1914. Progr. Nr. 1010.
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D
ie Kritik der reinen Vernunft" ist 1781 erschienen
und bis heute trotz aller Lobpreisung und hundertfacher Widerlegung nicht
verstanden. Auf dem Wege, der zu Kant zurückführen sollte, ist sie
nicht gefunden, und auf dem Wege, der angeblich über sie hinausführt,
lag sie nicht. Die nachkantische Spekulation läßt sich von ihr nicht
ableiten, in ihren Verirrungen bekundet sich das Gegenteil des mit sokratischer
Weisheit und Aufrichtigkeit, aber auch mit peinlicher Begründung abgelegten
Bekenntnisses: D i e M e t a p h y s i k
d e s P h i l o s o p h e n
w e i ß i n d e n F r a g e n,
d i e ü b e r d i e E r f a h r u n g
h i n a u s g e h e n, g e n a u
s o v i e l w i e d e r g e m e i n e
M e n s c h e n v e r s t a n d.
Für die Philosophie im abgelaufenen Jahrhundert wie in
unserer Zeit geben die merkwürdigen Schicksale des Buches einen untrüglichen
Maßstab. Nach alter Überlieferung wird Philosophie auf Universitäten
gelehrt - wären jene Schicksale berechtigt, so müßte diesem
Unterricht ein Ziel gesetzt werden. Kein Mensch würde öffentliche
Einrichtungen, die Jugend in Verwirrung zu setzen, vertreten können.
Wir wenden uns im Interesse der Jugend in erster Linie an die
Lehrer der Philosophie. In ihre Hand hat der Urheber sein Hauptwerk als
Depositum niedergelegt - wie ist es verwaltet?
Wer hat sich das Verdienst erworben, seine Lehren bündig zu
widerlegen, was wird als Ersatz geboten? Wo gibt die Literatur Aufschluß über
den Stand des Wissens, den Stand der Einsicht heutiger Schule, nach welchem Maße
wird bei Prüfungen, nach welchem Maße werden philosophische Schriften
und der von ihnen zu erwartende Fortschritt" gemessen? Personen, ihr
Einfluß und ein Anhang, der mit jenen zugleich schwindet, zählen in
dieser Frage nicht. Wo findet sich die Schule, die in Kontinuität
vorhandene, ererbte Resultate bewahrt und sie der Zukunft vermittelt?
Philosophie galt einst als Lehre, die Kriterien der Wahrheit anerkannte,
Sophistik aber verwarf. Bestände sie wirklich nur in der Kunst, mit Worten
schwankenden Gehalts zu deklamieren, eigene Meinun-[3/4]gen und Einfälle
hin- und herzuwürfeln oder andere zu widerlegen? Sind es geheimnisvolle
Kennzeichen, durch die selbst im abgelaufenen Jahrhundert Fortschritt und
Entwicklung sich feststellen läßt? Gibt es in Fragen der Vernunft,
die allen Menschen gleich nahe ist, verschiedene Wahrheit, so daß eine Bemühung
wie die kantische ziel- und zwecklos wäre?
Wir hören schon als Einwurf das in neuerer Zeit aus dem
Zusammenhange herausgenommene Wort Kants, wonach sich Philosophie nur historisch
und daß, sofern die Philosophie nur mit der reinen Vernunft beschäftigt
ist, sich nur philosophieren lernen" lasse. Wäre dieser Gedanke
richtig erfaßt, mit den vielfach sich findenden Ermahnungen zur
Aufrichtigkeit und Selbstprüfung verglichen und befolgt worden, so wäre
die fruchtlose Kantliteratur der letzten Jahrzehnte, bei der jeder
Schriftsteller sich vor den Augen des Publikums im Mißverständnis
eines anderen entwickelt", erspart worden. Waget nicht, sagt jenes
weise Wort, nur historisch gelernte philosophische Erkenntnis, auch wenn sie es
objektiv wäre, subjektiv als Erkenntnis anzusehen, ehe ihr nicht durch
eigenes Nachdenken die Einsicht erlangt habt, daß und wie sie aus
allgemeinen Quellen der Vernunft", d. i. aus Prinzipien der
Vernunft" geschöpft worden ist! Ihr habt sonst Worte, aber keine
Begriffe - wie die Aneignung jenes Ausspruchs deutlich zeigt.
Als Kant schrieb und lange vorher galt Philosophie als
Gemeingut, kein Gebildeter konnte sich ihrem Einfluß entziehen, in den
geringsten philosophischen Schriften finden sich sichere Begriffe, darüber
hinaus in jedem anderen Schriftwerk, selbst im Roman und im Drama. Lessing
empfiehlt seinem Bruder, sich erst in der Philosophie zu befestigen, ehe er sich
an die Poesie heranwage. Bewegt nicht die sonderbare Tatsache, Shakespeares
Autorschaft durch die eines Philosophen zu ersetzen, zum Nachdenken? An wie
vielen Werken der schönen Literatur hat die Philosophie gleichen Anteil? Täglich
wird der scholastischen" Systematik Kants gespottet; wie einsichtslos
mag Goethe gewesen sein, da er auf Schillers Rat seine Gedanken durch Kategorien
ordnete! - Die Pfadfinder in der Wissenschaft waren immer Philosophen, Männer,
die sich ihrer Vernunft bewußt waren. Wissenschaftlicher Instinkt"
ist ein moderner Begriff", wie alle modernen"
philosophischen Errungenschaften gedankenlos und überheblich.
Die Forderung strenger Lehre an Stelle von Meinungen, die in
Fragen der reinen Vernunft kein Gewicht haben, wird heute durch den Vorwurf der
Unreife, durch einen eisernen Bestand von Schlagworten und Phrasen
stigmatisiert, an die Stelle ernster Un-[4/5]tersuchung tritt die Schaumschlägerei
blendender Rhetorik, bei deren nach Belieben verwendeten Begriffen sich alles
und nichts denken läßt. Was z. B mag es heißen, daß in
Kant die Höhe der weltgeschichtlichen Arbeit" erklommen werden, daß
sich aber die Gegenwart nicht an Formeln der Vergangenheit" binden
soll? So schreibt ein berühmter heutiger Philosoph, ehe diese Höhe"
erklommen ist. Welchen Wert hat die hypothetisch angeschlossene Parole: Los
von Kant", hinaus über Kant", was haben Parole und Kommando
in philosophischen Schriften zu suchen?
Ohne Gemeinplatz: die Philosophie hatte einst diejenige zentrale
Bedeutung, ohne die sie nur unnützer Ballast sein würde. Wahre,
schulgemäße Philosophie soll die gesamte wissenschaftliche Arbeit
durchdringen, der universitas litterarum die innere Einheit verleihen, nicht
aber geduldet, verspottet nebenhergehen. Ihre Wahrheit soll auf das gesamte
Leben einwirken, das alte platonische Wort erhebt zum Ideal, daß die
Weisheit regiere, auf die alle Philosophie abzweckt. Das 18. Jahrhundert
wird als philosophisches, d. h. ein solches von tieferer Einsicht oft
gekennzeichnet. Worauf sollte die heutige Überlegenheit sich gründen?
Friedrich der Große hat sich vor den Formeln" Christian Wolffs
nicht gescheut. Sein Studium war so gründlich, wie es unmöglich ist
heutige philosophische Schriftsteller überhaupt zu studieren. Selbst die
Kritik mutet sich diese Mühe nicht zu, sie überfliegt, preist und
verwirft, sie beurteilt ihre tiefschürfenden" Denker schon am
folgenden Tage, - nach welchen Prinzipien, bleibt genau so rätselhaft wie
bei der Feststellung jener Entwicklung", die jeder Vergleich mit der
Vergangenheit Lügen straft.
Jenes Los von Kant" wird begründet mit der in
mächtigster Bewegung und Gärung befindlichen Zeit", die lebendige
Gegenwart" dürfe von der Vergangenheit nicht unterdrückt werden,
d. i. ohne Gleichnis ein Eintreten für den lebendigen Irrtum. Sodann
wird getadelt, daß dem überreichen 19. Jahrhundert aller
eigene Ertrag für den inneren Aufbau des Geisteslebens" abgesprochen
werde. Dieser Reichtum ist ein wenig frommes Märchen, das durch die Namen
Fichte, Hegel, Schelling, Schopenhauer und das sich anschließende
chaotische Bild strikt widerlegt wird. Was dort gerügt wird, bedeutet nicht
Verlust, sondern Befreiung, Gewinn. Von einem Aufbau" läßt
sich heute nicht reden, wo höchst unvollkommene Pläne in einem
Wirbelsturm unreifer Gedanken, kein Haus zum Wohnen, erkennbar werden.
In Gedanken läßt sich leicht ein Thron besteigen, den
Eitelkeit sich selbst errichtet, das ist kein Erbe. Es ist unstatthaft, für
An-[5/6]maßungen jener Männer Kant als Ursprung oder gar für die
buchhändlerische Reklame seinen Namen als Zeugen zu nennen. Gegen diese
Irreführung des Publikums, gegen den groben Mißbrauch des kantischen
Namens protestieren wir.
Wer sollte verwehren, die Metaphysik jener Männer von Kant
abzuleiten? Die Antwort ist einfach: die Wahrheit! Wer theoretisch aus dem
Absoluten (dem Unerkennbaren) deduziert, täuscht sich selbst und muß
der Sinnlosigkeit anheimfallen; er kann seinen Behauptungen keinen bestimmten
Sinn verleihen. Er kann durch Überredung betören, aber nicht lehren.
Zu dieser zwecklosen Bemühung verhält sich Kant wie Wasser zu Feuer.
Mit jenen Namen beginnt eine verkehrte Welt in der Philosophie, in der die einfältige
Wahrheit von der geflissentlichen, vom Schulwitz verhüllten Einbildung
verspottet wird.
Wie sich diese untereinander eifersüchtigen Männer
selbst beurteilen? Sie berufen sich auf ihren Genius. Nur das Genie kann das
Genie begreifen. Für Fichtes Sonnenklaren Bericht an das größere
Publikum" fand Schelling im Vereine mit Caroline Schlegel - zur Erheiterung
Goethes - das Motto:
Zweifle an der Sonne Klarheit,
Zweifle an der Sterne Licht,
Leser, nur an meiner Wahrheit
Und an deiner Dummheit nicht!
