Sitzungsberichte


der Heidelberger Akademie der Wissenschaften


Stiftung Heinrich Lanz


Philosophisch-historische Klasse


Jahrgang 1910. 14. Abhandlung.





Über Gleichheit und Identität



von





Wilhelm Windelband



in Heidelberg







Eingegangen am 15. Oktober 1910












Heidelberg 1910



Carl Winter's Universitätsbuchhandlung



Verlags-Nr. 512.


[1/2] [2 leer] [2/3]



I n der Festschrift für SIGWART (Tübingen 1900) habe ich einen Entwurf zum System der Kategorien versucht, der sich auf der Unterscheidung reflexiver und konstitutiver Kategorien aufbaute. Von dem Kantischen Prinzip der Synthesis aus, das in gleicher Weise, das logische Wesen des Begriffs wie des Urteils ausmacht, wurde der Grundunterschied entwickelt, daß die Beziehungen, die im Urteil vollzogen und im Begriff festgehalten werden, entweder solche sind, welche die Vorstellungselemente erst durch das beziehende Denken und nur in diesem gewinnen, oder solche, welche zugleich als wirkliche Verhältnisse der Gegenstände gedacht werden. Diese Unterscheidung war prinzipiell auf die von KANTS formaler und transzendentaler Logik orientiert, die dabei freilich einige Verschiebungen erfuhr; sie traf im Ergebnis, wenigstens zum Teil, mit der Art zusammen, wie ED. v. HARTMANN die Kategorien des reflektierenden Denkens denen des „spekulativen" Denkens gegenübergestellt hat: ihr systematischer Leitgedanke aber war der Aufweis der intimen Analogien, welche durchgängig zwischen den beiden Klassen der Kategorien bestehen. Diese Zusammenhänge festzustellen, war mir bei jener vorläufigen Veröffentlichung das Wichtigste: sie hatten sich mir aus Erwägungen über das Verhältnis der beiden logischen Systeme des Kritizismus ergeben. KANT hatte die Gemeinschaft beider in der „Tafel der Urteile" gefunden, aus der sich ihm die „metaphysische Deduktion" der Kategorien  1 ) ergab. Je mehr die Künstlichkeit und Unhaltbarkeit dieser Verknüpfung von formaler und transzendentaler Logik eingesehen wird, um so bedeutsamer erhebt sich die Frage, worin dann die von der Einheit des logischen Denkens unweigerlich verlangte Zusammengehörigkeit des analytischen und des synthetischen, des formalen und des erkenntnistheoretischen Systems zu suchen sein soll. Meine Auf-


1) Vgl. Krit. d. rein. Vern. , B., § 26, S. 159. W. W. III, 124.

fassung dieses Verhältnisses möchte ich in den folgenden Überlegungen an einem besonderen, allerdings dem grundlegenden Verhältnis reflexiver und konstitutiver Kategorien darlegen.


I.





An der fundamentalen Voraussetzung für alle Synthesis, der Funktion der Unterscheidung, entwickelt sich als deren Grenzfall die Grundkategorie der reflexiven Reihe, die Gleichheit: ihr korrespondiert auf der Seite der gegenständlichen Beziehungen, der konstitutiven Kategorien, die Identität, welche in diesem Sinne nichts anderes bedeutet als s e i e n d e G l e i c h h e i t. Sie tritt da ein, wo das Denken eine Mehrheit gleich befundener oder vorausgesetzter Inhalte trotz ihrer zeitlichen Unterscheidung auf eine beharrende gegenständliche Einheit bezieht.

Nur wenn man in dieser Weise die Identität auf das Sein bezieht, die Gleichheit aber von dieser Beziehung unabhängig macht, kann man eine verständige Unterscheidung zwischen den beiden Ausdrücken gewinnen, die in der alltäglichen Sprache miteinander und mit der „Selbigkeit" promiscue angewendet werden. „Das Gleiche", „Dasselbe", „Das Identische" - diese Bezeichnungen werden in der gewöhnlichen Rede meist miteinander vertauschbar gebraucht. Deshalb aber ist auch die philosophische Terminologie darüber keineswegs einheitlich. So behandelt z. B. E. v. HARTMANN die Identität oder „Dieselbigkeit" als den „höchsten Grad der Gleichheit"  2 ), stellt also beide damit in ein nur graduelles Verhältnis: andererseits betont COHEN gern den prinzipiellen Unterschied beider Termini  3 ), indem er Identität als Bejahung und Sicherung des logischen Inhalts  4 ) bestimmt und Gleichheit nur als einen mathematischen Begriff gelten lassen will.  5 )

Demgegenüber scheint mir die klarste und schärfste Definition noch immer die von ARISTOTELES zu sein, von der abzugehen kein zwingender Grund vorliegt. In dem Abriß der Terminologie, der als viertes (alias fünftes) Buch der sogenannten Metaphysik erhalten ist, entwickelt er unter den


2) Kategorienlehre (1896), p. 198.
3) Logik der reinen Erkenntnis (1902), p. 84ff., 291, 416.
4) A. a. O., p. 80 f.
5) A. a. O., p. 189. [4/5]

Begriffen der Relation ( p r o V t i ), und zwar zunächst der numerischen  6 ), e t i t o i s o n k a i o m o i o n k a i t a u t o ... k a t a g a r t o e n l e g e t a i p a n t a . t a u t a m e n g a r w n h o u s i a m i a , o m o i a d w n h p o i o t h V m i a , i s a d e w n t o p o s o n e n . Die e n o t h V    7 ), die numerische Einheit oder Selbigkeit, die damit als der Oberbegriff über der Identität und den beiden Arten der Gleichheit erscheint, drücken wir im Deutschen am besten durch „ein und dasselbe" aus. Ein und dasselbe ist der Inhalt der (als Funktionen) verschiedenen Vorstellungen, die wir auf die eine ihnen als Gegenstand entsprechende Wirklichkeit, auf das „identische" Ding ( o u s i a ) beziehen: ein und dasselbe sind die Eigenschalten oder die Größen, auf die wir reflektieren, wenn wir irgendwelche Inhalte in irgendeiner Hinsicht gleich nennen. Eben daraus erklärt es sich, daß die um begriffliche Schärfe unbekümmerte Sprache dies „ein und dasselbe" beliebig bald als identisch, bald als gleich bezeichnet.

