner Figuren sich verändern. Und ebenso können wir die halbkugelförmige geschlossene Hälfte einer Schweinsblase in Spindelform zusammenrollen, ohne die Abmessungen in dieser Fläche selbst zu verändern. Es wird also auch die Geometrie auf einer Ebene dieselbe sein, wie in einer Cylinderfläche. Wir müssen uns nur im letzteren Falle vorstellen, dass unbegrenzt viele Lagen dieser Fläche, wie die Lagen eines umgewickelten Papierblatts, über einander liegen, und dass man bei jedem ganzen Umgang um den Cylinderumfang in eine andere Lage hineinkommt, verschieden von derjenigen, in der man sich früher befand.
Diese Bemerkungen sind nöthig, um Ihnen eine Vorstellung von einer Art von Fläche geben zu können, deren Geometrie der der Ebene im Ganzen ähnlich ist, für welche aber das Axiom von den Parallellinien nicht gilt. Es ist dies eine Art gekrümmter Fläche, welche sich in geometrischer Beziehung wie das Gegentheil einer Kugel verhält, und die deshalb von dem ausgezeichneten italienischen Mathematiker E. Beltrami*), der ihre Eigenschaften untersucht hat, die pseudosphärische Fläche genannt worden ist. Es ist eine sattelförmige Fläche, von der in unserem Raume nur begrenzte Stücke oder Streifen zusammenhängend dargestellt werden können, die man aber doch sich nach allen Richtungen in das Unendliche fortgesetzt denken kann, da man jedes an der Grenze des construirten Flächentheils liegende Stück nach der Mitte desselben zurückgeschoben und dann fortgesetzt denken kann. Das verschobene Flächenstück muss dabei seine Biegung, aber nicht seine Dimensionen ändern, gerade so wie man auf einem

*) Saggio di Interpretazione della Geometria Non-Euclidea. Napoli 1868. - Teoria fondamentale degli Spazij di Curvatura costante. Annali di Matematica. Ser. II, Tomo II, p. 232-255. [31/32]

durch dütenförmiges Zusammenrollen einer Ebene entstandenen Kegel ein Papierblatt hin- und herschieben kann. Ein solches passt sich der Kegelfläche überall an, aber muss der Spitze des Kegels näher stärker gebogen werden und kann über die Spitze hinaus nicht so verschoben werden, dass es dem existirenden Kegel und seiner idealen Fortsetzung jenseits der Spitze angepasst bliebe.
Wie die Ebene und die Kugel sind die pseudosphärischen Flächen von constanter Krümmung, so dass sich jedes Stück der-

Fig. 1.





selben an jede andere Stelle der Fläche vollkommen anschliessend anlegen kann, und also alle an einem Orte in der Fläche construirten Figuren, an jeden anderen Ort in vollkommen congruenter Form und mit vollkommener Gleichheit aller in der Fläche selbst liegenden Dimensionen übertragen werden können. Das von Gauss aufgestellte Maass der Krümmung, was für die Kugel positiv und für die Ebene gleich Null ist, würde für die pseudosphärischen Flächen einen constanten, negativen Werth haben, weil die beiden [32/33] Hauptkrümmungen einer sattelförmigen Fläche ihre Concavität nach entgegengesetzten Seiten kehren.
Ein Streifen einer pseudosphärischen Fläche kann zum Beispiel aufgewickelt als Oberfläche eines Ringes dargestellt werden. Denken Sie sich eine Fläche wie a a , b b, Fig. 1, um ihre Symmetrie-

Fig. 2.





axe A B gedreht, so würden die beiden Bogen a b eine solche pseudosphärische Ringfläche beschreiben. Die beiden Ränder der Fläche oben bei a a und unten bei b b würden sich mit immer schärfer werdender Biegung nach aussen wenden, bis die Fläche [33/34] senkrecht zur Axe steht, und dort würde sie mit einer unendlich starken Krümmung an der Kante enden. Auch zu einem kelchförmigen Champagnerglase mit unendlich verlängertem, immer dünner werdendem Stiele wie Fig. 2 (a. v. S.) könnte eine Hälfte einer pseudosphärischen Fläche aufgewickelt werden. Aber an einer Seite ist sie nothwendig immer durch einen scharf abbrechenden Rand begrenzt, über den hinaus eine continuirliche Fortsetzung der Fläche nicht unmittelbar ausgeführt werden kann. Nur dadurch, dass man jedes einzelne Stück des Randes losgeschnitten und längs der Fläche des Ringes oder Kelchglases verschoben denkt, kann man es zu Stellen von anderer Biegung bringen, an denen weitere Fortsetzung dieses Flächenstücks möglich ist.
In dieser Weise lassen sich denn auch die geradesten Linien der pseudosphärischen Fläche unendlich verlängern. Sie laufen nicht wie die der Kugel in sich zurück, sondern wie auf der Ebene ist zwischen zwei gegebenen Punkten immer nur eine einzige kürzeste Linie möglich. Aber das Axiom von den Parallelen trifft nicht zu. Wenn eine geradeste Linie auf der Fläche gegeben ist und ein Punkt ausserhalb derselben, so lässt sich ein ganzes Bündel von geradesten Linien durch den Punkt legen, welche alle die erstgenannte Linie nicht schneiden, auch wenn sie ins Unendliche verlängert werden. Es sind dies alle Linien, welche zwischen zwei das Bündel begrenzenden geradesten Linien liegen. Die eine von diesen, unendlich verlängert, trifft die erstgenannte Linie im Unendlichen bei Verlängerung nach einer Seite, die andere bei Verlängerung nach der anderen Seite.
Eine solche Geometrie, welche das Axiom von den Parallelen fallen lässt, ist übrigens schon im Jahre 1829 nach der synthetischen Methode des Euklid von N. J. Lobatschewsky, Professor der Mathematik zu Kasan, vollständig ausgearbeitet worden *). Es zeigte sich, dass deren System ebenso consequent und ohne Widerspruch durchzuführen sei, wie das des Euklides. Diese Geometrie ist in vollständiger Uebereinstimmung mit der der pseudosphärischen Flächen, wie sie Beltrami neuerdings ausgebildet hat.
Wir sehen daraus, dass in der Geometrie zweier Dimensionen die Voraussetzung, jede Figur könne ohne irgend welche Aenderung ihrer in der Fläche liegenden Dimensionen nach allen Rich-