Diese köstliche Parodie ist das Gegenstück zu dem
ehrlichen, bescheidenen sapere aude" der Aufklärung, die andere
inhaltsvolle Namen - Leibniz, Wolff, Sulzer, Lambert, Lessing, Baumgarten,
Reimarus - aufweist und in Kant sich vollendet; die Verse treffen jeden
philosophischen Schriftsteller, der sich über die Beschränktheit
kontrollierbarer Gründe hinwegsetzt und damit für seinen Genius
Autorität fordert - wie Schelling vor allem. Schillers Genius war unzulänglich.
Er spottete der Anmaßungen in den Gedichten Hans Metaphysikus",
Die Weltweisen" mit den Resultaten kantischer Kritik. Nicht anders
Goethe, dessen Baccalaureus ein treues Bild für den Übergang der
Periode wachender, tätiger Vernunft in das vornehmere Zeitalter des träumenden,
spielenden Geistes" abgibt, nur blieb die Hoffnung auf die Wandlung
des absurd sich gebärdenden Mostes" auch zuletzt"
unerfüllt. Die Baccalaureen haben die grenzenlose Erdreustung"
niemals abgelegt. Schon früher hatte Kant selbst, wo er nur konnte, die
geniemäßige Überhebung als Humbug gegeißelt. Wenn
aber jemand sogar in Sachen der sorgfältigsten Vernunftuntersuchung wie ein
Genie spricht und entscheidet, so ist es vollends lächerlich; man weiß
nicht recht, ob man mehr über [6/7] den Gaukler, der um sich so viel Dunst
verbreitet, bei dem man nichts deutlich beurteilen, aber desto mehr sich
einbilden kann, oder mehr über das Publikum lachen soll, welches sich
treuherzig einbildet, daß sein Unvermögen, das Meisterwerk der
Einsicht deutlich erkennen und fassen zu können, daher komme, weil ihm neue
Wahrheiten in ganzen Massen zugeworfen werden, wogegen ihm das Detail (durch
abgemessene Erklärungen und schulgemäße Prüfung der Grundsätze)
nur Stümperwerk zu sein scheint." Was sind die trockenen, armseligen Formeln"
und gar die engbrüstigen Begriffe möglicher Erfahrung gegenüber
dem Zauberwesen im überreichen 19. Jahrhundert", mit seinem
inneren Aufbau des Geisteslebens"? Wie blöde die Aufklärung
mit ihrem Menschentum, wir spotten dieser Simpelei. Philosophen werden Seher,
Vernunft wird - Geist.
Erfahrungswesen! Schaum und Dust!
Und mit dem Geist nicht ebenbürtig.
Gesteht! was man von je gewußt,
Es ist durchaus nicht wissenswürdig.
Nun bedarf es des Zeugnisses von Schiller und Goethe nicht, so
schwer es gegenüber genialer Windbeutelei in die Wage fällt. Jeder
Vernünftige, der in Kants Schule die eigenen Kräfte geübt hat,
vermag den Spuren des verirrten Genius nachzugehen, um in den Spinnweben
Einbildung und leere Spitzfindigkeit, Kette und Einschlag, zu erkennen.
Schellings Motto sollte für das Jahrhundert des Geistes"
aufbewahrt werden, nicht zuletzt für Schopenhauer*), der in allen gegen die
anderen Thronerben gerichteten Anklagen sich selbst verrät. Wo diese Übermenschen
an Kant Kritik üben, herrscht das Mißverständnis, noch mehr da,
wo sie scheinbar den Philosophen, im Grunde sich selbst loben.
Ihr müßtet Götter sein mit anschauendem
Verstand, die ins
*) Wie selbst das größere Publikum mit
philosophischen Phantasien behelligt wird, zeigt ein Blick in unsere Tages-,
Wochen- und Monatsschriften. Kant wird dabei mit ins Treffen geführt. Ein
Beispiel aus der letzten Zeit: Über Schopenhauers Leben und Lehre
sprach Universitätsprofessor Dr. G. Deussen in Kiel im Wissenschaftlichen
Zentralverein (Humboldt-Akademie) vor einer zahlreichen und aufmerksamen Hörerschaft.
Er feierte in eindrucksvollen, von künstlerischem Schwunge beflügelten
Worten die Philosophie Schopenhauers als die zu Ende gedachte Philosophie Kants
und Schopenhauer als den legitimen Thronerben Kants. Im ersten Teile des
Vortrags schilderte der Redner die Kantische Philosophie und deren Grenzen und führte
dann aus, wie das Ding an sich folgerecht zum metaphysischen Willen
Schopenhauers führe." Auf die Schlußfolge könnte man
gespannt sein, die aus dem tat-[7/8]
Jenseits führenden Probleme zu lösen, lehrt Kant. Wir
haben eine intellektuelle Anschauung, wir sind Götter, der Widerhall. Fürwahr,
ein wunderbarer Entwicklungsprozeß, bei dem die eingeschränkten
menschlichen Erkenntniskräfte sich in hirnverbrannte Phantasien verlieren.
Die Welt, sie war nicht, eh' ich sie erschuf;
Die Sonne führt' ich aus dem Meer herauf;
- - - - - - - - - - -
Wer, außer mir, entband euch aller Schranken
Philisterhaft einklemmender Gedanken?
Ich aber frei, wie mir's im Geiste spricht,
Verfolge froh mein innerliches Licht.
Original, fahr hin in deiner Pracht!
Die mystische Erleuchtung gehört dem Orakel; Philosophie
verlangt eindeutige Begriffe für jedermann, die das Tageslicht vertragen.
Welcher Entwicklungskünstler aber darf von den philisterhaft
einklemmenden Gedanken" Kants ableiten, was dieser selbst als den Tod
aller Philosophie" bezeichnete? Freilich wird diese Ableitung noch überboten,
wo die Geschichte der philosophischen Irrtümer dem einen lebendigen
Geist" aufgebürdet wird. Kant urteilt als Mensch, der seiner Vernunft
gewiß ist; mit Inspirierten hat er nichts gemein. Wie sollte entschieden
werden, ob die Inspirationen vom Vater der Lügen" oder vom Geiste
der Wahrheit" eingegeben sind? Menschen irren und fehlen, deshalb ist
wichtig, sich der Prinzipien der Wahrheit (der mißachteten Formeln")
bewußt zu werden, damit das Orakel verstumme.
Kants Urteil ist in feierlicher Erklärung gegen Fichtes
unhaltbare Spitzfindigkeiten, zugleich aber gegen alle diejenigen ausgesprochen,
die seine Werke nicht nach dem Buchstaben, sondern bequemerweise nach dem
Geiste" auslegen wollten.
Der alte gedankenlose Vergleich mit den Buchstabengläubigen,
mit der Orthodoxie, ist bis heute lebendig, ein sicheres Kennzeichen für
Verständnislosigkeit. Denn Kant wandte sich nicht an den Glauben und an die
Meinungen seiner Leser, nicht für Anhänger, für Schüler, die
er unter den Lehrern der Philosophie suchte, sind seine
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 7]sächlich Gegebenen
auf das Unerkennbare bestimmt sich zu erstrecken vermag. Die Grenzen der
kantischen Philosophie aber sehen so aus: Behauptet als Männer der
Wissenschaft nichts, was ihr nicht mit Einsicht vertreten könnt! Das
Kunststück metaphysischer Gaukelwerke kannte niemand besser als Kant,
dessen Grundgedanken von Schopenhauer nicht einmal zu Anfang, geschweige zu Ende
gedacht worden sind. Schopenhauer mißbraucht in jeder Zeile die Torheit
der Menschen, die durch den Aberwitz sich geschmeichelt fühlen. - In
derselben Zeitung wird soeben Hegel neu entdeckt". [8/9]
Werke bestimmt. Sie sind zur Lehre geschrieben, in der Kritik,
wie er selbst betont, sind die Worte mit äußerster Vorsicht oft nach
langer Überlegung gewählt. Kein Wunder, daß er sich energisch
ausbat (wie es jedes wissenschaftliche Werk beansprucht), nach dem B u c h s t a b e n"
und nicht nach einem Geiste", der nach eigenem Gefallen in jede
Schrift getragen werden kann, verstanden zu werden. Der Sinn, den andere in
meine Worte legen, geht mich nichts an, erklärt der Philosoph. Kants
feierliche Abwehr hält niemand zurück, die alten Schelt- und
Schlagworte zu wiederholen. Selbst an seinem 100jährigen Todestage schrieb
ein Kantianer", Otto Liebmann, in einer Festzeitung: Auf den G e i s t,
nicht auf den Buchstaben kommt es an, auf den Gehalt, nicht auf die Formeln."
Bei der Gefährlichkeit solcher Gemeinplätze mit einem Korn Wahrheit,
in denen Überredung sich gefällt, wird es nicht wundernehmen, wenn
selbst ein Schüler, ein Student schreiben durfte, daß er Kant besser
verstand als dieser sich selbst.
Wir haben in früheren Schriften eine Fülle typischer
Beispiele - von denen ein einziges ausreichen würde - dafür gegeben,
daß das Verständnis Kants mangelt, und zwar in jeder erdenklichen
Richtung, seine Absicht, seine Voraussetzungen, seine Methode, seine Resultate,
vor allem, was die Kritik d. r. V. von allen ähnlich
scheinenden Vorversuchen unterscheidet, alles liegt im Dunkel, so daß jede
Schrift, die ohne Einsicht geschrieben ist, sonst leicht vermeidbare Irrtümer
fördert, ein Zeitverlust für Verfasser und Leser. Bei dem Widerhall
der stereotypen Schelt- und Schlagworte lag eine öffentliche Durchmusterung
der gesamten modernen Literatur nahe, da der Hinweis auf den einfachsten,
sichersten, aber schwierigsten Weg, vor allem aber auf die völlige E i n d e u t i g k e i t
des schwer zu bemeisternden Buchs ohne Erfolg blieb, gerade als ob eine
Verpflichtung vorläge, über den unverstandenen Schriftsteller zu rätseln.
Von jener unliebsamen Arbeit, die zu fordern niemand berechtigt
ist, entbindet mich eine Preisaufgabe für Studierende in Marburg, der Hochburg
des Kantianismus". Sie lautet: Das Verhältnis von Anschauung und
Denken bei Kant soll untersucht und namentlich festgestellt werden, 1. ob
der Dualismus von reiner Anschauung und reinem Denken nach den Grundsätzen
der kritischen Philosophie haltbar ist; 2. ob in Kants eigenen
Untersuchungen und in dem Entwicklungsgang seiner systematischen Motive Ansätze
zu seiner Überwindung vorliegen." Diese Aufgabe allein rechtfertigt
alle Anklagen, die von mir erhoben sind, namentlich meine Behauptung, daß
in dem heutigen Streite die Gegner, Freunde [9/10] und Feinde der kantischen
Lehre, mit ihren eigenen Phantasien sich bekämpfen.