Die dreiteilige Koordination t a u t o , o m o i o n , i s o n , der an anderer Stelle  8 ) die entsprechende Teilung des Mehrfachen ( p l h J o V ) in e t e r o n , a n o m o i o n , a n i s o n hinzugefügt wird, ist bei ARISTOTELES auf die drei Kategorien o u s i a , p o i o n , p o s o n bezogen. Das damit gemeinte Verhältnis von o m o i o n und i s o n wird besonders klar durch eine Stelle in den „Kategorien"  9 ), wo das i s o n als das i d i o n t o u p o s o u dargelegt wird, und wo es ausdrücklich heißt, daß es auf andere als quantitative Bestimmungen nicht angewendet werden sollte. Diesem spezifisch quantitativen Begriff der Gleichheit entspricht auch völlig die bekannte Verwendung, die er bei ARISTOTELES für die Definition und die Einteilung der Gerechtigkeit gefunden hat.  10 ) Im Deutschen aber haben wir diese Beschränkung der Bedeutung von „gleich" auf die Quanta nicht; wir nennen auch die p o i a , die Eigenschaften gleich, und wir haben andererseits kein eigenes Wort für das „Ein und dasselbe in der Qualität", was ARISTOTELES Mit o m o i o n meint. Wir müssen



6) Met. 1021a , 10. Näher ausgeführt, mit ausdrücklicher Bezugnahme auf diese Bestimmungen in den d i a i r e s e i V , findet sich dasselbe auch Met. 1054a , 29.
7) Vgl. Met. 1018a , 7: h t a u t o t h V e n o t h V t i V e s t i n .
8) Met. 1054a, 31
9) Cat. 6a , 26.
10) Im fünften Buch der Nikomachischen Ethik ; vgl. besonders daselbst 1131a , 11: e n o p o i a g a r p r a x e i e s t i t o p l e o n k a i t o e l a t o n , e s t i k a i t o i s o n . Es ist aber besonders hervorzuheben, daß eben deshalb diese Ableitung bei ARISTOTELES nur für e i n e Art der Gerechtigkeit gilt: vgl. daselbst 1130b , 5ff. [5/6]


daher o m o i o n und i s o n , um der von dem Philosophen betonten Beziehung auf die Kategorien gerecht zu werden, mit „qualitative und quantitative Gleichheit" übersetzen. Daher ist es nicht ganz zutreffend und unter Umständen irreführend, o m o i o n hier mit „ähnlich" wiederzugeben.  11 ) Diesen Sinn hat das Wort freilich in der gewöhnlichen Sprache, und demgemäß zweifellos oft auch bei ARISTOTELES; ja er registriert selbst  12 ) die verschiedenen möglichen Bedeutungen: o m o i a l e g e t a i t a t e p a n t h t a u t o p e p o n J o t a k a i t a p l e i w t a u t a p e p o n J o t a h e t e r a k a i w n h p o i o t h V m i a . Daß das letztere gelten soll, wenn es sich um die begriffliche Gegenüberstellung zum t a u t o und zum i s o n handelt, lehren die oben erwähnten Stellen. Diese Bedeutung der qualitativen Gleichheit hat das Wort bei ARISTOTELES auch sonst, wo es im eigentlichen Sinne terminologisch verwendet wird. Es mag genügen, an den (bei dem Bericht über ANAXAGORAS geprägten) Begriff des chemischen Elements zu erinnern: o m o i o m e r e V , womit der Stoff gemeint ist, der bei jeder Teilung in quantitativ verschiedene, qualitativ dagegen nicht etwa „ähnliche", sondern gleiche Teile zerfällt.  13 ) O m o i o t h V also als qualitative Gleichheit sollte nicht mit Ähnlichkeit, wiedergegeben werden, weil wir unter „ähnlich" für gewöhnlich etwas ganz anderes, nämlich vorwiegende (wie oben ARISTOTELES selbst das o m o i o n im weiteren Sinne erklärt) oder relative Gleichheit verstehen. In letzterem Sinne gilt uns bekanntlich die Ähnlichkeit auch für Quanta, wenn z. B. in der Planimetrie und Stereometrie Figuren wegen der Gleichheit nicht ihrer Größen, sondern ihrer Größenverhältnisse als ähnlich bezeichnet werden.  14 )

Mit ARISTOTELES sollte man also „Identität" als gegenständliche Kategorie aufrechterhalten: nur mit dem Unterschiede, daß das Gegenständliche für ihn metaphysische,



11) Auch in der vortrefflichen Übertragung der Metaphysik von ADOLF LASSON (Jena 1907) ist, offenbar wegen des Mangels eines geeigneten deutschen Wortes „Ähnlichkeit" gewählt: S. 191 und 307.
12) Met. 1018a, 15.
13) Gelegentlich sei darauf hingewiesen, daß man die begrifflich Formen, in denen der bekannte große kirchenpolitische Streit um das i ausgelochten wurde, völlig mißverstehen würde, wenn man in der Zusammensetzung o m o i o u s i o V das o m o i o n auf Ähnlichkeit statt auf qualitative Gleichheit deuten wollte.
14) Vgl. Arist. Met. 1054b, 3. [6/7]

für das modern, kritische Denken dagegen transzendentale Bedeutung hat. Gleichheit dagegen, qualitative wie quantitative, ist eine Denkform der Reflexion, welche nur für die Vorstellungsinhalte als solche ohne jede gegenständliche Beziehung gilt.

Beide aber, Identität und Gleichheit, sind Kategorien, d. h. Beziehungen, die eben deshalb eine Mehrheit, zum mindesten also zwei aufeinander zu beziehende Inhalte voraussetzen und nur an diesen ihren Erkenntniswert entfalten. Jedes Moment dieser Mehrheit muß von dem andern irgendwie unterschieden und deshalb in sich völlig bestimmt sein. Will man diese unverrückbare Fixierung jedes Moments im Denken noch wieder als logische Identität bezeichnen, wie es namentlich COHEN im Anschluß an die traditionelle Formel des sogenannten Identitätsprinzips „A ist A" mit besonderer Emphase hervorhebt  15 ), so ist dagegen an sich nichts einzuwenden; wir haben darin die reine einfache e n o t h V und das, was man im Deutschen als reine „Selbigkeit"  16 ) bezeichnen könnte: aber das ist die letzte Grundbedingung für alles Denken überhaupt und insbesondere für alle Kategorien. Denn keine Beziehung ist zu denken, wenn nicht die Momente, die sie verknüpfen soll, je eindeutig in sich bestimmt sind. Aus diesem logischen Prinzip der absoluten Position folgt für alles soziale, empirische Denken das methodologische Prinzip der eindeutigen Bestimmung des Wortsinns  17 ), während die Erkenntnistheorie die Lösung der Frage nach dem Rechte, womit wir annehmen, „daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten"  18 ), doch wohl immer in der Richtung der Lehre von der transzendentalen Apperzeption wird suchen müssen, die KANT daraus als Postulat entwickelt hat. Aber diese „Identität" des Selbstbewußtseins ist keine Kategorie, sondern die allgemeine Bedingung des kategorialen Denkens überhaupt.  19 ) Deshalb sollte man aber auch diesen Grundakt