*) Principien der Geometrie. Kasan, 1829 bis 1830. [34/35]

tungen hin fortbewegt werden, die betreffende Fläche charakterisirt als Ebene oder Kugel oder pseudosphärische Fläche. Das Axiom, dass zwischen je zwei Punkten immer nur eine kürzeste Linie bestehe, trennt die Ebene und pseudosphärische Fläche von der Kugel, und das Axiom von den Parallelen scheidet die Ebene von der Pseudosphäre. Diese drei Axiome sind in der That also nothwendig und hinreichend, um die Fläche, auf welche sich die Euklidische Planimetrie bezieht, als Ebene zu charakterisiren, im Gegensatz zu allen anderen Raumgebilden zweier Dimensionen.
Der Unterschied zwischen der Geometrie in der Ebene und derjenigen auf der Kugelfläche ist längst klar und anschaulich gewesen, aber der Sinn des Axioms von den Parallelen konnte erst verstanden werden, nachdem von Gauss der Begriff der ohne Dehnung biegsamen Flächen und damit der möglichen unendlichen Fortsetzung der pseudosphärischen Flächen entwickelt worden war. Wir als Bewohner eines Raumes von drei Dimensionen und begabt mit Sinneswerkzeugen, um alle diese Dimensionen wahrzunehmen, können uns die verschiedenen Fälle, in denen flächenhafte Wesen ihre Raumanschauung auszubilden hätten, allerdings anschaulich vorstellen, weil wir zu diesem Ende nur unsere eigenen Anschauungen auf ein engeres Gebiet zu beschränken haben. Anschauungen, die man hat, sich wegdenken ist leicht; aber Anschauungen, für die man nie ein Analogon gehabt hat, sich sinnlich vorstellen ist sehr schwer. Wenn wir deshalb zum Raume von drei Dimensionen übergehen, so sind wir in unserem Vorstellungsvermögen gehemmt durch den Bau unserer Organe und die damit gewonnenen Erfahrungen, welche nur zu dem Raume passen, in dem wir leben.
Nun haben wir aber noch einen anderen Weg zur wissenschaftlichen Behandlung der Geometrie. Es sind nämlich alle uns bekannten Raumverhältnisse messbar, das heisst sie können auf Bestimmung von Grössen (von Linienlängen, Winkeln, Flächen, Volumina) zurückgeführt werden. Eben deshalb können die Aufgaben der Geometrie auch dadurch gelöst werden, dass man die Rechnungsmethoden aufsucht, mittels deren man die unbekannten Raumgrössen aus den bekannten herzuleiten hat. Dies geschieht in der analytischen Geometrie, in welcher die sämmtlichen Gebilde des Raumes nur als Grössen behandelt und durch andere Grössen bestimmt werden. Auch sprechen schon unsere Axiome von Raumgrössen. Die gerade Linie wird als die kürzeste zwischen zwei Punkten definirt, was eine Grössenbestimmung ist. [35/36] Das Axiom von den Parallelen sagt aus, dass, wenn zwei gerade Linien in derselben Ebene sich nicht schneiden (parallel sind), die Wechselwinkel, beziehlich die Gegenwinkel, an einer dritten sie schneidenden paarweise gleich sind. Oder dafür wird der Satz gesetzt, dass die Summe der Winkel in jedem Dreieck gleich zwei Rechten ist. Auch dies sind Grössenbestimmungen.
Man kann nun also auch von dieser Seite des Raumbegriffs ausgehen, wonach die Lage jedes Punktes, in Bezug auf irgend welches als fest angesehenes Raumgebilde (Coordinatensystem), durch Messungen irgend welcher Grössen bestimmt werden kann, und dann zusehen, welche besonderen Bestimmungen unserem Raume, wie er bei den thatsächlich auszuführenden Messungen sich darstellt, zukommen, und ob solche da sind, durch welche er sich von ähnlich mannigfaltig ausgedehnten Grössen unterscheidet. Diesen Weg hat zuerst der der Wissenschaft leider zu früh entrissene B. Riemann in Göttingen*) eingeschlagen. Dieser Weg hat den eigenthümlichen Vorzug, dass alle Operationen, die in ihm vorkommen, reine rechnende Grössenbestimmungen sind, wobei die Gefahr, dass sich gewohnte Anschauungsthatsachen als Denknothwendigkeiten unterschieben könnten, ganz wegfällt.
Die Zahl der Abmessungen, welche nöthig ist um die Lage eines Punktes zu geben, ist gleich der Anzahl der Dimensionen des betreffenden Raumes. In einer Linie genügt der Abstand von einem festen Punkte, also eine Grösse; in einer Fläche muss man schon die Abstände von zwei festen Punkten angeben, im Raum von dreien, um die Lage des Punktes zu fixiren; oder wir brauchen, wie auf der Erde, geographische Länge, Breite und Höhe über dem Meere, oder, wie in der analytischen Geometrie gewöhnlich, die Abstände von drei Coordinatebenen. Riemann nennt ein System von Unterschieden, in welchem das Einzelne durch n Abmessungen bestimmt werden kann, eine n fach ausgedehnte Mannigfaltigkeit oder eine Mannigfaltigkeit von n Dimensionen. Somit ist also der uns bekannte Raum, in dem wir leben, eine dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit von Punkten, eine Fläche eine zweifache, eine Linie eine einfache, die Zeit ebenso eine einfache. Auch das System der Farben bildet eine dreifache Mannigfaltigkeit, insofern jede Farbe nach Th. Young's und

*) „Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen", Habilitationsschrift vom 10. Juni 1854. Veröffentlicht in Bd. XIII der Abhandlungen der Königl. Gesellschaft zu Göttingen. [36/37]