Die erste Frage ist identisch mit dieser: Sind die Grundsätze
der kritischen Philosophie mit den Grundsätzen der kritischen Philosophie
verträglich?" Denn dieser Dualismus" ist ihr wesentlich,
ihr Fundament, das punctum saliens; er unterscheidet sie, wie Kant selbst es bündig
erklärt, von allen früheren idealistischen Versuchen. Die Frage ist
somit: Ist die Kritik d. r. V. haltbar? und das heißt nicht
bloß, ob sie in ihren Prinzipien übereinstimmt, denn aus dieser
logischen Einheit allein würde die Haltbarkeit nicht folgen. Vielmehr
entscheidet hierüber, ob sie den Tatsachen, die jedem Vernünftigen zur
Kontrolle des Buches im eigenen Innern zur Verfügung stehen, gemäß
ist. Der Verfasser hat vielfach darauf hingewiesen, daß nicht der
Idealismus und nicht die Apriorität von Raum und Zeit, sondern die Stelle für
Kant charakteristisch ist, die er diesen Vorstellungen in der Sinnlichkeit
richtig bestimmt, denn seit den Eleaten beruht der Irrtum auf der Verwechslung
dieser formalen Anschauungen mit bloßen Begriffen. Hieraus entspringen
alle ihre Widersprüche, die in dem kantischen System sich auflösen,
alle Verkehrtheiten, wie sie seine Untersuchung der Reflexionsbegriffe aufdeckt.
Streit über diesen Punkt ist unmöglich; ohne Verständnis
seiner Bedeutung ist das ganze System des Buches, der Zusammenhang aller seiner
Teile und auch der mit der weiteren Arbeit des Philosophen im Dunkel.
Ausgeschlossen ist, daß bei Unklarheit über diese Grundfrage Kant
interpretiert werden könnte, wie überhaupt mit schwankenden Meinungen
eine Unterweisung in der Kritik, ihre Verteidigung oder Bekämpfung nicht möglich
ist. Ebenso ausgeschlossen ist, daß irgendein Philosoph, dem jener Dualismus"
und seine einleuchtende Wahrheit zum Bewußtsein gekommen ist, ihn jemals
wieder überwinden" könnte, soviel Einwürfe, soviel
Tadel, soviel schöne Epitheta ihm ob dieser Einsicht blühen. Mit jener
Ortsbestimmung und deutlichen Unterscheidung im Erkenntnisvermögen hat der
große Geograph der menschlichen Vernunft ihre Grenzen bestimmt, womit
zugleich alle Streitigkeiten, die die Metaphysik seit den Eleaten durch eine
erkennbare Täuschung beunruhigen, vollständig und wahrhaft aufgelöst
sind. Streitigkeiten, in die neuerdings bedeutende Mathematiker und
Naturforscher sich verwickelten, als sie über die Begriffe des Raumes und
der Zeit auch dann urteilen zu können glaubten, nachdem sie von den in
ihrer Sinnlichkeit gegebenen notwendigen Voraussetzungen abstrahiert hatten.
Ohne jenen Dualismus" hätte es bei der allgemeinen [10/11]
formalen Logik sein Bewenden haben müssen, die Kritik und ihre
Erkenntnisprinzipien wären fromme Wünsche geblieben.
Was der Entwicklungsgang systematischer Motive" in
der zweiten Frage bedeutet, ist nicht zu verstehen. Wo soll er gesucht werden?
In den Vorarbeiten wird niemand Ansätze" suchen dürfen, die
das in 20 Jahren ausgereifte Werk überwinden könnten. Kant hatte
sich durch sie über Leibniz, seinen Lehrer, erhoben, den er mit der
gewonnenen Einsicht rektifiziert. In dem Werke selbst findet sich ein Entwicklungsgang"
im Sinne der Frage nicht mehr; er hätte zu Irrtümern von Leibniz zurückgeführt.
Kant entwickelt nach einem deutlich erkennbaren, fertigen Plane Resultate, bei
denen auch von Ansätzen zu einer Überwindung" an keiner
einzigen Stelle die Rede sein kann; daß aber hier systematische
Motive" sich entwickelten, gibt keinen Gedanken, mit dem sich beim besten
Willen ein Sinn verbinden ließe. - Man verzeihe ein triviales Beispiel.
Die Feststellung einer sinnenfälligen Zweiheit (2 Augen, 2 Beine)
macht keine Schwierigkeit, sie ist ebensowenig zu überwinden wie jener Dualismus".
Die Feststellung von Erkenntnisprinzipien, die nicht im Verstande, sondern in
der Sinnlichkeit liegen, die Charakterisierung von Raum und Zeit als formale A n s c h a u u n g e n
im Gegensatz zu Begriffen des Verstandes stellt das Gleichgewicht in der
Metaphysik her, sie war schwieriger. So schwierig, daß sie bis zum
heutigen Tage weder nach ihrem Zwecke noch nach den Beweisgründen, am
wenigsten nach dem so einleuchtenden Ergebnis verstanden ist. D e r
Mann konnte sie zu allerletzt überwinden", dem es durch diese
Feststellung gelang, die Täuschung der dogmatischen Metaphysik im Gegensatz
zur Wahrheit der Mathematik für alle Zeiten aufzudecken.
Bei den abschreckenden Beispielen des 19. Jahrhunderts in
den verschiedenen Spielarten läßt sich von einer Überwindung"
noch weniger sprechen, da sich mit Gründen eine Lehre nur dann überwinden
läßt, wenn ihr Begriff verstanden ist. Es handelt sich in allen Fällen
um eine Unterdrückung durch dieselben Irrtümer, die Kant aufgedeckt
hatte, ein Vorwurf, der nicht bloß in jener Fundamentalfrage, sondern ganz
allgemein zu vertreten ist. Warnt Kant vor unsinnigen Annahmen, so findet sich
sicherlich ein Nachfolger, der sie als nagelneue Weisheit entdeckt".
So bekunden Fichtes Wissenschaftslehre", Hegels Lehre vom
Widerspruch, Schellings gegen Kant gerichtete Kritik, nicht anders die
Schopenhauers, wenn wir von der modernen, die immer seichter wird, schweigen,
mit Sicherheit, daß sie die Grundgedanken Kants, namentlich aber die
Legalität seiner Methode nicht erfaßt haben. Dabei [11/12] sah ein
jeder dieser Männer in Kant den Vorgänger, der um seinetwillen von der
Vorsehung geschaffen war. Bei den Neueren herrscht ganz allgemein das Vorurteil,
daß die Selbständigkeit eigenes Beiwerk auch da erfordere, wo wahre
Einsicht in gewisser Weise abgeschlossen hat. Die Philosophie scheint ihnen auf
einem toten Strang, der Jugend wird Kritik" empfohlen, die vor dem
Verständnis nur zur Selbsttäuschung, wo nicht zu Schlimmerem führen
kann. Von der kantischen Kritik der reinen Vernunft" ist indessen
bisher auch nicht der Titel verstanden, was übertrieben klingt, aber sich
leicht erklärt. Der Begriff der Vernunft, wie ihn Aristoteles und die
Schriftsteller zu Kants Zeit (Lambert, Euler, auch Hume) besaßen, ist völlig
geschwunden.
Welchen Wert verspricht sich die philosophische Fakultät in
Marburg von Nachforschungen, die dem Schüler nahelegen, in die Kritik d. r. V.
hineinzulesen, was darin nicht steht und nicht stehen kann?*) Mit demselben
Rechte ließen sich bei Kopernikus Ansätze zur Überwindung seiner
Auffassung vom Weltgebäude suchen. Aus der Aufgabe folgt, daß in
Marburg so wenig als an anderen Orten kantische Lehre vertreten ist.
Wer wissenschaftliche Behandlung, wer die eigene Arbeit ernst
nimmt, wird auch Kant ernst nehmen. Der wird vor allem nach dem Mittel fragen,
aus dem Labyrinthe von Mißverständnissen - die tausend Meinungen
waren doch nicht in s e i n e m Haupte - wieder auf
gesicherte Bahn zu kommen. Nun existieren richtige Wegweiser, wie Kant selbst es
bezeugt. Die Autoren, denen sie verdankt sind, wurden in jener verkehrten Welt
verspottet; sie werden es nach dem berühmten Muster noch heute. Ein
Beispiel. Im Jahre 1825 starb zu Magdeburg George Samuel Albert Mellin. Im
Nekrologe der Magd. Zeitung steht damals, d a ß e r
v o n d e m K ö n i g s b e r g e r
P h i l o s o p h e n a l s
d e r j e n i g e a n e r k a n n t
w u r d e, d e r s e i n e n
S i n n a m t i e f s t e n
d u r c h d r u n g e n
u n d a m k l ä r e s t e n
d a r g e s t e l l t h a b e",
ein Urteil, das durch einen Brief aus der nächsten Umgebung Kants bestätigt
wird. Als bescheidenes Verdienst rechne ich mir zu, den Wert
*) Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die
Metaphysik seit Hegels und Herbarts Zeiten in Deutschland gemacht hat?"
fragt eine Preisaufgabe, die unter Kants Flagge in Halle allgemein gestellt ist.
Es sollen also Wirkliche" Fortschritte gesucht werden. Lakonisch heißt
es in einer der regelmäßig wiederkehrenden Zeitungsnotizen: Die
Preisbewerbung . . . . . hat ein negatives Resultat gehabt". Damit
ist die Frage wirklich" beantwortet. - Wir erwähnen sie, weil in
ihr ein Stand der Einsicht lediglich affektiert wird. Was aber hat Kants Name
mit jenem merkwürdigen Betriebe zu schaffen? Warum begnügt man sich
nicht mit dem eignen? [12/13]
dieses Schriftstellers und seines Enzyklopäd. Wörterbuchs
der kr. Philosophie" richtig eingeschätzt zu haben. Bevor mir Kants
Urteil vermittelt war, hatte ich darüber geschrieben: Ich kenne, was
das Verständnis der Vernunftkritik angeht, kein nachkantisches Werk, das
sich mit jenem Wörterbuch vergleichen ließe."
Im Jahre 1910 lesen wir in einer Kritik der Magdeburgischen
Zeitung (Nr. 448) von diesem Werke, daß es eine treffliche philologische"
Leistung sei, aber weit davon entfernt, eine Lösung der sachlichen"
Schwierigkeiten des Systems zu enthalten. Der Rezensent hat den Mut, dieser echt
philosophischen Leistung eines selbständigen Denkers, der Kant zur Seite
gestellt zu werden verdient, die kritische Kantforschung der - Kantstudien
entgegenzuhalten, die noch nicht in blindem Autoritätsglauben"
erstarrt sei, auch das sklavische Nachbeten" (das als Arbeit schwerer
ist als jene kritische Forschung") darf im Zusammenhange mit diesen
Gedanken als Vorwurf erscheinen.