15) A. a. O. p. 78ff.
16) Der Ausdruck „Einerleiheit", der dafür wohl gelegentlich vorgeschlagen worden ist, scheint mir wegen seines mitschwingenden Nebensinns nicht glücklich.
17) Vgl. z. B. SIGWART, Logik II 3 , p. 34ff.
18) Vgl. KANT, Kritik d. reinen Vern. , A. 103, W. W. IV, 79.
19) Das tritt mit großer Klarheit in KANTs Transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe , namentlich in der ersten Auflage, zutage. [7/8]

der „Sicherung" und der „Affirmation"  20 ) nicht als Identitäts-Urteil oder gar als „identisches Urteil" bezeichnen. Es ist charakteristisch, daß die Formel A ist A, die dann nach der bekannten, für zahlreiche logische Irrtümer verantwortlichen Schematisierung gern in die andere A=A übergeführt worden ist, dazu Anlaß gegeben hat, die Identität einen Begriff zu nennen. „der aus der Vergleichung eines Dinges (lediglich) mit sich selbst entspringt".  21 ) Diese Selbstvergleichung als der unglückliche Versuch, auch das noch zu vergleichen, was die Voraussetzung alles Vergleichens bildet, erinnert einigermaßen scholastisch an die Aseität oder die Causa sui, die Selbstverursachung dessen, was Voraussetzung jedes ursächlichen Zusammenhangs ist. Die Verdoppelung des A, zu dem Zwecke, beide nachher identisch zu setzen, übersieht, daß dabei gerade die beiden A voneinander unterschieden werden: so löst sich das Urteil in eine endlose Dialektik auf. Im wirklichen Denken kommt das sogenannte identische Urteil eigentlich nur als eine rhetorische Form vor, deren Sinn in irgendeinem unausgesprochenen Nebengedanken steckt: Recht ist Recht (sc. und soll es bleiben), Mensch ist Mensch (sc. was er auch sonst sei), Sunt pueri pueri (sc. puerilia tractant).


II.





Hiermit hängt es nun zunächst zusammen, daß das G l e i c h h e i t s u r t e i l nur über solche Inhalte gefällt werden kann, die voneinander unterschieden werden. Gleichheit ist ein Verhältnis, worin Verschiedenes zueinander steht.  22 ) Selbst wenn zwei Vorstellungsinhalte als völlig gleich beurteilt werden sollen, müssen sie wenigstens als Vorstellungszustände noch voneinander unterschieden werden. Aber das Maß dessen, was in den verglichenen Vorstellungen gleich sein muß, und dessen, was dabei in ihnen ungleich sein darf, ist keineswegs eindeutig bestimmt und selbstverständlich: es hängt in jedem besonderen Falle von dem Standpunkte der Reflexion ab  23 ), und



20) Vgl. COHEN, a. a. O., p. 81.
21) Vgl. BOLZANO, Betrachtungen über einige Gegenstände der Elementargeometrie, p. 44; zitiert bei COHEN, a. a. O., p., 85.
22) So hat auch BOLZANO a. a. O. definiert: „Die Verschiedenheit teile ich in die zwei kontradiktorischen Spezies: Gleichheit und Ungleichheit. Somit setzt Gleichheit die Verschiedenheit voraus."
23) Vgl. E. v. HARTMANN, Kategorienlehre , p. 199. [8/9]

die Entscheidung darüber ist nicht mehr logischen, sondern lediglich methodologischen Charakters. In der demographischen Statistik werden, worauf ich schon früher aufmerksam machte  24 ), eine Menge Fälle (von Verbrechen, von Selbstmorden, von Heiraten usw.) als „gleich" registriert, die schließlich nur an einem polizeilichen Merkmal gleich sind, im übrigen aber die bedeutsamsten Verschiedenheiten ihrer sachlichen Merkmale aufweisen. Es wäre daher nicht richtig, wollte man etwa meinen, das Gleichheitsurteil bezöge sich auf die „Selbigkeit" der wesentlichen Merkmale, unbekümmert um die Verschiedenheiten des Unwesentlichen. Wenigstens gilt das nicht, wenn man wesentlich und unwesentlich als sachlich eindeutige Bestimmungen ansieht. Vielmehr ist es bei der Vergleichung jedesmal der Gesichtspunkt der Reflexion, der darüber entscheidet, was für sie wesentlich oder unwesentlich sein soll. Genau so ist es ja auch beim Zählen, das die Gleichheit der Objekte voraussetzt. Jedes Kind lernt, daß es nur Gleichbenanntes zusammenzählen darf: 3 Äpfel und 4 Birnen sollen nicht addiert werden, aber als Früchte machen sie doch zusammen 7 aus.

Aus dieser Verschiedenheit des Gleichen folgt weiterhin die Forderung größter Vorsicht, die bei allen Argumentationen eingehalten werden sollte, welche aus der Gleichheit irgendwelcher Gegenstände andere Gleichheiten an ihnen oder für sie deduzieren wollen. Eine solche Ableitung ist immer nur beweiskräftig, wenn gezeigt werden kann, daß der Reflexionsgesichtspunkt, unter dem die erste Gleichsetzung gilt, auch für die zweite maßgebend bleibt: ist das nicht der Fall, so schwebt die ganze Beweisführung in der Luft. Eine große Zahl politischer und sozialer Theorien allerlei Tendenz leidet an diesem Grundfehler, daß aus der obenhin behaupteten „natürlichen Gleichheit" der Menschen ohne weiteres Gleichheiten ihrer Rechte oder ihrer Aufgaben und Pflichten abgeleitet werden sollen. Derartige Argumentationen würden immer nur dann stichhaltig sein, wenn mit voller Sicherheit nachgewiesen werden könnte, daß die Gleichheiten, die verlangt werden, in unmittelbarem oder mittelbarem Zusammenhange mit denjenigen Gleichheiten


24) In der eingangs erwähnten Festschrift, p. 52. [9/10]

stehen, von denen die Ableitung ausgehen soll.  25 ) Will man sich von diesen Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten und zugleich von den Folgen der Willkürlichkeit des Reflexionsstandpunkts, wonach „gleich" und „ungleich" prädiziert wird, ein deutliches Bild machen, so durchdenke man die bekannte historische Antinomie. Thesis: alle Menschen, gleichviel welcher Rasse sie angehören, sind von Natur gleich; also gebührt ihnen das Gleiche an politischen und sozialen Rechten. Antithesis: die Rassen sind von Natur ungleich; damit ist ihre rechtliche und gesellige Ungleichheit begründet. Ähnliches gilt auch von dem religiösen Gesichtspunkt der „Gleichheit aller Menschen vor Gott", sofern daraus naturrechtliche Konsequenzen haben gezogen werden sollen.