Cl. Maxwell's*) Untersuchungen dargestellt werden kann, als die Mischung dreier Grundfarben, von deren jeder ein bestimmtes Quantum anzuwenden ist. Mit dem Farbenkreisel kann man solche Mischungen und Abmessungen wirklich ausführen.
Ebenso könnten wir das Reich der einfachen Töne**) als eine Mannigfaltigkeit von zwei Dimensionen betrachten, wenn wir sie nur nach Tonhöhe und Tonstärke verschieden nehmen und die Verschiedenheiten der Klangfarbe bei Seite lassen. Diese Verallgemeinerung des Begriffs ist sehr geeignet, um hervortreten zu lassen, wodurch sich der Raum von anderen Mannigfaltigkeiten dreier Dimensionen unterscheidet. Wir können, wie Sie alle aus alltäglicher Erfahrung wissen, im Raume den Abstand zweier über einander gelegener Punkte vergleichen mit dem horizontalen Abstande zweier Punkte des Fussbodens, weil wir einen Maassstab bald an das eine, bald an das andere Paar anlegen können. Aber wir können nicht den Abstand zweier Töne von gleicher Höhe und verschiedener Intensität vergleichen mit dem zweier Töne von gleicher Intensität und verschiedener Höhe. Riemann zeigte durch Betrachtungen dieser Art, dass die wesentliche Grundlage jeder Geometrie der Ausdruck sei, durch welchen die Entfernung zweier in beliebiger Richtung von einander liegender Punkte, und zwar zunächst zweier unendlich wenig von einander entfernten, gegeben wird. Für diesen Ausdruck nahm er aus der analytischen Geometrie die allgemeinste Form***), welche derselbe erhält, wenn man die Art der Abmessungen, durch welche der Ort jedes Punktes gegeben wird, ganz beliebig lässt. Er zeigte dann, dass diejenige Art der Bewegungsfreiheit bei unveränderter Form, welche den Körpern in unserem Raume zukommt, nur bestehen kann, wenn gewisse, aus der Rechnung hervorgehende Grössen Å ), die bezogen auf die Verhältnisse an Flächen sich auf das Gauss'sche Maass der Flächenkrümmung reduciren, überall den gleichen Werth haben. Eben deshalb nennt Riemann diese Rechnungsgrössen, wenn sie für eine bestimmte Stelle nach allen Richtungen hin denselben Werth haben, das Krümmungsmaass des betreffenden Raumes an

*) Siehe S. 41, Heft II. dieser Vorlesungen.
**) Siehe S. 77, Heft I. dieser Vorlesungen.
***) Nämlich für das Quadrat des Abstandes zweier unendlich naher Punkte eine homogene Function zweiten Grades der Differentiale ihrer Coordinaten.
Å ) Es ist ein algebraïscher Ausdruck, zusammengesetzt aus den Coëfficienten der einzelnen Glieder in dem Ausdruck für das Quadrat der Entfernung zweier benachbarter Punkte und deren Differentialquotienten. [37/38]

dieser Stelle. Um Missverständnisse abzuwehren*), will ich hier nur noch hervorheben, dass dieses sogenannte Krümmungsmaass des Raums eine auf rein analytischem Wege gefundene Rechnungsgrösse ist, und dass seine Einführung keineswegs auf einer Unterschiebung von Verhältnissen, die nur in der sinnlichen Anschauung Sinn hätten, beruht. Der Name ist nur als kurze Bezeichnung eines verwickelten Verhältnisses von dem einen Falle hergenommen, wo der bezeichneten Grösse eine sinnliche Anschauung entspricht.
Wenn nun dieses Krümmungsmaass des Raumes überall den Werth Null hat, entspricht ein solcher Raum überall den Axiomen des Euklides. Wir können ihn in diesem Falle einen ebenen Räum nennen, im Gegensatz zu anderen analytisch construirbaren Räumen, die man gekrümmte nennen könnte, weil ihr Krümmungsmaass einen von Null verschiedenen Werth hat. Indessen lässt sich die analytische Geometrie für Räume der letzteren Art ebenso vollständig und in sich consequent durchführen, wie die gewöhnliche Geometrie unseres thatsächlich bestehenden ebenen Raumes.
Ist das Krümmungsmaass positiv, so erhalten wir den sphärischen Raum, in welchem die geradesten Linien in sich zurücklaufen, und in welchem es keine Parallelen giebt. Ein solcher Raum wäre wie die Oberfläche einer Kugel unbegrenzt, aber nicht unendlich gross. Ein negatives constantes Krümmungsmaass dagegen giebt den pseudosphärischen Raum, in welchem die geradesten Linien in das Unendliche auslaufen, und in jeder ebensten Fläche durch jeden Punkt ein Bündel von geradesten Linien zu legen ist, die eine gegebene andere geradeste Linie jener Fläche nicht schneiden.
Diese letzteren Verhältnisse hat Herr Beltrami**) dadurch der Anschauung zugänglich gemacht, dass er zeigte, wie man die Punkte, Linien und Flächen eines pseudosphärischen Raumes von drei Dimensionen im Innern einer Kugel des Euklides'schen Raumes so abbilden kann, dass jede geradeste Linie des pseudosphärischen Raumes in der Kugel durch eine gerade Linie vertreten wird, jede ebenste Fläche des ersteren durch eine Ebene in der letzteren. Die Kugeloberfläche selbst entspricht dabei den unendlich entfernten Punkten des pseudosphärischen Raumes; die verschiedenen Theile desselben sind in ihrem Kugelabbild um so mehr

*) Wie ein solches z. B. in dem oben citirten Buche von Herrn W. Tobias begangen ist. S. 70 u. a. m.
**) Teoria fondamentale degli Spazii di Curvatura costante. Annali di Matematica. Ser. II, Tom. II, Fasc. III, p. 232-255. [38/39]