Nun ist der Unterschied: Mellin besaß das Verständnis,
während die Kantstudien es auf Irrwegen, tastend noch suchen; sie wollen
erst in der Kritik philosophieren lernen", während jener Mann
nach eigenem Nachdenken sie als widerspruchslos in ihrer objektiven Wahrheit
erkennen und lehren konnte, um eine Vernunfterkenntnis der kritischen
Philosophie zu befördern. Derselbe Mann hat mit wahrhafter Kritik schon in
jener Zeit die Fehler der nachkantischen, völlig verblendeten Spekulation
aufgedeckt, die wie andere menschliche Verirrungen nur ein bedauerliches
Schauspiel bieten. Eine verkehrte Welt aber, wenn man unsere Seeleute hieße,
Amerika immer von neuem zu entdecken, und die vorhandenen Hilfsmittel, Karten
und Globen, durch den Hinweis auf Autoritätsglauben diskreditierte. Konnte
es denn für das Verständnis seiner Arbeit einen sachverständigeren
Begutachter als den Autor selbst geben?
Daß sich in Magdeburg, wo Mellin als Seelsorger und im
Gemeinwesen hochverdienter Bürger, vor allem als mutiger Verfechter der
Wahrheit, als echter Philosoph von erstaunlichem Scharfsinn und dabei von außerordentlicher
Gelehrsamkeit ein Denkmal verdiente, kein Mann fand, jenes Urteil zu entkräften,
ist zu bedauern; dem Rezensenten läßt sich kein Vorwurf machen, da er
nur nachspricht, was auf die Autorität seiner Lehrer gutgläubig
hingenommen ist. Die Schwierigkeiten, die ihm Mellin nicht löst - er hat
vermutlich die starken 12 Bände daraufhin durchstudiert - erklären
sich leicht durch den Unterricht, den er in der Philosophie genossen hat - an
ihm ist er unschuldig. Wird doch derselbe [13/14] Mellin in der Kantausgabe der
Berliner Akademie, die dereinst den heutigen Tiefstand philosophischer Einsicht
bekunden wird, zu den Geistern" gezählt, die das Verständnis
des Einzelnen nicht aus dem Ganzen, sondern durch Vergleiche mit anderem
Einzelnen suchten". Kant, der hierüber vielleicht kein Urteil hatte,
auch über die Beurteilung en gros", mag in seiner unfaßlichen
Verblendung, in Mellin ein Zeugnis dafür gesehen haben, daß in
Deutschland der Geist der Gründlichkeit, Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe,
d. h. der Geist sokratischer Philosophie noch nicht erloschen war. Wenige Männer
seiner Art würden die deutsche Philosophie vor einer Episode bewahrt haben,
in der Ehrgeiz, Eitelkeit und Neid die Haupttriebfedern bildeten. Mellins
Einsicht in allen philosophischen Fragen ist bis heute von keinem Denker wieder
erreicht worden.
Wir wenden uns mit vorstehenden Ausführungen an die Lehrer
der Philosophie nicht im eigenen, sondern im Interesse der Schule in allen ihren
Anstalten. Aller Fortschritt hängt naturgemäß von dieser ökonomischen
Einrichtung der menschlichen Vernunft ab, die wahren Besitz der Zukunft
vermittelt und ihr sorgsam erhält, was als wertvoll erkannt wird. Die
Schule soll verhüten, daß die Menschheit immer wieder von vorn anfängt.
Auf bloße Autorität hin läßt sich vieles als richtig
annehmen, und es gab wohl kaum eine Zeit, in der die Autorität, das
Sachverständnis, so oft auch in selbstverständlichsten Fragen
angerufen worden ist, als die unsere. Philosophisches Schrifttum von heute erhält
sich ebenso wie der Unterricht nur durch treuherzigen Autoritätsglauben,
nicht durch zwingende Wahrheit. Kant kann, da er systematisch und mit vollständiger
Begründung auftritt, bei der seine Person zurücksteht, auf jegliche
Autorität verzichten. Von mir selbst schweige ich," ist dem
Hauptwerke vorgedruckt, das keine Meinungen, sondern Wahrheit für alle
lehrt. War er der große Mann, als der er gepriesen wird, so lag es an der
Weite der Maschen, wenn seine Lebensarbeit durch das Sieb, fiel. Da muß für
feinere Siebe Sorge getragen werden. Das Geräusch unserer Tage kann die
Arbeit nicht ersetzen, der sich der Denker im stillen unterzieht; laute, überlaute
Propaganda hat sein Andenken nicht verdient und seine bescheidene Weise nicht
verschuldet. Sie dient zu allerletzt seiner Lehre.
Wenn heute Ocellus von Lukanien, der Monist vor Jahrtausenden,
Swedenborg und Jakob Böhme mit ihren theosophischen Grillen, an denen
wahrer Glaube kein Interesse hat, und, wie nicht zu verwundern, Pyrrho von Elis
mit ihnen zugleich erwachen, wenn die ganze Reihe philosophischer Versuche - der
kommt von [14/15] Spinoza", der von Hume, der von . . . -
in Zerrbildern von neuem vor unserem Auge ausgebreitet werden, so ist es an der
Zeit, sich wieder zu erinnern, daß nicht die Geschichte der Philosophie
die Leitung gibt, sondern der Philosophie selbst nachzustreben ist, deren wahrer
Idee bis zu dieser Stunde kein lehrender Philosoph näher war als Immanuel
Kant. Womit keinem Manne zu nahe getreten wird, der ohne seine Formeln"
weise und gerecht gelebt hat, denn das heißt es, daß es nicht auf
die Formeln ankomme. Kant befreit die Philosophie von der Geschichte ihrer Irrtümer,
er hebt das Parteiwesen auf, indem er nicht eklektisch, sondern durch Prüfung
der Vernunft die Quelle der Streitigkeiten in dem Gemüte eines jeden
denkenden Menschen aufdeckt. Ein jeder streitet mit sich selbst, ein Konflikt,
der mit der Einsicht in seine Gründe behoben ist. Schulgemäße
Philosophie aber bedarf der Kontrolle und Zügelung des Systems, ohne das
Unterweisung in keinem Lehrfach zu denken ist. Ober Kant bloß zu reden,
ist ebenso ungereimt, als Vorträge der Mathematiker über Euler und Gauß
an Stelle ihrer Lehren es wären. Der große Denker hat nicht Einfälle
niedergeschrieben, sondern Lehren zum G e b r a u c h,
der allerdings die lebendige Gegenwart", vor allem tausend
fruchtlose Streitigkeiten und bei kontinuierlichem Unterricht Erscheinungen verhütet
haben würde, die nun unter dem Namen Geschichte der Philosophie des
19. Jahrhunderts", der letzten 50, 25, 10 . . . .
Jahre und als Philosophie von heute registriert und besonders gelehrt werden,
ein barer Zeitverlust, vor dem nur zweckmäßiger Unterricht bewahren
kann. Die Verhältnisse sind unhaltbar geworden. Es ist an der Zeit: W a c h e t
a u f!
Wir wenden uns nunmehr an alle die hohen Stellen, bei denen die
oberste Leitung aller Unterrichtsanstalten, namentlich der Hochschulen, liegt,
indem wir sie bitten, dem philosophischen Unterricht im Sinne unserer Ausführungen
besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Bedarf dieser Anruf der Rechtfertigung, so
weise ich darauf hin, daß dem freien Bewerb um die Zustimmung eines
wissenschaftlichen, in schier unausrottbaren Vorurteilen befangenen Publikums
Schranken gesetzt sind. Der Begriff einer Einsicht, die Kant in vielen Fragen
bei seinen Vorgängern fand und dankbar anerkannte, ist ebenso wie das Bewußtsein
literarischer Verantwortung verloren gegangen. Wer die Einsicht wiedergewinnt,
sieht mit Pein auf die verkehrte Behandlung einer großen Zeit, der Blüte
deutscher Literatur, die in der philosophischen Ausbildung unverkennbar ihre
Wurzeln hat. Das Verständnis Kants schneidet von der gesamten heutigen
Literatur ab, die in allen prinzipiellen Fragen tief [15/16] unter dem 18. Jahrhundert
steht. Sie bietet ein Bild logischer Verwilderung, das in der Vergangenheit kein
Analogon hat. Der Mangel einer einheitlichen Terminologie, eine babylonische
Sprachverwirrung läßt bei dem zentrifugalen Betrieb philosophischer
Vorträge und Schriften (ohne Ausgangspunkt und Ziel) die Verständigung
über elementare Fragen ausgeschlossen erscheinen.
Wir entfernen uns auch nicht von den Intentionen des großen
Denkers, dem Freiheit der Wissenschaft, Freiheit der öffentlichen
wissenschaftlichen Rede, Kritik und Lehre am Herzen lag. Denn Immanuel Kant hat
selbst die Kritik d. r. V. dem preußischen Kultusminister
von Zedlitz gewidmet und seinem Schutze und Augenmerke anbefohlen, was hiermit
lediglich in Erinnerung gebracht wird. Die Philosophie hat keinerlei Anspruch
auf eine Sonderstellung, keinerlei Vorrechte vor anderen Wissenschaften; eine
wie die andere unterliegt der öffentlichen Kritik, die sie mit den
gegebenen Tatsachen vergleichen darf. Bei keiner Wissenschaft darf es sich um
Partei-, Personen- oder gar Standesfragen handeln, zuletzt in der Philosophie,
die nicht von der Verantwortung entbindet, sondern sie auferlegt. Anarchie ist
das letzte, was ihrer Würde entspricht.
Der philosophische Unterricht bedarf dringend der Reform, heute überwuchern
historische und psychologische Vorlesungen und Studien die vornehmste Aufgabe
des Philosophen, die Metaphysik, die nichts anderes ist und sein kann als eine
Lehre von den Grundbegriffen und Grundsätzen der erkennenden und handelnden
menschlichen Vernunft, eine Schutzwehr gegen die Verwüstungen, die
eine gesetzlose spekulative Vernunft sonst ganz unfehlbar, in Moral sowohl als
Religion, anrichten würde". Daß die Metaphysik als bloße
Spekulation mehr dazu dient, Irrtümer abzuhalten, als Erkenntnis zu
erweitern, tut ihrem Werte keinen Abbruch, sondern gibt ihr vielmehr Würde
und Ansehen durch das Zensoramt, welches die allgemeine Ordnung und Eintracht,
ja den Wohlstand des wissenschaftlichen gemeinen Wesens sichert und dessen
mutige und fruchtbare Bearbeitungen abhält, sich nicht von dem Hauptzwecke,
der allgemeinen Glückseligkeit, zu entfernen".