Wie nun aber auch im einzelnen Falle das Verhältnis zwischen Gleichheit und Unterschiedenheit bestimmt sein möge, welche beide zusammen in dem Vergleichungsurteile unter allen Umständen gedacht werden müssen - der Grund dieses Urteils beruht auf dem unmittelbaren Erlebnis der Intuition. Es ist eine der letzten, auf nichts weiter zurückführbaren Voraussetzungen unseres Denkens, daß wir mit voller Sicherheit aufzufassen vermögen, was in den Inhalten unsres Bewußtseins gleich und was darin verschieden ist. Gegen meine Behauptung, daß der Inhalt der einen von meinen Vorstellungen mit dem einer anderen gleich bzw. ungleich sei, gibt es keine Instanz und. kein Kriterium, woran appelliert werden könnte. Diese Unterscheidungen und Gleichsetzungen sind die elementaren Momente alles Denkens. Aber jene intuitive Sicherheit und Richtigkeit des Vergleichungsurteils gilt deshalb auch nur für jedem einzelnen Akt des individuellen Bewußtseins, und sie wird ebensowenig durch die Möglichkeit der sachlichen Unrichtigkeit wie durch die erfahrungsmäßige Korrigierbarkeit in Frage gestellt. Denn die Urteile, die wir über Gleichheit und Ungleichheit von „Gegenständen" fällen, sind doch eben tatsächlich nur Urteile über unsere Vorstellungen von den Gegenständen, und ihre „sachliche" Richtigkeit oder Unrichtigkeit hängt somit an der Frage, ob diese Vorstellungen adäquat sind oder nicht. Mit Recht hat SIGWART  26 ) darauf hingewiesen, daß angesichts der


25) Formallogisch ausgedrückt : die begründende Gleichheit muß die Bedeutung eines Gattungsbegriffs haben, aus dem in irgendeiner Weise die zu begründende Gleichheit abgeleitet werden kann.
26) Logik II 2 , § 89, p. 366ff. [10/11]

Grenzen, die der Unterscheidungsfähigkeit der menschlichen Sinne gesteckt sind, die Beobachtung streng genommen niemals sachlich gleiche, sondern nur „ununterscheidbare" Größen zu messen imstande ist, und er hat daraus die Methoden zur Ausgleichung und Überwindung der Beobachtungsfehler entwickelt: aber für jede einzelne Beobachtung fällt eben doch die Ununterscheidbarkeit mit der subjektiven Gleichheit der Vorstellungsbilder zusammen. Man kann sich das auch an anderen Beispielen deutlich machen. Wenn wir zwei verhältnismäßig kleine Objekte zuerst als gleich, etwa an Größe und Gestalt, beurteilt haben und uns nun mit Hilfe des Mikroskops von ihrer Ungleichheit überzeugen, so liegt die Sache doch eben so, daß wir das erstemal wirklich gleiche, nachher aber wirklich ungleiche Vorstellungsinhalte gehabt haben. Wenn die Unterscheidungsfähigkeit für Sinnesqualitäten, wie Farben und Töne durch Übung und Ausbildung der Anlage, durch Bedürfnis und Interesse bis zu erstaunlicher Höhe gesteigert werden kann, so beruht das eben doch darauf, daß wir feiner wahrzunehmen, d. h. differenziertere Vorstellungsbilder zu gewinnen lernen. Das läßt sich auch bis in die Psychogenesis der logischen Prozesse verfolgen. Jene unbestimmten Allgemeinvorstellungen  27 ), das „erste Allgemeine" in der Seele  28 ), womit alles Denken und Sprechen beginnt, sind doch nur der Ausdruck davon, daß in dem Apperzeptionsvorgange bei aller Mannigfaltigkeit der Reize im Bewußtsein zunächst nur das stetig wiederkehrende Gleiche aufgefaßt (und bezeichnet) wird, so daß die naiven Rekognitionen und Benennungen, die dem entwickelten und differenzierten Bewußtsein so wunderlich vorkommen, in der Tat der Ausdruck des Erlebnisses sind. Alles in allem, das Bewußtsein kann sich über Gleichheit bzw. Ungleichheit seiner Vorstellungsinhalte nicht täuschen; es wäre nicht auszudenken, woher darin ein Irrtum kommen sollte: Vergleichungsurteile werden erst unrichtig, wenn sie nicht mehr die Vorstellungen, sondern die Gegenstände betreffen sollen. Darin wird HUME recht behalten: wenn es auch völlig irrig ist, wie er  29 ) bei seiner ersten einseitig empiristischen Auffassung



27) Vgl. STEINTHAL, Abriß der Sprachwissenschaft I, p. 118ff., 401ff., und SlGWART, Logik I, § 7, 7.
28) Vgl. LOTZE, Logik (1874), § 14ff.
29) Treat. II, 4 (Lipps, p. 67); vgl. übrigens, was für HUMES Entwicklung bedeutsam ist, Enquiry , Abschn. IV u. VII. [11/12]

der Mathematik jede Berichtigung des natürlichen Gleichsetzens über das hinaus, was wir mit Instrumenten und künstlichen Mitteln erreichen können, für eine bloße Fiktion, ebenso nutzlos als unverständlich, erklärt. Er vergißt nichts weniger als die Hauptsache, daß nämlich die Gleichheitsurteile der Mathematik nicht auf Vergleichungen von Impressionen, sondern auf Konstruktionen, Definitionen und begrifflichen Deduktionen beruhen.

Kann aber so, indem wir eine Täuschung über die Gleichheit bzw. Ungleichheit bei Vorstellungsinhalten für ausgeschlossen, dagegen bei „Gegenständen" für möglich erklären, überhaupt von Richtigkeit oder Unrichtigkeit von Vergleichungsurteilen gesprochen werden, so führt das dazu, den Begriff der reflexiven Kategorien, die sich ja alle aus der Wechselbeziehung von Vergleichen und Unterscheiden entwickeln  30 ), nach einer wichtigen Hinsicht zu erläutern. Die Gleichheit bedeutet allerdings kein reales (konstitutives) Verhältnis zwischen den Gegenständen: aber das Gleichheitsurteil ist trotzdem ganz und gar von dem Inhalt der Vorstellungen abhängig. Es ist Sache der Reflexion und damit bis zu einem gewissen Grade sogar der Willkür des einzelnen Urteilens, was verglichen werden soll: aber die Behauptung von Gleichheit oder Ungleichheit ist, aller Willkür entzogen, lediglich durch die verglichenen Inhalte bestimmt. Wenn ich im Gebirge aufmerksam gemacht werde und dann selbst finde, daß die Kontur eines Berges mit dem Profil einer historischen Persönlichkeit, z. B. Napoleons, ähnlich oder gleich ist, so besteht in diesem Falle auch nicht der Schatten einer realen Beziehung zwischen beiden „Gegenständen": die Ähnlichkeit ergibt sich lediglich für das reflektierende Bewußtsein, in welchem die Vorstellungen von beiden zufällig zusammenkommen. Nicht immer braucht die Beziehungslosigkeit der beiden „gleichen" Gegenstände so ausgesprochen zu sein; vielmehr ist gelegentlich die Gleichheit durch reale Zusammenhänge vermittelt, wie in dem Verhältnis eines Bildes zu seinem Original, oder wie in der Ähnlichkeit der Individuen ein und desselben Geschlechts: im letzteren Falle läßt sich sogar die Gleichheit zu einer (realen) Identität des organischen Wesens ausdeuten.  31 ) Aber der Sinn der Gleichheit an sich ist von



30) Vgl. meine Abhandlung in der SIGWART-Festschrift, p. 52ff.
31) Vgl. Arist. Eth. Nik. VIII, 14, 1161b, 31: e i s i d h t a u t o p w V k a i e n d i h r h m e n o i V . Der Grieche hatte in den Gymnasien wohl täglich Gelegenheit, diese [12/13]

solchen Nebenmöglichkeiten der realen Vermittlung unabhängig: es gehört niemals zu den Realbestimmungen des Einen, mit dem Andern gleich oder ähnlich zu sein. Allein selbst in einem so reinen Fall, wie bei jener Gleichsetzung der Silhouetten eines Berges und eines Gesichts, ist doch das Urteil darauf begründet, daß sich in beiden sonst noch so verschiedenen Vorstellungskomplexen dieselbe stark hervortretende Linie findet: sie macht in diesem Falle die „Selbigkeit" aus, jene aristotelische e n o t h V (HUME sagt gelegentlich dafür „sameness"), die bei jeder Art von Gleichheit ebenso erforderlich ist wie bei der Identität.