verkleinert, je näher sie der Kugeloberfläche liegen und zwar in der Richtung der Kugelradien stärker als in den Richtungen senkrecht darauf. Gerade Linien in der Kugel, die sich erst ausserhalb der Kugeloberfläche schneiden, entsprechen geradesten Linien des pseudosphärischen Raumes, die sich nirgends schneiden.
Somit zeigte sich, dass der Raum, als Gebiet messbarer Grössen betrachtet, keineswegs dem allgemeinsten Begriffe einer Mannigfaltigkeit von drei Dimensionen entspricht, sondern noch besondere Bestimmungen erhält, welche bedingt sind durch die vollkommen freie Beweglichkeit der festen Körper mit unveränderter Form nach allen Orten hin und bei allen möglichen Richtungsänderungen, und ferner durch den besonderen Werth des Krümmungsmaasses, welches für den thatsächlich vorliegenden Raum gleich Null zu setzen ist, oder sich wenigstens in seinem Werthe nicht merklich von Null unterscheidet. Diese letztere Festsetzung ist in den Axiomen von den geraden Linien und von den Parallelen gegeben.
Während Riemann von den allgemeinsten Grundfragen der analytischen Geometrie her dieses neue Gebiet betrat, war ich selbst theils durch Untersuchungen über die räumliche Darstellung des Systems der Farben, also durch Vergleichung einer dreifach ausgedehnten Mannigfaltigkeit mit einer anderen, theils durch Untersuchungen über den Ursprung unseres Augenmaasses für Abmessungen des Gesichtsfeldes zu ähnlichen Betrachtungen, wie Riemann, gekommen. Während dieser von dem oben erwähnten algebraïschen Ausdrucke, welcher die Entfernung zweier einander unendlich naher Punkte in allgemeinster Form darstellt, als seiner Grundannahme ausgeht, und daraus die Sätze über Beweglichkeit fester Raumgebilde herleitet, bin ich andererseits von der Thatsache der Beobachtung ausgegangen, dass in unserem Raume die Bewegung fester Raumgebilde mit demjenigen Grade von Freiheit möglich ist, den wir kennen, und. habe aus dieser Thatsache die Nothwendigkeit jenes algebraïschen Ausdrucks hergeleitet, den Riemann als Axiom hinstellt. Die Annahmen, welche ich der Rechnung zu Grunde legen musste, waren die folgenden.
Zuerst, um überhaupt rechnende Behandlung möglich zu machen, muss vorausgesetzt werden, dass die Lage jedes Punktes A gegen gewisse als unveränderlich und fest betrachtete Raumgebilde durch Messungen von irgend welchen Raumgrössen, seien es Linien, oder Winkel zwischen Linien, oder Winkel zwischen Flächen u. s[.] w., bestimmt werden könne. Bekanntlich nennt man die zur Bestimmung der Lage des Punktes A nöthigen Abmessungen [39/40] seine Coordinaten. Die Anzahl der im Allgemeinen zur vollständigen Bestimmung der Lage eines jeden Punktes nöthigen Coordinaten bestimmt die Anzahl der Dimensionen des betreffenden Raumes. Es wird weiter vorausgesetzt, dass bei Bewegung des Punktes A sich die als Coordinaten gebrauchten Raumgrössen continuirlich verändern.
Zweitens ist die Definition eines festen Körpers, beziehlich festen Punktsystems zu geben, wie sie nöthig ist, um Vergleichung von Raumgrössen durch Congruenz vornehmen zu können. Da wir hier noch keine speciellen Methoden zur Messung der Raumgrössen voraussetzen dürfen, so kann die Definition eines festen Körpers nur erst durch folgendes Merkmal gegeben werden: Zwischen den Coordinaten je zweier Punkte, die einem festen Körper angehören, muss eine Gleichung bestehen, die eine bei jeder Bewegung des Körpers unveränderte Raumbeziehung zwischen den beiden Punkten (welche sich schliesslich als ihre Entfernung ergiebt) ausspricht, und welche für congruente Punktpaare die gleiche ist. Congruent aber sind solche Punktpaare, die nach einander mit demselben im Raume festen Punktpaare zusammenfallen können.
Trotz ihrer anscheinend so unbestimmten Fassung ist diese Bestimmung äusserst folgenreich, weil bei Vermehrung der Punktzahl die Anzahl der Gleichungen viel schneller wächst, als die Zahl der durch sie bestimmten Coordinaten der Punkte. Fünf Punkte, A, B, C, D, E, geben zehn verschiedene Punktpaare:

AB, AC, AD, AE, BC, BD, BE, CD, CE, DE,


also zehn Gleichungen, die im Raume von drei Dimensionen fünfzehn veränderliche Coordinaten enthalten, von denen aber sechs frei verfügbar bleiben müssen, wenn das System der fünf Punkte frei beweglich und drehbar sein soll: Es dürfen also nur neun Coordinaten durch jene zehn Gleichungen bestimmt werden, als abhängig von jenen sechs veränderlichen. Bei sechs Punkten bekommen wir fünfzehn Gleichungen für zwölf veränderliche Grössen, bei 7 Punkten 21 Gleichungen für 15 Grössen u. s. w. Nun können wir aber aus n von einander unabhängigen Gleichungen n darin vorkommende Grössen bestimmen. Haben wir mehr als n Gleichungen, so müssen die überzähligen selbst herzuleiten sein aus den n ersten derselben. Daraus folgt, dass jene Gleichungen, welche zwi-[40/41]schen den Coordinaten jedes Punktpaares eines festen Körpers bestehen, von besonderer Art sein müssen, so dass, wenn sie im Raume von drei Dimensionen für neun aus je fünf Punkten gebildete Punktpaare erfüllt sind, aus ihnen die Gleichung für das zehnte Paar identisch folgt. Auf diesem Umstande beruht es, dass die genannte Annahme für die Definition der Festigkeit doch genügt, um die Art der Gleichungen zu bestimmen, welche zwischen den Coordinaten zweier fest miteinander verbundener Punkte bestehen.
Drittens ergab sich, dass noch eine besondere Eigenthümlichkeit der Bewegung fester Körper der Rechnung als Thatsache zu Grunde gelegt werden musste, eine Eigenthümlichkeit, welche uns so geläufig ist, dass wir ohne diese Untersuchung vielleicht nie darauf gefallen wären, sie als etwas zu betrachten, was auch nicht sein könnte. Wenn wir nämlich in unserem Raume von drei Dimensionen zwei Punkte eines festen Körpers festhalten, so kann er nur noch Drehungen um deren gerade Verbindungslinie als Drehungsaxe machen. Drehen wir ihn einmal ganz um, so kommt er genau wieder in die Lage, in der er sich zuerst befunden hatte. Dass nun Drehung ohne Umkehr jeden festen Körper immer wieder in seine Anfangslage zurückführt, muss besonders erwähnt werden. Es wäre eine Geometrie möglich, wo es nicht so wäre. Am einfachsten ist dies für die Geometrie der Ebene einzusehen. Man denke sich, dass bei jeder Drehung jeder ebenen Figur ihre linearen Dimensionen dem Drehungswinkel proportional wüchsen, so würde nach einer ganzen Drehung um 360 Grad die Figur nicht mehr ihrem Anfangszustande congruent sein. Uebrigens würde ihr aber jede zweite Figur, die ihr in der Anfangslage congruent war, auch in der zweiten Lage congruent gemacht werden können, wenn auch die zweite Figur um 360 Grad gedreht wird. Es würde ein consequentes System der Geometrie auch unter dieser Annahme möglich sein, welches nicht unter die Riemann'sche Form fällt.
Andererseits habe ich gezeigt, dass die aufgezählten drei Annahmen zusammengenommen ausreichend sind, um den von Riemann angenommenen Ausgangspunkt der Untersuchung zu begründen, und damit auch alle weiteren Ergebnisse von dessen Arbeit, die sich auf den Unterschied der verschiedenen Räume nach ihrem Krümmungsmaass beziehen.
Es liesse sich nun noch fragen, ob auch die Gesetze der Bewegung und ihrer Abhängigkeit von den bewegenden Kräften ohne Widerspruch auf die sphärischen oder pseudosphärischen Räume übertragen werden können. Diese Untersuchung ist von Herrn [41/42] Professor Lipschitz*) in Bonn durchgeführt worden. Es lässt sich in der That der zusammenfassende Ausdruck aller Gesetze der Dynamik, das Hamilton'sche Princip, direct auf Räume, deren Krümmungsmaass nicht gleich Null ist, übertragen. Also auch nach dieser Seite hin verfallen die abweichenden Systeme der Geometrie in keinen Widerspruch.
Wir werden nun weiter zu fragen haben, wo diese besonderen Bestimmungen herkommen, welche unseren Raum als ebenen Raum charakterisiren, da dieselben, wie sich gezeigt hat, nicht in dein allgemeinen Begriffe einer ausgedehnten Grösse von drei Dimensionen und freier Beweglichkeit der in ihr enthaltenen begrenzten Gebilde enthalten sind. Denknothwendigkeiten, die aus dem Begriffe einer solchen Mannigfaltigkeit und ihrer Messbarkeit, oder aus dem aller allgemeinsten Begriffe eines festen in ihr enthaltenen Gebildes und seiner freiesten Beweglichkeit herfliessen, sind sie nicht.
Wir wollen nun die entgegengesetzte Annahme, die sich über ihren Ursprung machen lässt, untersuchen, die Frage nämlich, ob sie empirischen Ursprungs seien, ob sie aus Erfahrungsthatsachen abzuleiten, durch solche zu erweisen, beziehlich zu prüfen und vielleicht auch zu widerlegen seien. Die letztere Eventualität würde dann auch einschliessen, dass wir uns Reihen beobachtbarer Erfahrungsthatsachen müssten vorstellen können, durch welche ein anderer Werth des Krümmungsmaasses angezeigt würde, als derjenige ist, den der ebene Raum des Euklides hat. Wenn aber Räume anderer Art in dem angegebenen Sinne vorstellbar sind, so wäre damit auch widerlegt, dass die Axiome der Geometrie nothwendige Folgen einer a priori gegebenen transcendentalen Form unserer Anschauungen im Kant'schen Sinne seien.
Der Unterschied der Euklidischen, sphärischen und pseudosphärischen Geometrie beruht, wie oben bemerkt, auf dem Werthe einer gewissen Constante, welche Riemann das Krümmungsmaass des betreffenden Raumes nennt, und deren Werth gleich Null sein muss, wenn die Axiome des Euklides gelten. Ist sie nicht gleich Null, so würden Dreiecke von grossem Flächeninhalte eine andere Winkelsumme haben müssen, als kleine, erstere im sphärischen Raume eine grössere, im pseudosphärischen eine kleinere. Ferner ist geometrische Aehnlichkeit grosser und kleiner Körper oder