Kann die Philosophie unserer Tage einen Vergleich ihrer
Wirksamkeit mit dieser einfachen, würdigen Erklärung des großen
Denkers ertragen? Wo ist denn die allgemeine Ordnung und Eintracht"?
Sind Männer von kantischer Bedeutung so häufig, daß es
verstattet werden kann, an die Stelle der von ihm festbegründeten Lehren
kritiklose und unreife Einfälle, wertlose Surrogate zu setzen? Welche
Selbsteinschätzung der Philosophen, wenn sie bei dem Denker, den sie
preisen, nichts als Selbsttäuschung und Widersprüche [16/17] finden ?
Bei demselben Manne, der sich die strengsten Anforderungen selbst auferlegte.
Der große Mann beendete seine Denkerarbeit durch sein
System, die erste und bis dahin einzige lehrhafte Metaphysik, das Ergebnis
seines Lebens; die Nachfolger in der Zeit, nicht in der Arbeit fingen mit
Systemen an, bis an die neueste Zeit, ein jeder lehrt im eigensten Entzücken"
sich selbst, seine Phantasien, kein Wunder, daß dem Schüler die
Lehren der Vergangenheit vorenthalten und bei der vernunftlosen Mannigfaltigkeit
sich widersprechender Meinungen die Gedanken so verwirrt werden, daß er
das Besserwissen für Kritik hält, womit ein Ansehen gewonnen werden
kann. Wir haben Dissertationen, namentlich über Kant, gelesen, die alle wie
nach einem Schema mit einer Bewunderung Kants anheben, um dann, wie die
Schriften ihrer Lehrer, mit vielen eingestreuten Zitaten von diesen, zu
bekunden, wie alle seine Begriffe und Prinzipien zu verbessern sind; in keiner
einzigen war aber auch nur ein Schein des Bewußtseins zu verspüren,
welche Aufgabe Kant sich gestellt hatte.
Die Jugend hat ein Recht, hierüber belehrt, vor allem in
ihrer Zeit geschont und vor tausend müßigen Fragen behütet, d. h.
mit den blanken Waffen der Kritik ausgerüstet zu werden. Dem Verfasser hat
es unsägliche Mühe gekostet, sich von den erlernten Vorurteilen wieder
freizumachen. Als er sich dem Studium Kants unterzogen hatte, erhielt er von
einem Lehrer der Philosophie das Zeugnis: Kantstudium, keine Kantkritik.
Kantstudium, bis kein anderer Gedanke mehr Eingang in den Kopf findet; wer sich
so trainiert hat, dem muß natürlich jede Abweichung vom Kanon als
Irrtum oder als Mißverständnis erscheinen." Dies Zeugnis enthält
Richtiges und besagt: Wenn die Sache ernst genommen wird, dann freilich . . . .
Nur sah der Urheber nicht den ganzen Gewinn des gründlichen Studiums. Schon
an wenigen Zeilen eines philosophischen Autors, häufig schon am Buchtitel läßt
sich erkennen, daß sich eine Lektüre seiner Schrift und also
Zeitverbrauch ohne Einbuße neuer Einsicht ersparen läßt.
Die Freiheit der Forschung! Wer nähme an ihr kein
Interesse? Es mag gewiß sein, daß Irrpfade nicht zu vermeiden sind,
aber wer wollte sie mit der Freiheit, Irrtümer und Mißverständnisse
künstlich hervorzurufen, zu verteidigen und zu erhalten, auf eine Stufe
stellen?
Hier existiert seit mehr als einem Jahrhundert ein Buch, um
dessen Gedanken die Philosophen herumirren. Es enthält einen Schatz von
Weisheit; wieviel Jahrhunderte soll die Menschheit noch warten, bis es zur Lehre
reif und seinem Zwecke gerecht [17/18] wird? So fest sein Verfasser vertrat, daß
keine wahrhafte Forschung dem Interesse der Menschheit auf dem Gebiete der
Religion widerstreiten könne, so sicher und bestimmt trat er dem Monopol
der Personen, vor allem aber der leichtfertigen sophistischen Rede, der bloßen
Überredung entgegen. Wahre Forschung bedarf keines Monopols, aber sie darf
sich der Unterdrückung erwehren. Wäre diese Unterdrückung ein
Zeichen freier Gesinnung? Von ihr war in dem Kampfe gegen Mißverständnisse
und Vorurteile wenig zu verspüren, am wenigsten dort, wo angeblich die
kantische Fahne getragen wird. Wenn wir uns an die obersten Leitungen der
Unterrichtsangelegenheiten wenden, so liegen die seltsamen, unhaltbaren Zustände
in der Philosophie vor deren Augen, und jedermann wird einsehen, daß ein
in alle Ewigkeit fortgesetzter Streit um dieselben Fragen, vor allem um ein
Buch, das eindeutige Wahrheit zu enthalten vorgibt, sinnlos ist. Hier ist auch
das Sachverständnis philosophischer Berater nicht nötig, zumal es eben
die Sachverständigen sind, gegen die unsere so vielfach begründeten
Beschwerden sich richten. Die heutige Verwirrung kann niemand gutheißen,
auch nicht mit dem allgemein menschlichen Irrtum entschuldigen, weil sie durch
zweckmäßige Arbeit zu beheben ist.
Freiheit der Forschung ist von einer Willkür verschieden,
die sich an kein Gebot bindet, auch in solchen Fragen, wo der Lehrer zum Schüler,
der Schriftsteller zum Publikum redet. Seit Jahren ist von dem Verfasser mit
eindringlicher Begründung vor der bisherigen Behandlung der kritischen
Werke Kants gewarnt worden, seine Schriften sind im Kreise der Philosophen
gelesen und, wie von ihm leicht bemerkt, auch still benutzt, ihre Worte sind
sogar von philosophischer Mimikry nachgesprochen worden, allein er hat von
keiner Seite ein Bekenntnis des Irrtums und keine Warnung an die Jugend laut
werden hören, sich der Beurteilung kritischer Schriften wenigstens so lange
zu enthalten, bis sie von den Lehrern der Philosophie verstanden seien. *) Kein
Leser der Kritik" kann
*) Während der Niederschrift kommt mir ein Referat des
Theologen Troeltsch in Heidelberg über meine Kritischen Aufsätze"
vor Augen, das so anhebt: Gesammelte Aufsätze und Besprechungen, die
den Standpunkt der Kantorthodoxie gegen die kritischen Freidenker, und gegen die
nachkantischen Metaphysiker vertreten, d. h. die ein Kantverständnis
im Sinne der Kant zeitgenössischen und ihn verstehenden Aufklärung
gegen die modernen Fortbildungen und Bestrebungen des Kritizismus verfechten."
Der Referent unterscheidet also verschiedene Arten des Verständnisses, während
wir nur eins kennen, das vor den Fortbildungen" und Bestrebungen
des Kritizismus" erworben sein müßte. Das Kantverständnis
im Sinne" der (ihn nicht verstehenden) Fortbildungen" ist eben
keins. - Dem Referenten würde ich sehr dankbar sein, wenn er eine Tatsache
aus der modernen Psychologie", [18/19]
sich darüber täuschen, ob er sie nur buchstabieren
oder lesen kann, ob er mit dem Philosophen zugleich denkt, oder ob er nur seine
Worte vor Augen hat. Bedrückend ist, daß keiner von den Kritikern das
Bewußtsein des Verständnisses haben konnte, denn das stellt sich
entweder nicht oder nur mit Sicherheit ein.
Wir handeln im Sinne des großen Philosophen, wenn wir vor
allem anderen mit seinen Worten einen g r ü n d l i c h e n
U n t e r r i c h t i n d e r
K r i t i k d e r r e i n e n
V e r n u n f t" fordern. Das ist eine
zwingende Notwendigkeit, in unserer Zeit mehr als vor 100 Jahren, um die Jugend
mit den Waffen der Vernunft gegen die Scheingründe auszurüsten, die
bei gesteigerter Publizität ihre gute Überzeugung bedrohen. Jener
Unterricht ist das einzige Mittel, die Verwüstungen zu verhüten, die
anmaßliche Behauptungen in den jugendlichen Köpfen anrichten. Dabei
darf jenes Hauptwerk nicht beliebiger, willkürlicher Interpretation
anheimfallen - ein selbstverständlicher Anspruch, dem nirgends genügt
wird.
Solange der Jugend von autoritativer Seite sich widerstreitende
Auffassungen, die bei dem eindeutigen Charakter jener Lehren vermeidbar sind,
geboten werden, wäre das Heilmittel schlimmer als das Übel; die
Verwirrung wird um so größer, je bündiger Kant die Wahrheit
seiner Lehren behauptet. Wenn die alten Metaphysiker stritten, so war es
angesichts täuschender Probleme verzeihlich - der Streit um ein Buch mit
eindeutigen Gedanken ist sinnlos. Es ist keine Beeinträchtigung der
Freiheit, sondern eine frei zu befolgende, wahrer Wissenschaft entsprechende
Pflicht, daß das Buch nur in dem Sinne aufgefaßt werden darf, der
ihm von dem Urheber verliehen worden ist, daß der Lehrer nur Gedanken als
kantische ausgeben darf, die er wirklich sein nennen würde. Jenen Sinn zu
ergründen, ist wichtiger als alle die nichtigen Probleme, die wir täglich
an unseren Augen vorüberziehen sehen; das Verständnis würde
notwendig die Philosophie wieder auf die Bahn ernster Arbeit an Stelle des
Spiels führen - ihr Wert würde nicht von den Philosophen allein
gepriesen, sondern von anderen Wissenschaften wie ehemals als berechtigt
anerkannt werden, was heute sichtlich der Fall nicht ist. Keine Wissenschaft
kann sie entbehren; die heutige Abkehr ist nur durch den Wirrwarr geboten. Gegen
die Bedeutung
[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 18] aus der Mathematik
und Physik", schließlich aus der Geschichtswissenschaft"
anzugeben vermochte, die die Vernunftkritik widerlegen könnte. Mit den recht
schwierigen Fragen" dieser Wissenschaften, die er mir allgemein entgegenhält,
beschäftigt sich dies Buch nicht, das aber wohl verhüten kann,
unbesonnene Fragen aufzuwerfen, die kein Mensch beantworten kann. Kant hat
solche Fragen drastisch genug gekennzeichnet. [19/20]
der heutigen Philosophie spricht nichts so sehr als die schnelle
und reiche" Produktion von Schriften, die wie Pilze für ihr
Eintagsleben aus dem Boden emporsprießen, vor allem aber die Tatsache, daß
Männer in ihr Gebiet eindringen können, denen Philosophie überhaupt
völlig fremd ist.