Darin sind nun eine Anzahl von Grundverhältnissen des kategorialen und speziell zunächst des reflexiven Denkens in typischer Weise enthalten. Erstens zeigt sich, daß die Kategorie (der Gleichheit) weder in dem einen oder dem andern der verglichenen Inhalte noch in deren bloßer Summe enthalten ist, sondern die Urteilsform des reflektierenden Denkens ausmacht. Man nennt das seit KANT die Apriorität der Kategorie: sie hatte schon PLATON im Auge, wenn er im Theaetet den Nachweis führte  32 ), daß Gleichheit und Ungleichheit (ebenso übrigens wie Identität und Verschiedenheit  33 )) durch kein Organ des Leibes empfunden, sondern von der „Seele" selbst gedacht werden, und wenn er im Phaedon  34 ) zur Begründung der Lehre von der a n a m n h s i V die Idee der Gleichheit, die niemals ungleich sein kann, von den gleichen Dingen, wie Hölzern oder Steinen, unterscheidet, die, indem sie doch zugleich auch ungleich sind, nach der Gleichheit nur „streben", aber sie niemals ganz erreichen  35 ) woraus dann gefolgert wird, daß die Seele die Idee ( a u t o t o i s o n ), die sie in den Dingen nicht finden kann, aus dem früheren Leben mitgebracht haben muß. Daß KANT diese psychologisch-metaphysische Priorität in die transzendentale ver-


[Fortsetzung der Anmerkung von Seite 12] „Identität" des Familienwesens im Bau wie in der Bewegung von Vätern und Söhnen oder von Brüdern zu beobachten.
32) Theaet. 185c.
33) Vgl. auch PLATON, Soph. 254d.
34) Phaed., 74ff.
35) Ibid. 75a,: o r e g e t a i m e n p a n t a t a u t e i n a i o i o n t o i s o n , e c e i d e e n d e s t e r w V . 75b: p r o J u m e i t a i m e n p a n t a t o i a u t a e i n a i o i o n e k e i n o , e s t i d e a u t o u f a u l o t e r a - höchst charakteristische Wendungen für die Sprache der Ideenlehre. [13/14]

wandelt hat, braucht nicht näher ausgeführt zu werden: der l o g i s c h e Sinn der Sache ist derselbe geblieben.

Das Zweite ist, daß die Anwendung der Kategorie durch die Vorstellungsinhalte selbst bedingt ist: die Beziehung, die im Vergleichungsurteile gedacht wird, ist e i n V e r h ä l t n i s d e r V o r s t e l l u n g s i n h a l t e z u e i n a n d e r, das darum noch nicht (und darin eben besteht der Unterschied zwischen reflexiven und konstitutiven Kategorien) ein reales Verhältnis der Gegenstände zueinander bedeutet. Und fragen wir, worin dabei das Verhältnis der Vorstellungsinhalte zueinander besteht, so ist es eben dies, daß in beiden „Einunddasselbe", jenes aristotelische e n , enthalten und zum Sinn des reflektierenden Denkens gemacht worden ist. Die reflexiven Kategorien sind Beziehungen der Vorstellungsinhalte ohne Rücksicht auf die Gegenstände. Betrachtet man deshalb das Denken als Bewußtseinsvorgang unter dem Gesichtspunkte der Psychologie, so nimmt die Gleichheit die Bedeutung einer wirklichen Beziehung zwischen Bewußtseinszuständen, d. h. einer psychischen Identität, an. Als solche figuriert sie in der Theorie der Assoziation. Wenn in dieser - um die Ausdrücke der klassischen Assoziationstheorie, der HUME'schen, anzuwenden  36 ) - die Gleichheit bzw. Ähnlichkeit zu denjenigen Relationen gerechnet wird, die nicht nur „philosophische", sondern auch „natürliche" sind, wenn sie ein Prinzip der Assoziation, d. h. ein p s y c h i s c h e r F a k t o r sein soll, so kann sie nicht erst in dem reflektierenden Denken entspringen, sondern muß ein wirkliches Verhältnis der „Ideen", wir sagen jetzt lieber der Vorstellungsinhalte, bedeuten. Eine Vorstellung soll eine andere, mit der sie noch nie im Bewußtsein zusammen war, reproduzieren, weil sie mit ihr gleich oder ähnlich ist. Die Gleichheit muß also als psychisch wirksames Verhältnis schon vorhanden sein, ehe die beiden Vorstellungen im Urteil verglichen werden können. Das besagt: als psychischer Faktor, als seelisch tätiges Prinzip kann die Gleichheit nur in der realen Selbigkeit, d. h. in irgendeiner Art von Identität bestehen. Was eine solche Identität zwischen einem unbewußt reproduzierbaren und einem im Bewußtsein neu auftauchenden Vorstellungsinhalt als reales Gebilde bedeuten soll, wie diese psychische oder psychophysische Identität



36) D. HUME, Treatise III , 1. [14/15]

im besonderen vorzustellen oder gar empirisch nachzuweisen sei, müssen wir den theoretischen Erwägungen überlassen, zu denen ja die Psychologen manchmal noch neben ihren Experimenten sich entschließen.

Diese Verhältnisse sind geeignet, ein deutliches Licht auf die prinzipielle Verschiedenheit von psychologischer und logischer Betrachtung des „Denkens" zu werfen. Denn drittens ergibt sich nun aus den obigen Darlegungen die Art und der Sinn des W a h r h e i t s w e r t e s, der den Gleichheitsurteilen zukommt. Er besteht nicht in der Übereinstimmung mit einem Gegenstande, auch nicht mit einem psychischen Gegenstande. Denn er betrifft nichts als ein Verhältnis, das von den aufeinander im Urteil bezogenen Inhalten g i l t. Wir haben darin vielleicht die einfachste, aber gerade darum einleuchtendste Form desjenigen, was die moderne Logik mit dem durch LOTZE  37 ) üblich gewordenen Terminus „Gelten" meint oder meinen sollte: kein Abbild, keine Aufnahme oder Wiedergabe, keine Wiederholung eines Gegenstandes oder eines gegenständlichen Verhältnisses, sondern eine „nur" im Denken selbst begründete Beziehung zwischen seinen Inhalten. Es ist von weittragender, hier nicht mehr zu verfolgender Bedeutung, daß diese erkenntnistheoretische Wertung der „Gleichheit" sich auf das ganze System der daraus abzuleitenden reflexiven Kategorien erstreckt, und zwar gleichmäßig auf beide Reihen, auf die Kategorien der Quantität, die aus dem Zählen des Gleichen im Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen erwachsen, und auf die „diskursiven" Denkformen der Gattungsbegriffsbildung und des analytischen Schließens, die sämtlich in der „Reflexion auf das Gleiche" als das Ergebnis der „Komparation" und der „Abstraktion" begründet sind.  38 ) Alle in diesen Kategorien ablaufenden Urteile haben an sich diese rein logische Bedeutung des Geltens, und erst durch zum Teil verwickelte Umgestaltungen erstrecken sie sich aus dem idealen Bereiche des Geltens in die realen Gebiete des Seins und des Geschehens hinüber. Damit aber gerade wandeln sie sich in konstitutive Kategorien.