*) Untersuchungen über die ganzen homogen Functionen von n Differentialen. Borchardt's Journal für Mathematik, Bd. LXX, S. 71 und Bd. LXXII, S. 1. - Untersuchung eines Problems der Variationsrechnung, ebendas., Bd. LXXIV. [42/43]

Figuren nur möglich im Euklidischen Raume. Alle Systeme praktisch ausgeführter geometrischer Messungen, bei denen die drei Winkel grosser geradliniger Dreiecke einzeln gemessen worden sind, also auch namentlich alle Systeme astronomischer Messungen, welche die Parallaxe der unmessbar weit entfernten Fixsterne gleich Null ergeben (im pseudosphärischen Raum müssten auch die unendlich entfernten Punkte positive Parallaxe haben), bestätigen empirisch das Axiom von den Parallelen, und zeigen, dass in unserem Raume und bei Anwendung unserer Messungsmethoden das Krümmungsmaass des Raumes als von Null ununterscheidbar erscheint. Freilich muss mit Riemann die Frage aufgeworfen werden, ob das sich nicht vielleicht anders verhalten würde, wenn wir statt unserer begrenzten Standlinien, deren grösste die grosse Axe der Erdbahn ist, grössere benutzen könnten.
Aber wir dürfen dabei nicht vergessen, dass alle geometrischen Messungen schliesslich auf dem Principe der Congruenz beruhen. Wir messen Entfernungen von Punkten, indem wir den Zirkel oder den Maassstab oder die Messkette zu ihnen hinbewegen. Wir messen Winkel, indem wir den getheilten Kreis oder den Theodolithen an den Scheitel des Winkels bringen. Daneben bestimmen wir gerade Linien auch durch den unserer Erfahrung nach geradlinigen Gang der Lichtstrahlen; aber dass das Licht sich längs kürzester Linien ausbreitet, so lange es in einem ungeänderten brechenden Medium bleibt, würde sich ebenso auch auf Räume von anderem Krümmungsmaass übertragen lassen. Alle unsere geometrischen Messungen beruhen also auf der Voraussetzung, - dass unsere von uns für fest gehaltenen Messwerkzeuge wirklich Körper von unveränderlicher Form sind, oder dass sie wenigstens keine anderen Arten von Formveränderung erleiden, als diejenigen, die wir an ihnen kennen, wie z. B. die von geänderter Temperatur, oder von der bei geänderter Stellung anders wirkenden Schwere herrührenden kleinen Dehnungen.
Wenn wir messen, so führen wir nur mit den besten und zuverlässigsten uns bekannten Hilfsmitteln dasselbe aus, was wir sonst durch Beobachtung nach dem Augenmaass, dem Tastsinn, oder durch Abschreiten zu ermitteln pflegen. In den letzteren Fällen ist unser eigener Körper mit seinen Organen das Messwerkzeug, welches wir im Raume herumtragen. Bald ist die Hand, bald sind die Beine unser Zirkel, oder das nach allen Richtungen sich wendende Auge der Theodolith, mit dem wir Bogenlängen oder Flächenwinkel im Gesichtsfelde abmessen. [43/44]
Jede Grössen vergleichende, sei es Schätzung, sei es Messung räumlicher Verhältnisse geht also von einer Voraussetzung über das physikalische Verhalten gewisser Naturkörper aus, sei es unseres eigenen Leibes, sei es der angewendeten Messinstrumente, welche Voraussetzung übrigens den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit haben und mit allen uns sonst bekannten physikalischen Verhältnissen in der besten Uebereinstimmung stehen mag, aber jedenfalls über das Gebiet der reinen Raumanschauungen hinausgreift.
Ja, es lässt sich ein bestimmtes Verhalten der uns als fest erscheinenden Körper angeben, bei welchem die Messungen im Euklidischen Raume so ausfallen würden, als wären sie im pseudosphärischen oder sphärischen Raume angestellt. Um dies einzusehen, erinnere ich zunächst daran, dass, wenn die sämmtlichen linearen Dimensionen der uns umgebenden Körper und die unseres eigenen Leibes mit ihnen in gleichem Verhältnisse, z. B. alle auf die Hälfte, verkleinert oder alle auf das Doppelte vergrössert würden, wir eine solche Aenderung durch unsere Mittel der Raumanschauung gar nicht würden bemerken können. Dasselbe würde aber auch der Fall sein, wenn die Dehnung oder Zusammenziehung nach verschiedenen Richtungen hin verschieden wäre, vorausgesetzt, dass unser eigener Leib in derselben Weise sich veränderte, und vorausgesetzt ferner, dass ein Körper, der sich drehte, in jedem Augenblick ohne mechanischen Widerstand zu erleiden oder auszuüben denjenigen Grad der Dehnung seiner verschiedenen Dimensionen annähme, der seiner zeitigen Lage entspricht. Man denke an das Abbild der Welt in einem Convexspiegel. Die bekannten versilberten Kugeln, welche in Gärten aufgestellt zu werden pflegen, zeigen die wesentlichen Erscheinungen eines solchen Bildes, wenn auch gestört durch einige optische Unregelmässigkeiten. Ein gut gearbeiteter Convexspiegel von nicht zu grosser Oeffnung zeigt das Spiegelbild jedes vor ihm liegenden Gegenstandes scheinbar körperlich und in bestimmter Lage und Entfernung hinter seiner Fläche. Aber die Bilder des fernen Horizontes und der Sonne am Himmel liegen in begrenzter Entfernung, welche der Brennweite des Spiegels gleich ist, hinter dem Spiegel. Zwischen diesen Bildern und der Oberfläche des Spiegels sind die Bilder aller anderen vor letzterem liegenden Objecte enthalten, aber so, dass die Bilder um so mehr verkleinert und um so mehr