Unsere Zustände finden eine sehr einfache Erklärung.
In dem abgelaufenen Jahrhundert sind die von Kant anerkannten philosophischen
Voraussetzungen und Methoden, die niemals veralten - es gibt keine moderne"
Logik und keine moderne Vernunft -, aus dem Bewußtsein geschwunden; er
konnte sich an Leser wenden, die in der Abstraktion schon vorher geschult waren.
Wenn aber damals namhafte Philosophen, die mit Kant die Schulung gemein hatten,
bescheiden und aufrichtig das Bekenntnis ablegten, sie hätten die Kritik
nicht verstanden, woher sollte die heutige Erleuchtung kommen? Etwa von der
erschrecklichen Großzügigkeit", die die Welt und jenes
Buch mit einem Blicke überfliegt?
Ich bekenne aufrichtig, daß ich selbst alle Stadien des
heutigen Kantlesers durchlaufen habe, und erinnere mich des Erstaunens, mit dem
der Student die kaleidoskopischen Bilder der Vorlesungen aufnahm, ein Erstaunen,
das nur durch den Einblick in die literarischen Zustände überboten
ist. Weil ich diese Irrfahrten kenne, leitet mich der Wunsch, daß der
Jugend richtige Wege für das Verständnis gebahnt werden. Das kann nur
durch Vorlesungen geschehen, die nicht bruchstückweise und überfliegend,
sondern in systematischem Gange darbieten, was Kant zur Lehre gegeben hat. Darin
liegt keine Beeinträchtigung freier Kritik, sondern eine gerechte
Forderung: erst muß die Lehre, und nicht bloß in Buchstabierübungen,
zum Worte kommen, ehe sie abgeurteilt wird. Wenn Kant die Bedeutung zukommt, die
ihm allerorten zugesprochen wird, so kann sich niemand über diese von uns
schon früher geltend gemachte Forderung beklagen.
Das erste Resultat einer solchen Einrichtung würde sein, daß
der Lehrer jenen systematischen Gang selbst beherrschen lernt und erkennen wird,
daß schon der historische Bericht, der immer so systematisch sein kann,
wie er ursprünglich geboten ward (also was man bisher als Nachbeten
bezeichnet hat), viel schwieriger ist als die sogenannte kritische Behandlung
aus freier Hand, so schwer nämlich wie die Unterweisung in vorhandenen
Lehren in jeder anderen Wissenschaft. Denn in keinem anderen Gebiete ist es möglich,
daß alle Irrtümer des geschichtlichen Verlaufs als gleichberechtigt
nebeneinander gelehrt werden dürfen, und daß der Lehrer sich über
tatsächliche Fortschritte und Einsichten [20/21] hinwegsetzt. Wer solche
Vorlesungen hält, dem müssen die Augen sich öffnen, er muß
sich nach dem Zwecke der gebotenen Deduktionen selbst umtun. Er wird arbeiten müssen.
Verbessern kann er erst, wenn er weiß, um was Kant sich bemüht.
Der in der Sache gegebene Unterschied fordert in der Philosophie
verdoppelte Anstrengungen; kein von Kant erörterter Begriff, kein einzelnes
Kapitel seiner Lehren kann für sich allein beurteilt werden, eben weil ein
jeder Gedanke nur im Zusammenhange des Systems verständlich ist, sonst
droht die Gefahr, daß - im Gleichnis - Sonne und Mond verwechselt werden.
In den meisten Beurteilungen Kants und namentlich in den letzten Jahrzehnten war
das fast immer der Fall, da die Philosophen, um nur ein Beispiel zu nennen,
Gesetze, Prinzipien nicht von dem besonderen Falle der Anwendung unterscheiden
gelernt haben. Sie bestreiten daher zuweilen Gedanken und Vorschriften, die
ihnen leer erscheinen und unnütz, weil sie nicht zugleich die Erkenntnis
des Besonderen oder besondere Vorschriften enthalten, womit sie unbewußt
die eigentlichen, vornehmsten Aufgaben der Philosophie preisgeben.
Wie sehr es der Jugend zustatten kommen würde, wenn der
Unterricht durch jenen Vorschlag unter Ausstoßung zweckloser Vorlesungen
erfolgte, die zeitraubend und von keinerlei Belehrung sind, überlasse ich
dem Leser selbst zu beurteilen.
Wir betrachten diese Ausführungen als Pflicht und
Dankesschuld für die Klarheit, die Kants Schriften über den ganzen
Verlauf philosophischer und namentlich metaphysischer Anstrengungen dem Blicke
des Schülers vermittelt haben. über den scheinbaren Verlust wird sich
kein ernster Philosoph beklagen, dem es um Wahrheit zu tun ist; die Erzeugnisse
des 19. Jahrhunderts lohnen keine literarische Untersuchung, sie lohnen
kein Studium. Dem Andenken Kants widerfährt nur Gerechtigkeit, wenn die Mühen
wiederholt werden, die er sich für die Nachwelt auferlegte. Wir berufen uns
nicht auf persönliche, sondern auf Gründe des Wohlstands des
wissenschaftlichen gemeinen Wesen" ebenso wie der allgemeinen Wohlfahrt,
wenn wir nach schwer, aber sicher erreichtem Verständnis als Sachwalter für
jenen Mann und seine Werke auftreten, an denen die Menschheit ein Interesse hat.
Auf Grund eines Studiums, dessen Mühen von dem Verdacht der
Anmaßung freisprechen, auf Grund eigenen Nachdenkens, das für das
Studium unerläßlich, behaupte und vertrete ich die nachfolgenden Sätze,
die sich auf die Kritik d. r. V. beziehen, von deren Verständnis
die Beurteilung der gesamten [21/22] späteren Arbeit Immanuel Kants abhängt.
Diese Sätze bin ich imstande ohne sophistische Mittel, ohne die Position
der Gegner, deren Schwäche und deren Hin- und Herschwanken ich kenne, mir
zunutze zu machen, mit jedermann einleuchtenden Gründen zu erhärten.
Wie schon oft betont, liegt es nicht in meinem Sinne, eine Zustimmung zu den
kantischen Ausführungen durch Überredung zu erwirken; nur sollen die
voreiligen Urteile zurückgehalten werden, damit gründliches Studium in
der Stille und sachgemäßer Unterricht wieder gutmachen, was die
vorzeitig an die Öffentlichkeit getragenen Studien, Kritiken, namentlich
aber wertlose populäre Darstellungen, ein stilisierter Kant in geputzter
Seichtigkeit" und eine allgemeine, bis dahin unerhörte Oberflächlichkeit
der philosophischen Einsicht geschadet haben. Im Interesse der Jugend befürworte
ich eine völlige Umgestaltung des akademischen Unterrichts in der
Philosophie, damit der Schüler in den einfachsten Fragen der
Selbsterkenntnis wie in der Beurteilung der in lebender Sprache geschriebenen
Werke von dem Orte seines Studiums, von der Nummer des Auditoriums ebenso unabhängig
werde wie von den beständig wechselnden Meinungen des Lehrers, der seiner
Auffassung niemals sicher ist. Nur durch diese dem Kundigen leicht bemerkbaren
Schwankungen werden die Phantasien erklärt, die sich mit den
Entwicklungsphasen Kants beschäftigen. Wissenschaftliche Kontroversen
werden gewiß bleiben, allein keine Wissenschaft ist denkbar, die nur auf
die Erhaltung von müßigen Streitigkeiten sich richtet, zuletzt in
Fragen der reinen Vernunft, die eines Abschlusses und höchstens besserer
Darstellung fähig sind. Wir behaupten also:
1. Die Kritik d. r. V. hält alle
Versprechungen, die von ihrem Urheber in bündigster Form gemacht worden
sind. Sie hat in der Zeit nach ihrem Erscheinen eine Reihe von wertvollen
Zustimmungen und verständnisvolle Nachfolge aufzuweisen. Dies Verständnis
ist noch von Kant selbst als dem kompetentesten Beurteiler bezeugt worden. Diese
Zustimmung gründete sich auf Anstrengungen, die sich heute niemand zumutet,
und ging von Männern aus, die in der Metaphysik heimisch und also besser
als wir für das Studium vorbereitet waren. Das Urteil über diese Männer,
als wären sie beschränkte Nachbeter gewesen, ist grundfalsch.
2. Die Widerlegungen" der Kritik d. r. V.
in alter und neuer Zeit beschäftigen sich nicht mit den Gedanken, Begriffen
und Ergebnissen dieses Buches, sie treffen eine Zielscheibe, die nach einem
alten Gebrauche nur im Hirn der Autoren vorhanden war. Alle erdenklichen Einwürfe
sind als Mißverständnisse schon vor [22/23] einem Jahrhundert bündig
widerlegt und richtig gekennzeichnet. Der Vorwurf der Gegner, daß die
Verteidiger immer nur von Mißverständnissen redeten, hat diesen in
den Augen Unkundiger geschadet. Sie haben aber diese Mißverständnisse
streng nachgewiesen.
3. Die Kritik d. r. V. ist eine vollkommen
artikulierte Wissenschaft, hergestellt von einem Meister der Vernunftkunst und
zur Lehre bereit, die sich lediglich mit Tatsachen beschäftigt und diesen
Tatsachen entspricht. Mit früheren metaphysischen Versuchen ist sie nicht
in Parallele zu stellen, weil sie, über ihnen stehend, durch allgemeine
Untersuchung über alle in der Metaphysik möglichen Fragen, die in der
menschlichen Vernunft entspringen, die völlig einleuchtende Entscheidung an
die Hand gibt. Sie kann auch von keiner Psychologie, keiner Physik, auch nicht
von der Mathematik widerlegt werden, da sie sich nur mit deren notwendigen
Voraussetzungen, nicht aber mit psychologischen, physikalischen oder
mathematischen Behauptungen beschäftigt.