III.





Aus der Gleichheit wird auf diese Weise die I d e n t i t ä t. Wo diese in dem oben entwickelten transzendentalen Sinne ge-


37) Logik (1874), § 316 ff.
38) Die Termini nach KANT, Logik., hrsg. v. Jäsche, § 6. [15/16]

dacht wird, handelt es sich immer darum, daß verschiedene Vorstellungen auf ein und denselben Gegenstand, auf ein und dieselbe, sei es metaphysische, sei es empirische Realität bezogen werden.  39 ) Der einfachste Fall ist dabei der, daß die verschiedenen Vorstellungen inhaltlich gleich sind. Doch ist das durchaus nicht unbedingt erforderlich; ja, diese Urform ist nicht einmal die häufigste, und sie ist keineswegs die wichtigste und wertvollste Anwendung der Kategorie. Aber selbst in den extremsten und interessantesten Formen, bei denen von einer Gleichheit der auf das Identische bezogenen Vorstellungen überhaupt keine Rede mehr ist, bleibt doch in der Kategorie selbst die Voraussetzung bestehen, daß alle die dadurch verknüpften Vorstellungen trotz weitestgehender Ungleichheit ihres Inhaltes auf ein und dieselbe „immerdar sich selbst gleiche" Wirklichkeit bezogen werden, selbst wenn diese identische Realität in keiner Weise inhaltlich bestimmt werden kann. Die „reale Gleichheit" ist dann nur gedacht und vorausgesetzt, aber nicht als solche erkannt: sie bleibt ein Postulat, das sich aber für unser Weltdenken als unentbehrlich erweist.

So steht die Identität in einer bunten Mannigfaltigkeit von Beziehungen zur Gleichheit. Wie wenig sogar vollständige, ununterscheidbare Gleichheit der Vorstellungsinhalte mit Identität zusammenfällt, erfahren wir z. B. an den Schlägen der Uhr oder sonst an rasch aufeinanderfolgenden gleichen Tönen eines Instruments, die mit voller Sicherheit auf verschiedene, einander objektiv folgende Schallereignisse gedeutet werden: ebenso zählen wir nebeneinanderliegende, völlig gleiche Kugeln als verschiedene Dinge. Man wird zunächst sagen, es bestünden doch eben Verschiedenheiten, das eine Mal solche der Zeit, das andere Mal solche des Raumes, der Lage usw.: aber die zeitliche Verschiedenheit trifft auch für zwei diskrete, aber unmittelbar aufeinanderfolgende Gesichtseindrücke zu, die wir mit derselben Sicherheit auf einen identischen Gegenstand beziehen; und ebenso werden wir an der Identität eines solchen Gegenstandes dadurch noch nicht irre, daß wir ihn hinter-



39) Wie sehr es sich dabei wesentlich um die Beziehung zur Realität handelt, geht auch daraus hervor, daß, wo diese fortfällt, wie es tatsächlich für die Mathematik gilt, der Unterschied von Gleichheit und Identität aufhört. Das hat ARISTOTELES, Met. 1054a, 35, angedeutet. Vgl. auch bei COHEN a. a. O., p. 291. [16/17]

einander in verschiedenen Lagen und räumlichen Verhältnissen wahrnehmen. An der Gleichheit der Eindrücke allein hängt also die Annahme der Identität niemals. Sie ist vielmehr eine kategoriale Voraussetzung, die wir an die gedankliche Verarbeitung der Eindrücke heranbringen. Deshalb hat LIEBMANN  40 ) in einer sehr anschaulichen Darlegung dieser Verhältnisse die Identität unter die „Interpolationsmaximen der Erfahrung" gerechnet. Die mehr oder minder sichere Anwendung dieser Maxime hängt aber in ausgedehntem Maße von unserm gesamten Weltvorstellen und Erfahrungswissen ab. Auch wenn es richtig sein sollte, daß es in der (empirischen) Wirklichkeit nicht zwei völlig und restlos gleiche Dinge oder Ereignisse gibt (wie es LEIBNIZ  41 ) gern hervorgehoben hat), so bringt doch die begrenzte Unterscheidungsfähigkeit der Sinne eine Menge subjektiv gleicher, d. h. ununterscheidbarer Eindrücke zuwege, die deshalb Anlaß zu vielen Irrtümern in der Behauptung der Identität sein müssen. Daher ist bei der Rekognition von Gegenständen, die zeitweilig unserer Wahrnehmung entzogen waren, die allergrößte Vorsicht erforderlich. Ob ein Messer, das man uns vorlegt, identisch sei mit dem unsrigen, das uns abhanden gekommen ist, wird nur bei ganz besonderen Merkmalen mit einiger Wahrscheinlichkeit zu beurteilen sein. Wenn aber an der Taschenuhr, die ich darauf prüfen soll, sich auf der Innenseite des Deckels in kleiner Schrift genau dieselben drei mehrstelligen Ziffern zeigen, die an meiner Uhr nach den Reparaturen eingraviert waren, so werde ich mit voller Sicherheit die Identität behaupten. Allein die enorme Unwahrscheinlichkeit, daß ich mich in diesem Falle täuschen sollte, beruht nicht sowohl auf der Gleichheit der Eindrücke als vielmehr auf meiner Kenntnis der Usancen und auf den Überlegungen und Kausalschlüssen, die sich darauf gegründet haben. Diese Argumente würden in diesem Beispiel sogar zu Behauptung der Identität führen, wenn etwa grobe Veränderungen, die von mechanischen Stößen oder chemischen Flecken herrührten, das äußere Bild des Gegenstandes wesentlich verschieden von dem meiner Erinnerung erscheinen ließen.