abgeplattet sind, je ferner ihre Objecte vom Spiegel liegen. Die Abplattung, das heisst die Verkleinerung der Tiefendimension, ist verhältnissmässig bedeutender als die Verkleinerung der Flächendimensionen. Dennoch wird [44/45] jede gerade Linie der Aussenwelt durch eine gerade Linie im Bilde, jede Ebene durch eine Ebene dargestellt. Das Bild eines Mannes, der mit einem Maassstab eine von dem Spiegel sich entfernende gerade Linie abmisst, würde immer mehr zusammenschrumpfen, je mehr das Original sich entfernt, aber mit seinem ebenfalls zusammenschrumpfenden Maassstab würde der Mann im Bilde genau dieselbe Zahl von Centimetern herauszählen, wie der Mann in der Wirklichkeit; überhaupt würden alle geometrischen Messungen, von Linien oder Winkeln mit den gesetzmässig veränderlichen Spiegelbildern der wirklichen Instrumente ausgeführt, genau dieselben Resultate ergeben wie die in der Aussenwelt, alle Congruenzen würden in den Bildern bei wirklicher Aneinanderlagerung der betreffenden Körper ebenso passen wie in der Aussenwelt, alle Visirlinien der Aussenwelt durch gerade Visirlinien im Spiegel ersetzt sein. Kurz, ich sehe nicht, wie die Männer im Spiegel herausbringen sollten, dass ihre Körper nicht feste Körper seien und ihre Erfahrungen gute Beispiele für die Richtigkeit der Axiome des Euklides. Könnten sie aber hinausschauen in unsere Welt, wie wir hineinschauen in die ihrige, ohne die Grenze überschreiten zu können, so würden sie unsere Welt für das Bild eines Convexspiegels erklären müssen und von uns gerade so reden, wie wir von ihnen, und wenn sich die Männer beider Welten mit einander besprechen könnten, so würde, soweit ich sehe, keiner den anderen überzeugen können, dass er die wahren Verhältnisse habe, der andere die verzerrten; ja ich kann nicht erkennen, dass eine solche Frage überhaupt einen Sinn hätte, so lange wir keine mechanischen Betrachtungen einmischen.
Nun ist Herrn Beltrami's Abbildung des pseudosphärischen Raumes in einer Vollkugel des Euklidischen Raumes von ganz ähnlicher Art, nur dass die Fläche des Hintergrundes nicht eine Ebene, wie bei dem Convexspiegel, sondern eine Kugelfläche ist, und das Verhältniss, in welchem sich die der Kugelfläche näher kommenden Bilder zusammenziehen, einen anderen mathematischen Ausdruck*) hat. Denkt man sich also umgekehrt, dass in der Kugel, für deren Innenraum die Axiome des Euklides gelten, sich Körper bewegen, die, wenn sie sich vom Mittelpunkte entfernen, sich jedesmal zusammenziehen, ähnlich den Bildern im Convexspiegel, und zwar sich in der Weise zusammenziehen, dass ihre im pseudosphärischen Raum construirten Abbilder unveränderte Di-

*) Siehe den Zusatz am Ende dieser Vorlesung. [45/46]

mensionen behalten, so würden Beobachter, deren Leiber selbst dieser Veränderung regelmässig unterworfen wären, bei geometrischen Messungen, wie sie sie ausführen könnten, Ergebnisse erhalten, als lebten sie selbst im pseudosphärischen Raume.
Wir können von hier aus sogar noch einen Schritt weiter gehen; wir können daraus ableiten, wie einem Beobachter, dessen Augenmaass und Raumerfahrungen sich gleich den unserigen im ebenen Raume ausgebildet haben, die Gegenstände einer pseudosphärischen Welt erscheinen würden, falls er in eine solche eintreten könnte. Ein solcher Beobachter würde die Linien der Lichtstrahlen oder die Visirlinien seines Auges fortfahren als gerade Linien anzusehen, wie solche im ebenen Raume vorkommen, und wie sie in dem kugeligen Abbild des pseudosphärischen Raumes wirklich sind. Das Gesichtsbild der Objecte im pseudosphärischen Raume würde ihm deshalb denselben Eindruck machen, als befände er sich im Mittelpunkte des Beltrami'schen Kugelbildes. Er würde die entferntesten Gegenstände dieses Raumes in endlicher Entfernung*) rings um sich zu erblicken glauben, nehmen wir beispielsweise an, in hundert Fuss Abstand. Ginge er aber auf diese entfernten Gegenstände zu, so würden sie sich vor ihm dehnen, und zwar noch mehr nach der Tiefe, als nach der Fläche; hinter ihm aber würden sie sich zusammenziehen. Er würde erkennen, dass er nach dem Augenmaass falsch geurtheilt hat. Sähe er zwei gerade Linien, die sich nach seiner Schätzung miteinander parallel bis auf diese Entfernung von 100 Fuss, wo ihm die Welt abgeschlossen erscheint, hinausziehen, so würde er, ihnen nachgehend, erkennen, dass sie bei dieser Dehnung der Gegenstände, denen er sich nähert, aus einander rücken, je mehr er an ihnen vorschreitet; hinter ihm dagegen würde ihr Abstand zu schwinden scheinen, so dass sie ihm beim Vorschreiten immer mehr divergent und immer entfernter von einander erscheinen würden. Zwei gerade Linien aber, die vom ersten Standpunkte aus nach einem und demselben Punkte des Hintergrundes in hundert Fuss Entfernung zu convergiren scheinen, würden dies immer thun, so weit er ginge und er würde ihren Schnittpunkt nie erreichen.
Nun können wir ganz ähnliche Bilder unserer wirklichen Welt erhalten, wenn wir eine grosse Convexlinse von entsprechender negativer Brennweite vor die Augen nehmen, oder auch nur zwei convexe Brillengläser, die etwas prismatisch geschliffen sein müss-