4. Die Kritik d. r. V. zeigt eine große
Kunst, enthält aber nirgends Künsteleien, so daß ihr System von
jedem mit der Abstraktion vertrauten Menschen anerkannt und von jedem Denker von
Beruf mit ästhetischem Wohlgefallen angesehen werden müßte. Ohne
Verständnis wird dies Wohlgefallen nur affektiert. Das Buch ist über
dem Grundriß der Logik erbaut und konnte eine andere Bauart nicht wählen.,
ohne den Vorzug des Systems als einer strengen Kontrolle aufzugeben. Dies System
war die Bedingung dafür, die von Kant gestellte Frage für die
Philosophie und mittelbar für die Menschheit zu lösen. Die Kritik ist
von derselben Dignität und Sicherheit wie die Logik selbst.
5. Die Kritik d. r. V. ist eine unentbehrliche
Wissenschaft, die schon in der Mittelschule gelehrt werden müßte, um
Verirrungen entgegenzutreten, wie sie bei gesteigerter Publizität heute die
Jugend bedrohen. Die Kritik stellt die E i n s i c h t
in die Grenzen menschlicher Erkenntnis her und gräbt dadurch, wie sie
selbst mit Recht behauptet, dem Materialismus, Fatalismus, Atheismus, dem
freigeisterischen Unglauben, der Schwärmerei und dem Aberglauben" die
Wurzeln ab. Diese Einsicht ist wie eine jede wahre Erkenntnis unduldsam",
aber sie schließt das Eingeständnis ein, daß allen Philosophen
in den Fragen nach Gott, Unsterblichkeit und Freiheit nicht mehr Kenntnis zur
Verfügung steht als dem gemeinen Verstande. Kant hob das Wissen auf, um für
den Glauben Platz zu schaffen. Der Glaube aber ist frei und erscheint wie der
Unglaube nur dann despotisch, wenn in jenen Fragen eine Kenntnis, ein Wissen
[23/24] vorgegeben wird. Die Kritik d. r. V. ist eine
Verteidigung des Glaubens, die nur möglich ist, wenn die Grenze
menschlicher Erkenntnis eingesehen wird. Diese Grenze läßt sich mit
mathematischer Evidenz einsehen und kennzeichnen, wenngleich nicht mit
mathematischer Methode.
6. Die Kritik d. r. V. beschäftigt sich nur
mit der Metaphysik, deren Begriff sie berichtigt und deren frühere Anmaßungen
sie mit Recht der Astrologie und Alchemie zur Seite stellt. Damit sind ewige
Streitigkeiten mit einem Schlage beseitigt. Diese wissenschaftlichen"
Kämpfe sind trotzdem, als ob nichts geschehen wäre, fortgesetzt worden
und stehen heute in Blüte, obwohl sie nach den Lehren der Kritik, wie sich
strikt einsehen läßt, um nichts" geführt werden. Der
Humor der Sache liegt darin, daß heute jeweils alle wissenschaftlichen"
Parteien sich auf Kant und seine Kritik berufen.
7. Die Kritik d. r. V. ist ein Depositum, das von
Kant dem Philosophen als Depositar bestimmt worden ist. Die damit den
Philosophen auferlegte Verpflichtung besteht in der Aufgabe, sich des Erbes zu
bemächtigen, um sie durch Unterweisung kommenden Generationen zu
vermitteln. Wie die Philosophen sind, haben viele ihre Aufgabe darin gesehen, an
dem Buche zu mäkeln, ohne die eigenen Kräfte zu überschlagen.
Daraus ist eine plan- und zwecklose Schreiberei über ein Werk entstanden,
das einen anerkannten Denker zwanzig Jahre lang beschäftigt hat. Diesem
Zustand muß ein Ende gemacht werden, womit wahrhafter Kritik, die erst das
Verständnis erwirbt und dann urteilt, nicht zunahegetreten wird.
8. Die Kritik d. r. V. zeigt in ihrer Darstellung
kleine Mängel, wie sie beim philosophischen Vortrag nahezu unvermeidbar
sind. Dennoch ist ihre Darstellung bis zum heutigen Tage noch nicht übertroffen.
Auch dem Inhalte nach existiert keine Verbesserung, weil sich ein unverstandenes
Werk nicht verbessern läßt. Die Grundlehren der Kritik lassen wohl
einen Ausbau, aber keine Weiterentwicklung" oder Überwindung"
zu, so wenig, wie sich etwa das Einmaleins überwinden" ließe.
9. Die Kritik d. r. V. will die Philosophie von
Erscheinungen befreien, wie sie in späteren Anmaßungen bedeutender
Persönlichkeiten (Fichte, Hegel, Schelling, Schopenhauer) leider vorliegen.
Diese Namen haben keine Beziehung zur kantischen Lehre, auch wo das in den
Schriften vorgegeben wird. Die willkürlichen und abstrusen Behauptungen
dieser Männer lassen sich nicht aus der kantischen Quelle ableiten, wie es
durch ein wundersames Entwicklungsbedürfnis in neuerer Zeit oft versucht
ist. Diese Ver-[24/25]suche sind über die Idee der Entwicklung und ihren
Gebrauch ebenso im unklaren wie unsere Zeit überhaupt. Jene Erscheinungen
bieten kulturhistorisches Interesse, wie etwa die Wiederbelebung abergläubischer
Vorstellungen, aber trotz ihres Einflusses kein wissenschaftliches. Die Jugend
ist vor der Zeitvergeudung zu warnen, die mit dem Studium" dieser Männer
verbunden ist. Sie sind nur als abschreckendes Beispiel zu nennen, etwa wie
Nietzsche, der kein wissenschaftliches Interesse bietet. Die richtig verstandene
Kritik bewahrt von selbst vor diesen Erscheinungen. Sie lehrt Irrtum und
Wahrheit durch sichere Kennzeichen unterscheiden.
10. Die Kritik d. r. V. ist von der historischen
Entwicklung im abgelaufenen Jahrhundert unabhängig zu beurteilen und kann
niemals durch historische Entwicklung überwunden" werden, wie es
ihr Autor in den Worten ausgesprochen hat: In dieser Unveränderlichkeit
wird sich dieses System, wie ich hoffe, auch fernerhin behaupten." Diese
Worte spreche ich nicht bloß nach, sondern ich sehe ihre Gründe ein.
Die Kritik schließt ein fruchtloses Mühen für alle Zeiten ab.
Aristoteles hätte dies Buch schreiben können. Er würde seine
Lehren verstehen, wenn er heute dem Grabe entstiege. Kein Fortschritt in
empirischen Wissenschaften, bei denen eine Entwicklung vorliegt, vermöchte
seine Lehren umzustoßen, die lediglich eine Lücke schließen,
die bei den Alten vielfach in eigenartigen Problemen und Paradoxen bemerkbar
wird. Unsere heutige Höhe in der Naturwissenschaft und Technik läßt
keinen Rückschluß auf philosophische Einsicht in solchen Fragen zu,
die außerhalb ihres Gebietes liegen. Im Gegenteil zeigt die Tatsache, daß
hervorragende Naturforscher sich der Philosophie zuwenden, daß sie die
Schulung und Übung unterschätzen, die für wissenschaftliche
philosophische Arbeit unerläßlich ist. Jeder denkende Mensch ist in
gewissem Sinne Philosoph, was kein Wunder ist; aber es ist ein schlechtes
Zeichen für die Achtung, die wissenschaftlicher Philosophie gezollt wird,
wenn umgeschulte Denker mit ihr zu wetteifern unternehmen. In neuester Zeit
haben sich Philosophen, die Kants Namen im Zeichen führen, mit seinen
Worten getröstet, daß man Philosophie nicht, sondern nur
philosophieren lernen könne. Diese Worte würden sie beherzigen, wenn
sie nicht unter diesem Lernen bei Kant verstünden, sie müßten
mit ihren Versuchen auch die Mitwelt beglücken. Wenn jemand philosophieren
lernt, so ist der geeignete Ort dazu das Studierzimmer, nicht aber die breite Öffentlichkeit.
[25/26]
Wesen und Kennzeichen wahrer Erkenntnis und Wissenschaft ist, daß
sie vereint. Gegenseitiges Lob kann die innere Zwiespältigkeit verdecken,
zur Einigung reicht es nicht hin. Der Streit aber kann sich nur um Gegenstände
drehen, die innerhalb der Grenzen menschlicher Einsicht, d. h. in der Natur
liegen; deshalb ist von Wichtigkeit, von diesen Grenzen nicht bloß zu
reden, sondern sie zu kennen, damit man nicht nur in der Geschichte der
Metaphysik die Spreu vom Weizen sondern, vielmehr jederzeit gegenüber neuen
Anmaßungen nicht bloß den Namen Kants, sondern zwingende Gründe
angeben könne. Der Streit der Mathematiker um ihre Voraussetzungen war müßig,
weil kein Mensch die objektive Realität einer anderen als der Geometrie
Euklids erhärten könnte. Streitigkeiten, die sich nicht schlichten
lassen, erwecken mit Recht den Verdacht, daß um Hirngespinste gestritten
wird. So ist w i s s e n s c h a f t l i c h e r
Streit um metaphysische Fragen über die Natur hinaus unmöglich.
Zauberkünste gehören nicht in die Wissenschaft. Dies Resultat
kantischer Kritik, die unparteiisch, wie nicht anders möglich durch
Spekulation, d. h. in abstracto die spekulativen Anmaßungen auf ihr
Recht prüft, ist nicht skeptisch, sondern ruht auf der Anerkennung der
menschlichen Vernunft. Die unumstößliche Lösung dieser Frage ist
nach Kant ignoriert, wobei die Spekulation den Anschein vorgab, Rätsel da
zu lösen, wo seine Lehre die Unmöglichkeit und die Sinnlosigkeit
erwiesen hatte.
Mit wissenschaftlichen Gründen läßt sich über
die Natur hinaus auch nichts m e i n e n, ein
Gedanke, der Klarheit und Deutlichkeit über den Grundbegriff der Möglichkeit
voraussetzt. Daß sich Bücher mit solchen Meinungen füllen
lassen, bestreitet niemand. Lorenz Sterne behauptet sogar, daß nur
gescheite Männer, nur die größten Genies, über nichts"
schreiben könnten. Ob es aber nicht gescheiter ist, nach so vielen
fruchtlosen Anstrengungen über den Begriff der Möglichkeit
nachzudenken, bis die Truggebilde schwinden, wie Kant es getan hat? Dieselbe
Klarheit und Deutlichkeit verlangt der Kritiker für alle Grundbegriffe des
Erkenntnisvermögens, über die beim richtigen Gebrauch im alltäglichen
Leben und innerhalb der richtigen Grenzen kein Streit herrscht. Streit hebt erst
an, wenn die Spekulation auch von den notwendigen Voraussetzungen im
Erkenntnisvermögen absieht, und wenn sie sich nicht mit den als Tatsachen
feststellbaren Prinzipien begnügt. Sie sucht dann, was sie weiß,
und weiß nicht, was sie sucht" - ein Leibnizsches Wort, das die
gesamte heutige sogenannte Erkenntnislehre trifft. Deshalb müssen diese
Grundbegriffe und Prinzipien [26/27] inventarisiert und die Grenzen ihres
Gebrauches geprüft werden. Für die Prinzipien reiner Vernunft gibt es
nur einen Prüfstein, die als unbestrittene Wahrheit anerkannte Erkenntnis,
die Erfahrung, sei es, daß die Erfahrung von ihnen sich formal ableiten läßt,
oder daß diese Prinzipien der Erfahrung Richtlinien geben, wobei es sich
nirgends um Fiktionen, sondern um die letzten Instanzen in aller Wahrheit der
Erkenntnis handelt.