40) O. LIEBMANN, Die Klimax der Theorien (1884), VII.
41) Nouv. Ess. II, 27 , 3. Erdm., p. 278; cf. Briefe an Clarke. 4, 4. E., p. 755. [17/18]


So weit ist schon das alltägliche Leben davon entfernt, Gleichheit und Identität miteinander zu verwechseln: am besten aber wird ihre Verschiedenheit durch die Möglichkeit wissenschaftlicher Theorien wie des modernen Atomismus  42 ) verdeutlicht. Ihm gelten sämtliche Atome desselben Stoffs, und prinzipiell zuletzt sämtliche Atome des von der Hypothese vorausgesetzten Urstoffs als völlig gleich: zwei Atome sind deshalb lediglich durch die Örter verschieden, die sie einnehmen, und durch die daraus sich ergebenden Verschiedenheiten der Beziehung zu andern Atomen. Aber der Ort ist kein konstantes Merkmal des Atoms und ist als stetig wechselnd keine seiner dauernden Eigenschaften. Ein Atom Sauerstoff bleibt ganz dasselbe, ob es im Bach zu Tal stürzt oder im Teiche ruht, ob es im Dunste aufsteigt oder sonst in der Luft umtreibt, ob es im Atem eingesogen oder im Blute dem organischen Gliede zugeführt wird: und es ist in jeder dieser Lagen durch jedes beliebige andere zu ersetzen! D. h. die Atome unterscheiden sich voneinander lediglich durch ein Merkmal, das für ihr Wesen das allergleichgültigste und zufälligste ist. Hierin steckt in der Tat eine ernste begriffliche Schwierigkeit für den Atomismus, und LEIBNIZ hat nicht verfehlt, darauf überall da  43 ) aufmerksam zu machen, wo er den Vorzug seiner Monadologie an dem Principium identitatis indiscernibilium  44 ) deutlich machen und die Erforderlichkeit einer inneren und wesentlichen Verschiedenheit der „Substanzen" dartun wollte. Diese theoretischen Gegensätze hat KANT in der „Amphibolie der Reflexionsbegriffe" mit großer kritischer Deutlichkeit auseinandergelegt.  45 )

Kehren wir aber zu den Annahmen der Identität zurück, die der empirische Verstandesgebrauch aufweist, so ist es wohl zweifellos, daß wir dazu aller jener vermittelnden Schlüsse aus unserm sonstigen Erleben und Wissen nicht zu bedürfen



42) Der antike Atomismus kommt hier nicht in Betracht; denn seine a t o m o i sollten zwar qualitativ gleich (in der einzigen Eigenschaft der Raumerfüllung oder Undurchdringlichkeit), aber quantitativ ungleich, von verschiedener Gestalt und Größe sein.
43) LEIBNIZ, Nouv. Ess. II, 27, 3. Erdm., 277. Briefe an Clarke 5 , 24. E., p. 765.
44) Briefe an Clarke 4 , 5. E., p. 755f. Vgl. Monadologie, § 9. E., p. 705.
45) Kritik d. r. Vern. , A. 271f. u. 281ff, W. W. IV, 175f, u. 181 ff. [18/19]

glauben, sobald uns irgendein Gegenstand in kontinuierlicher Wahrnehmung gegeben ist. Das beweist, worauf es in der konstitutiven Kategorie der Identität wesentlich ankommt: auf die Beziehung einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen auf ein und dieselbe b e h a r r e n d e Wirklichkeit. Dies ist das zeitliche, in der kantischen Bedeutung „sinnliche" Moment, das in jeder konstitutiven Kategorie (im Unterschiede von den reflexiven) steckt. Die beharrende Realität macht das wesentliche an der Identität aus, im Gegensatze einerseits zu der Mannigfaltigkeit der darauf bezogenen Vorstellungen und andererseits objektiv zu der Mannigfaltigkeit der mit dem Identischen im zeitlichen Wechsel verbundenen Nebenbestimmungen. Die Verschiedenheit der Vorstellungen kann dabei entweder (und diesen einfachsten und elementaren Fall nahmen die obigen Beispiele ins Auge) nur in den wiederholten Vorstellungsakten gleichen Inhalts bestehen, oder sie kann auch in den Vorstellungsinhalten, entsprechend den gegenständlichen Veränderungen des Identischen, vorliegen. In dieser Hinsicht erweist sich die Annahme der Identität von der B e g r ü n d u n g durch Gleichheit, die nur einen Spezialfall bildet, unabhängig, und das Maß dessen, was in verschiedenen Vorstellungen gleich sein muß, um mit der Annahme ihrer gegenständlichen Identität vereinbar zu bleiben, ist außerordentlich verschieden und nicht formal eindeutig bestimmbar, sondern methodologisch festzustellen.

In unsrer Auffassung der physischen Wirklichkeit hängt die Identität bald am Stoff, bald an der Form. Ein Stück Wachs bleibt dasselbe, so verschieden die Formen sein mögen, in die ich es knete: die Identität wird durch die zusammenhängende Masse der Materie gebildet. In andern Fällen kann die Materie wechseln, wenn nur die Form dieselbe bleibt. Das alte Beispiel des heraklitischen Flusses, der derselbe bleibt, weil stets ebensoviel Wasser zufließt wie abfließt, ist schon der einfachste Fall dieser Identität der Form bei kontinuierlicher und deshalb unmerklicher Veränderung der Materie. Noch, mehr ist diese Kontinuierlichkeit und Unmerklichkeit des Austausches in dem „Schiff des Theseus" entscheidend  46 ), an dem im Laufe der Jahrhunderte Stück für Stück bei der Reparatur



46) Ein von LEIBNIZ gern herangezogenes Beispiel : Epistola ad Wagnerum, Erdm., p. 466. Nouv. Ess. II, 27, 4. E., p. 278. Vgl. O. LIEBMANN, Gedanken und Tatsachen I , 237. [19/20]

vertauscht wird, und das den Athenern doch, selbst nachdem so alle Teile ergänzt sind, das alte heilige Schiff bleibt. Das bedeutsamste Beispiel endlich bietet der organische Stoffwechsel dar, vermöge dessen die Materie im Lebewesen so stetig ausgetauscht wird, daß nach einer Anzahl von Jahren kein Atom mehr in ihm dasselbe ist, während seine Identität lediglich in der beharrenden Form zu suchen ist. Und auch die Gleichheit der Form ist dabei nur in unbestimmter Allgemeinheit, nicht mit exakter Vollständigkeit maßgebend. Verlust oder Verkümmerung einzelner Glieder heben die Identität des Organismus nicht auf. Wenigstens in gewissen Grenzen: aber ist der enthauptete Frosch, der für die Physiologie so wichtig ist, noch „dasselbe Wesen" wie zuvor?