*) Das reciproke, negative Quadrat dieser Entfernung wäre das Krümmungsmaass des pseudosphärischen Raumes. [46/47]

ten, als wären sie Stücke aus einer zusammenhängenden grösseren Linse. Solche zeigen uns ebenso, wie die oben erwähnten Convexspiegel, die fernen Gegenstände genähert, die fernsten bis zur Entfernung des Brennpunktes der Linse. Wenn wir mit einer solchen Linse vor den Augen herumgehen, gehen ganz ähnliche Dehnungen der Gegenstände vor, auf die wir zugehen, wie ich sie für den pseudosphärischen Raum beschrieben habe. Wenn nun Jemand eine solche Linse vor die Augen nimmt, nicht einmal von hundert Fuss, sondern eine viel stärkere von nur sechzig Zoll Brennweite, so merkt er im ersten Augenblicke vielleicht, dass er die Gegenstände genähert sieht. Aber nach wenigem Hin- und Hergehen schwindet die Täuschung, und er beurtheilt trotz der falschen Bilder die Entfernungen richtig. Wir haben allen Grund zu vermuthen, dass es uns im pseudosphärischen Raume bald genug ebenso gehen würde, wie es bei einem angehenden Brillenträger nach wenigen Stunden schon der Fall ist; kurz der pseudosphärische Raum würde uns verhältnissmässig gar nicht sehr fremdartig erscheinen, wir würden uns nur in der ersten Zeit bei der Abmessung der Grösse und Entfernung fernerer Gegenstände nach ihrem Gesichtseindruck Täuschungen unterworfen finden.
Die entgegengesetzten Täuschungen würde ein sphärischer Raum von drei Dimensionen mit sich bringen, wenn wir mit dem im Euklidischen Raume erworbenen Augenmaasse in ihn eintreten. Wir würden entferntere Gegenstände für entfernter und grösser halten, als sie sind; wir würden auf sie zugehend finden, dass wir sie schneller erreichen, als wir nach dem Gesichtsbilde annehmen mussten. Wir würden aber auch Gegenstände vor uns sehen, die wir nur mit divergirenden Gesichtslinien fixiren können; dies würde bei allen denjenigen der Fall sein, welche von uns weiter als ein Quadrant eines grössten Kreises entfernt sind. Diese Art des Anblicks würde uns kaum sehr ungewöhnlich vorkommen, denn wir können denselben auch für irdische Gegenstände hervorbringen, wenn wir vor das eine Auge ein schwach prismatisches Glas nehmen, dessen dickere Seite zur Nase gekehrt ist. Auch dann müssen wir die Augen divergent stellen, um entfernte Gegenstände zu fixiren. Das erregt ein gewisses Gefühl ungewohnter Anstrengung in den Augen, ändert aber nicht merklich den Anblick der so gesehenen Gegenstände. Den seltsamsten Theil des Anblicks der sphärischen Welt würde aber unser eigener Hinterkopf bilden, in dem alle unsere Gesichtslinien wieder zusammenlaufen würden, so weit sie zwischen anderen Gegenständen frei durchgehen können, und [47/48] welcher den äussersten Hintergrund des ganzen perspectivischen Bildes ausfüllen müsste.
Dabei ist freilich noch weiter zu bemerken, dass, wie eine kleine ebene elastische Scheibe, etwa eine kleine ebene Kautschukplatte, einer schwach gewölbten Kugelfläche nur unter relativer Contraction ihres Randes und Dehnung ihrer Mitte angepasst werden kann, so auch unser im Euklidischen ebenen Raum gewachsener Körper nicht in einen gekrümmten Raum übergehen könnte ohne ähnliche Dehnungen und Zusammenpressungen seiner Theile zu erleiden, deren Zusammenhang natürlich nur so weit erhalten bleiben könnte, als die Elasticität der Theile ein Nachgeben ohne Reissen und Brechen erlaubte. Die Art der Dehnung würde dieselbe sein müssen, als wenn wir uns im Mittelpunkte von Beltrami's Kugel einen kleinen Körper dächten, und von diesem dann auf sein pseudosphärisches oder sphärisches Abbild übergingen. Damit ein solcher Uebergang als möglich erscheine, wird immer vorausgesetzt werden müssen, dass der übergehende Körper hinreichend elastisch und klein sei im Vergleich mit dem reellen oder imaginären Krümmungsradius des gekrümmten Raumes, in den er übergehen soll.
Es wird dies genügen um zu zeigen, wie man auf dem eingeschlagenen Wege aus den bekannten Gesetzen unserer sinnlichen Wahrnehmungen die Reihe der sinnlichen Eindrücke herleiten kann, welche eine sphärische oder pseudosphärische Welt uns geben würde, wenn sie existirte. Auch dabei treffen wir nirgends auf eine Unfolgerichtigkeit oder Unmöglichkeit, ebenso wenig wie in der rechnenden Behandlung der Maassverhältnisse. Wir können uns den Anblick einer pseudosphärischen Welt ebenso gut nach allen Richtungen hin ausmalen, wie wir ihren Begriff entwickeln können. Wir können deshalb auch nicht zugeben, dass die Axiome unserer Geometrie in der gegebenen Form unseres Anschauungsvermögens begründet wären, oder mit einer solchen irgendwie zusammenhingen.
Anders ist es mit den drei Dimensionen des Raumes. Da alle unsere Mittel sinnlicher Anschauung sich nur auf einen Raum von drei Dimensionen erstrecken, und die vierte Dimension nicht bloss eine Abänderung von Vorhandenem, sondern etwas vollkommen Neues wäre, so befinden wir uns schon wegen unserer körperlichen Organisation in der absoluten Unmöglichkeit, uns eine Anschauungsweise einer vierten Dimension vorzustellen.