Kants erste Einsicht in allen seinen kritischen Untersuchungen
bezieht sich auf die Unterscheidung des logischen Widerspruchs und des realen
Widerstreits, einen Unterschied, der nur durch die Feststellung der formalen A n s c h a u u n g
zur Einsicht gebracht werden kann.
Die Zusammensetzung von Bewegungen in der Mechanik, wie Bewegung
überhaupt als das Wesen aller äußeren Veränderung allein
macht neben der Logik, die nur den Widerspruch kennt, die Erkenntniskritik
notwendig. Widerspruch zeigen nur Gedanken, in der Veränderung ist
Widerstreit, die Lehren der Mechanik enthalten keinen Widerspruch. Kant löst
Widersprüche der Metaphysik und bereitet der täuschenden Dialektik ein
Ende. Mit Vernunft die Erfahrung anzutasten, ist unsinnig. Soll nun Philosophie,
die diese erste Einsicht Kants in ein neues Problem verleugnet, mit kantischem
Ursprungszeugnis versehen werden dürfen? Diogenes schritt auf und ab, als
ihm ein Eleat die Bewegung leugnete. Nach 2000 Jahren machte Goethe einen Vers
dazu. Liegt nicht in den Streitigkeiten dieser Zwischenzeit einiger Grund, die
Fehler zu berichtigen, die Täuschung aufzudecken, bei der alle
Erscheinungen, die Vorstellungen der Sinne verdankt werden, als bloß vom
Verstande und nach Verstandesprinzipien allein erkennbar, Erfahrung vor der
Erfahrung, Anschauung vor der Anschauung, als beurteilbar anzusehen sind, so daß
alle wirkliche Erkenntnis selbst im Lichte einer Täuschung erscheint?
War es nach Kant, der auch für die Philosophen eine
gemeinschaftliche Welt verlangte, an der Zeit, wieder in Träumereien zu
verfallen, in der jeder seine eigene hat, Jakob Böhmes Geist zu zitieren,
anstatt ihn dem Dichter zu überlassen? Hat den Dichter Goethe seine überaus
nüchterne Philosophie gehindert, sich von drängenden Gedanken im
Gedicht zu befreien, wo alles, wie Kant sagt, ehrlich zugeht? Für den
Philosophen aber erscheint schicklich, nach sokratischem Beispiel da
stillezustehen, wo er seine Behauptungen nicht mehr mit Einsicht vertreten kann.
Geht uns an wahrer Erkenntnis etwas ab, wenn wir der Wahrheit
gemäß einsehen, daß der Grund des Denkens (aller inneren
[27/28] Erscheinungen) und der Grund der Bewegung (aller äußeren
Erscheinungen), da wir Menschen und nicht Götter sind, im Verborgenen,
Unerforschlichen liegt? Wir möchten gerne davon etwas wissen, woher aber
soll die Kunde kommen? Von Meinungen Sachverständiger? Wer vermißt
sich solcher Meinungen über die Erschaffung der Welt?
Warum können meine Gedanken den Arm und nicht den
Jakobiturm bewegen? fragt der geistreiche Lichtenberg, der übrigens
kantische Lehren im physikalischen Kolleg mit vortrug, und der, ein Physiker,
nicht verschmäht hat, in Mellins Wörterbuch Gesetze der Bewegung zu
studieren.
Wo Lichtenberg scherzt, liegt ein Problem, sagt Goethe. Jener
ernste Mann schrieb einem Lehrbuch der Physik vor: Von den eigentlichen G r u n d ursachen
der verborgenen Kräfte, welche die P h ä n o m e n e
hervorbringen, wissen wir n i c h t s, wir kennen
nur die v e r a n l a s s e n d e n,
und dieses nennen wir Ursachen. Wir kennen nur das, was geschehen ist, aber
nicht, wie es geschieht." Naturwissenschaft gewinnt, wenn sie ihre Grenzen
kennt; hat sie an der Naturphilosophie der Großen" etwas
verloren? Genug, was sollte hindern, nach den Anmaßungen einer
verblendeten Zeit in richtiger Einsicht den verlorenen Faden zu suchen und da
wieder anzuknüpfen, wo er einst freventlich abgerissen ist? An der Kunst,
aus Sand Stricke zu drehen, verliert die Welt nichts.
Woher stammt die Übereinstimmung bedeutender Männer
damals, wie kommt es, daß die großen Mathematiker Lambert und Euler
den kantischen ähnliche Gedanken vertreten, woher stammt der Unfriede heute
- Streit in Fragen der reinen Vernunft, die das letzte Forum für alle
Streitigkeiten ist? Jenes wunderbare Schauspiel, bei dem Theatersonnen das wahre
Licht verdrängten, wäre zu verhüten gewesen - um so mehr aber die
heutige doppelt eitle Bemühung, eine Entwicklung zu konstruieren, weil die überredende,
suggestiv wirkende Berufung auf das Genie über die stille Arbeit des
Denkers den Theatersieg davongetragen hat. Was soll die nunmehrige Entwicklung
im Mißverständnisse Kants? Träte er selbst unter die Neukantianer",
oder wie die unsinnigen Parteien sich nennen, so möchte er bedeutet werden,
daß seine Auffassung der eigenen Werke veraltet sei, und daß er sich
geduldigen möge, bis die moderne Forschung aus seinen Papierschnitzeln, aus
Kollegheften und durch die Intuition vorurteilsloser Preisbewerber - je jünger,
um so besser - seine vollständige Persönlichkeit, seine Werke und ihre
Entwicklung konstruiert habe.
Sollten die begründeten Vorstellungen, die heute wie vor
hun-[28/29]dert Jahren auf Grund der von Kant öffentlich vertretenen
Schriften Verwahrung gegen ein verkehrtes Urteil einlegen, angesichts des Chaos
und prinzipienloser Anarchie verhallen?
Anhang suchen sie nicht. Wird sich aber niemand finden, der nach
dem Grunde unserer Übereinstimmung mit Mellin fragt, die, unabhängig
von seinen Schriften, wider den gesamten modernen Einfluß sich bilden
konnte? Wird niemand erkennen, daß nicht Nachbeten, Orthodoxie,
Fanatismus, Rechthaberei, oder gar Unfehlbarkeitsdünkel und Streitbarkeit,
sondern selbständiges Denken trotz der Führung eines großen
Lehrers hier mitgewirkt hat, und daß die Konsequenz eindeutiger Schriften
mit sicheren Begriffen, die Kontrolle des Systems allein ein solches Resultat
hervorrufen konnte? Soll das Prägen" von Schlagworten,
Sektennamen an Stelle von Gründen nie ein Ende nehmen? Darf der Streit um
eindeutige Lehren auch ferner seine Wirkung ausüben, diese selbst in Mißkredit
zu bringen? Ist Kant für die Schnellfertigkeit der Anhänger und Gegner
verantwortlich? Darf die Wiederholung derselben unsterblichen kritischen"
Phrasen auch als Nachbeten" usw. bezeichnet werden?
Wann wird eingesehen, daß Parteien in der Metaphysik darum
sinnlos sind, weil jeder dogmatische Metaphysiker sein eigener Gegner ist? Wären
die Gaben wirklich für diese einfachsten letzten Fragen der Menschheit
ungleich verteilt? Läßt sich nicht bei den größten"
Philosophen die Anmaßung aufdecken, wofern der Mensch die ihm gezogenen
Grenzen kennt? Sterndeuterei, Alchemie haben weichen müssen; wann wird der
Aberglaube an die philosophischen Propheten schwinden? Kann es der Einsicht
schwerfallen, zwischen dem Motto Schellings und dem eigenen vernünftigen
Urteil zu wählen?
Mellin, ein ruhiger, friedfertiger, wahrhafter Mann wie sein großer
Lehrer, beklagt sich über die Kant widerfahrene Unbill und findet
leichtfertige Vorwürfe beleidigend für alle, die aus Einsicht
seine Theorien verstehen und sich von ihrer ewig unumstößlichen
Wahrheit überzeugt haben", indem er die Entscheidung von der Nachwelt
- wenn die Parteisucht nicht mehr mitsprechen wird - erwartet. Sollten auch die
Lehrer der Weltweisheit hierfür kein anderes Wort finden als: Sonderbarer
Schwärmer"? Was haben sie dieser auf Einsicht ruhenden Überzeugung
entgegenzustellen? Persönliche Ansichten gelten hier gar nichts, solange
niemand weiß, was Kant lehrt, d. h. was durch diese Ansichten in
Zweifel gezogen wird.
Gegen jene neu sich bildenden Schulen, die aus der bunten
[29/30] Geschichte der Philosophie keine Lehren ziehen mochten, die in eitler
Verblendung ihre Personen ruhmsüchtig über die Sache stellten, schrieb
Mellin, der sie mit einleuchtenden Gründen widerlegen konnte: Die
Stifter und Anhänger dieser Schulen haben zwar die Verteidiger des
Kritizismus oft genug mit dem Namen der strengen Kantianer, das soll heißen:
solcher, die auf die Worte ihres Meisters geschworen haben, bezeichnet und
verlacht; allein sie haben nicht bedacht, daß der echte Kritizismus ein
durchgängig fest zusammenhängendes und organisches Ganze liefert, das
in der Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnisvermögens selbst gegründete
und unveränderliche System aller reinen philosophischen Erkenntnis, und daß
daher der Stifter des Kritizismus, der ein Mensch ist, zwar in dem Vortrage und
in der dogmatischen Ausführung des Systems gefehlt, aber in dem ganzen
geschlossenen Grundriß desselben, der in der Kritik d. r. V.
verzeichnet ist, weder einen bedeutenden Fehler gemacht noch eine Lücke
gelassen haben kann, weil sich beides in dem gegliederten Ganzen bald entdeckt
haben würde."
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