Schliesslich möchte ich nun noch hervorheben, dass die geometrischen Axiome gar nicht Sätze sind, die nur der reinen Raum-[48/49]lehre angehörten. Sie sprechen, wie ich schon erwähnt habe, von Grössen. Von Grössen kann man nur reden, wenn man irgend welches Verfahren kennt und im Sinne hat, nach dem man diese Grössen vergleichen, in Theile zerlegen und messen kann. Alle Raummessung und daher überhaupt alle auf den Raum angewendeten Grössenbegriffe setzen also die Möglichkeit der Bewegung von Raumgebilden voraus, deren Form und Grösse man trotz der Bewegung für unveränderlich halten darf. Solche Raumformen pflegt man in der Geometrie allerdings nur als geometrische Körper, Flächen, Winkel, Linien zu bezeichnen, weil man von allen anderen Unterschieden physikalischer und chemischer Art, welche die Naturkörper zeigen, abstrahirt; aber man bewahrt doch die eine physikalische Eigenschaft derselben, die Festigkeit. Für die Festigkeit der Körper und Raumgebilde haben wir aber kein anderes Merkmal, als dass sie, zu jeder Zeit und an jedem Orte und nach jeder Drehung aneinandergelegt, immer wieder dieselben Congruenzen zeigen, wie vorher. Ob sich aber die aneinander gelegten Körper nicht selbst beide in gleichem Sinne verändert haben, können wir auf rein geometrischem Wege, ohne mechanische Betrachtungen hinzuzunehmen, gar nicht entscheiden.
Wenn wir es zu irgend einem Zwecke nützlich fänden, könnten wir in vollkommen folgerichtiger Weise den Raum, in welchem wir leben, als den scheinbaren Raum hinter einem Convexspiegel mit verkürztem und zusammengezogenem Hintergrunde betrachten; oder wir könnten eine abgegrenzte Kugel unseres Raumes, jenseits deren Grenzen wir nichts mehr wahrnehmen, als den unendlichen pseudosphärischen Raum betrachten. Wir müssten dann nur den Körpern, welche uns als fest erscheinen, und ebenso unserem eigenen Leibe gleichzeitig die entsprechenden Dehnungen und Verkürzungen zuschreiben, und würden allerdings das System unserer mechanischen Principien gleichzeitig gänzlich verändern müssen; denn schon der Satz, dass jeder bewegte Punkt, auf den keine Kraft wirkt, sich in gerader Linie mit unveränderter Geschwindigkeit fortbewegt, passt auf das Abbild der Welt im Convexspiegel nicht mehr. Die Bahnlinie wäre zwar noch gerade, aber die Geschwindigkeit abhängig vom Orte.
Die geometrischen Axiome sprechen also gar nicht über Verhältnisse des Raumes allein, sondern gleichzeitig auch über das mechanische Verhalten unserer festesten Körper bei Bewegungen. Man könnte freilich auch den Begriff des festen geometrischen Raumgebildes als einen transcendentalen Begriff auffassen, der un-[49/50]abhängig von wirklichen Erfahrungen gebildet wäre, und dem diese nicht nothwendig zu entsprechen brauchten, wie ja unsere Naturkörper thatsächlich ganz rein und ungestört nicht einmal denjenigen Begriffen entsprechen, die wir auf dem Wege der Induction von ihnen abstrahirt haben. Unter Hinzunahme eines solchen nur als Ideal concipirten Begriffs der Festigkeit könnte dann ein strenger Kantianer allerdings die geometrischen Axiome als a priori durch transcendentale Anschauung gegebene Sätze betrachten, die durch keine Erfahrung bestätigt oder widerlegt werden könnten, weil man erst nach ihnen zu entscheiden hätte, ob irgend welche Naturkörper als feste Körper zu betrachten seien. Dann müssten wir aber behaupten, dass unter dieser Auffassung die geometrischen Axiome gar keine synthetischen Sätze im Sinne Kant's wären. Denn sie würden dann nur etwas aussagen, was aus dem Begriffe der zur Messung nothwendigen festen geometrischen Gebilde analytisch folgen würde, da als feste Gebilde nur solche anerkannt werden könnten, die jenen Axiomen genügen.
Nehmen wir aber zu den geometrischen Axiomen noch Sätze hinzu, die sich auf die mechanischen Eigenschaften der Naturkörper beziehen, wenn auch nur den Satz von der Trägheit, oder den Satz, dass die mechanischen und physikalischen Eigenschaften der Körper unter übrigens gleichbleibenden Einflüssen nicht vom Orte, wo sie sich befinden, abhängen können, dann erhält ein solches System von Sätzen einen wirklichen Inhalt, der durch Erfahrung bestätigt oder widerlegt werden, eben deshalb aber auch durch Erfahrung gewonnen werden kann.
Uebrigens ist es natürlich nicht meine Absicht, zu behaupten, dass die Menschheit erst durch sorgfältig ausgeführte Systeme genauer geometrischer Messungen Anschauungen des Raumes, die den Axiomen des Euklides entsprechen, gewonnen habe. Es musste vielmehr eine Reihe alltäglicher Erfahrungen, namentlich die Anschauung von der geometrischen Aehnlichkeit grosser und kleiner Körper, welche nur im ebenen Raume möglich ist, darauf führen jede geometrische Anschauung, die dieser Thatsache widersprach, als unmöglich zu verwerfen. Dazu war keine Erkenntniss des begrifflichen Zusammenhanges zwischen der beobachteten Thatsache geometrischer Aehnlichkeit und den Axiomen nöthig, sondern nur durch zahlreiche und genaue Beobachtungen von Raumverhältnissen gewonnene anschauliche Kenntniss ihres typischen Verhaltens, eine solche Art der Anschauung, wie sie der Künstler von den darzustellenden Gegenständen besitzt, und mittels deren er sicher [50/51] und fein entscheidet, ob eine versuchte neue Combination der Natur des darzustellenden Gegenstandes entspricht, oder nicht. Das wissen wir zwar in unserer Sprache auch mit keinem anderen Namen als dem der „Anschauung" zu bezeichnen; aber es ist dies eine empirische durch Häufung und Verstärkung gleichartig wiederkehrender Eindrücke in unserem Gedächtniss gewonnene Kenntniss, keine transcendentale und vor aller Erfahrung gegebene Anschauungsform. Dass dergleichen empirisch erlangte und noch nicht zur Klarheit des bestimmt ausgesprochenen Begriffs durchgearbeitete Anschauungen eines typischen gesetzlichen Verhaltens häufig genug den Metaphysikern als a priori gegebene Sätze imponirt haben, brauche ich hier nicht weiter zu erörtern.



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