Aber der Organismus führt uns noch weiter. Verfolgen wir ihn in seiner Entwicklung bis zu seiner letzten Gestalt, vom Nußkern bis zum Baum, vom Embryo bis zum Greis, so ist auch in seiner Form, soweit sie Gegenstand unsrer Wahrnehmung ist, nichts, was sich gleich bliebe: und doch ist es dasselbe, identische Individuum, das in dieser Mannigfaltigkeit von Erscheinungen uns entgegentritt. Hier ist die Identität, den Eindrücken nach, die uns zu ihrer Annahme veranlassen, von der Gleichheit völlig abgelöst und scheint ganz auf die kontinuierliche Allmählichkeit der Wandlungen angewiesen zu sein. Und ist es denn anders mit der Identität eines Volks? Nach etwa 100 Jahren ist jedesmal die Masse der Individuen, aus denen es besteht, völlig ausgetauscht, im Laufe seiner Geschichte schnürt es Stämme von sich ab und assimiliert sich neue, im Wandel der Generationen wechselt es vielleicht sein Land, jedenfalls seine äußeren Lebensformen, seine staatliche, verfassungshafte Gestaltung, seine Interessen und Tätigkeiten; ja selbst sein Eigenstes, seine Sprache, ist vermöge ihrer inneren Lebendigkeit und ebenso ihrer äußeren Geschicke in stetiger Umbildung begriffen: wo ist das Identische in seiner historischen Erscheinung, um dessen willen es durch die Jahrtausende hin „dasselbe Volk" genannt werden darf ? Und wo reißt etwa solche Identität ab? Sind die heutigen Griechen, wie es die Namensbezeichnung nahelegen möchte, noch „dasselbe Volkswesen" wie die alten?

Alle derartigen Fragen, die eine sachliche Lösung verlangen, beweisen, daß die Kategorie der Identität in ihrer An-[20/21]wendung durch die Gesichtspunkte der besonderen Wissenschaften in der verschiedensten Weise determiniert wird. Wenn wir als unwesentliche Eigenschaften eines Gegenstandes, eines Dinges, eines „Wesens" diejenigen bezeichnen, welche aufgehoben oder mit andern vertauscht werden können, ohne daß seine Identität damit in Frage gestellt ist, wesentliche dagegen die, mit denen die Identität steht und fällt, so kann dieser Unterschied in concreto niemals formal logisch, sondern nur methodologisch bestimmt werden, indem jede Wissenschaft nach ihren Erkenntnisaufgaben die Gesichtspunkte der Auswahl des für sie Wesentlichen und damit Identischen normiert. So kann man sich, indem man die obigen Beispiele durchläuft, leicht davon überzeugen, wie verschieden das Prinzip der Identität sich für Physik, Chemie, Biologie, Geschichte spezifiziert.

Trotzdem bleibt in dem Postulat der Identität, auch wo es sich in der Deutung einer Fülle von ungleichen Vorstellungsinhalten entwickelt, mit der Annahme der Selbigkeit diejenige einer beharrenden Gleichheit des wesentlichen Inhalts aufrechterhalten, selbst wenn sie sachlich nicht angegeben werden kann. Dies tritt besonders an dem Beispiel zutage, mit dem man die Reihe der obigen zu krönen hätte: an der Identität des Ich. Wir können keinen einzigen Inhalt angeben, der ihm dauernd aktuell zugehörte: selbst die Vorstellung des eignen Leibes ist nur im Sinne der unmerklichen Allmählichkeit der Umwandlung als konstant zu betrachten, alle übrigen Vorstellungen aber, Kenntnisse, Ansichten, Überzeugungen, alle Gefühlsweisen und Willensrichtungen unterliegen dem heraklitischen Fluß; selbst die konstanteren unter ihnen, die den „Charakter" des Individuums ausmachen, können unter Umständen völlig gegen entgegengesetzte ausgetauscht werden: wir wundern uns darüber vielleicht, aber wir betrachten die Identität der Persönlichkeit dadurch so wenig für gefährdet, wie durch die totalen Umgestaltungen des seelischen Inhalts, die unter Umständen bei geistiger Erkrankung auftreten. Und doch genügen uns die assoziationspsychologischen Darlegungen  47 ), wodurch die „Illusion" der persönlichen Identität begreiflich gemacht werden soll, so wenig, daß das Postulat dieser Identität auch der deutlichen Einsicht gegenüber, daß


47) Vgl. z. B. DAV. HUME, Treat. IV, 6, u. Anhang. [21/22]

ihm durch keine inhaltliche Erkenntnis des konstant Gleichen genügt werden kann, aufrechterhalten zu werden pflegt.

Der konstitutive Sinn der Kategorie der Identität entwickelt sich, wie diese kurzen Bemerkungen schon zeigen, zunächst in der Richtung der Denkformen der Dinghaftigkeit und der Substanz  48 ): aber die Identität erstreckt ihre Bedeutsamkeit auch in die andere Reihe der konstitutiven Kategorien, die der Kausalität. Hierüber seien zum Schluß noch einige Hinweise gestattet.

Schon das sogenannte Kausalitätsbedürfnis, womit wir zu jedem Neuen, das wir erleben, eine Ursache suchen, beruht psychogenetisch auf der Grundvoraussetzung von der Identität der Welt mit sich selbst. Das J a u m a z e i n erwächst daraus, daß etwas anders geworden ist  49 ), und die Frage, woher das Neue komme, setzt voraus, daß es, wenn auch in andrer Erscheinungsform, vorher schon dagewesen sein muß. Auf irgendeine, wenn auch meistens sehr unklare Weise wird also zwischen Ursache und Wirkung trotz ihrer Verschiedenheit, trotz des seit den Okkasionalisten und HUME anerkannten Mangels eines analytischen Zusammenhangs ihrer Inhalte, eine reale Identität gesetzt, und darin besteht der synthetische Charakter der Kategorie. Aus diesen Verhältnissen versteht es sich am einfachsten, daß die Kausalität des Ungleichartigen dem Nachdenken größere Schwierigkeit des Begreifens zu machen pflegt, als die -des Gleichartigen. Andererseits aber fühlt sich das Identitätsbedürfnis im kausalen Denken am besten beruhigt, wenn es Ursache und Wirkung nicht nur in das Verhältnis qualitativer, sondern auch in das quantitativer Gleichheit setzen kann. Daher die Prävalenz des Prinzips „causa aequat effectum" in der naturwissenschaftlichen Theorie. Typisch ist in dieser Hinsicht die cartesianische Vorstellungsweise des physischen Kausalprozesses, wonach es dieselbe, der Materie ein für allemal in unabänderlichem Quantum gegebene Bewegung ist, die bei der Berührung von Druck und Stoß partiell von Körper auf Körper übergeht. Dies Prinzip der Erhaltung der Bewegung ist ebenso wie das von der Erhaltung der Substanz (in KANTS „Analogien



48) Vgl. meine Abhandlung „ Vom System der Kategorien " in der genannten Festschrift, p. 56.
49) Vgl. W. HEUER, Kausalität und Notwendigkeit (Heidelberg 1907), p. 25 ff. [22/23]



der Erfahrung") oder wie das heutige der Erhaltung der Energie nur eine methodologisch in der Anpassung an die Erfahrungswissenschaft ausgearbeitete Spezifikation des Postulats der Identität der Welt mit sich selbst in allem Wechsel ihrer Erscheinungen, des alten eleatischen Prinzips.

Aber noch in einer andern Richtung gräbt sich das allbeherrschende Postulat der Identität in das kausale Denken ein. Je ungleichartiger Ursache und Wirkung sind, je mehr das Fehlen ihres analytischen Zusammenhangs zutage tritt, um so deutlicher wird es, daß das bloße Zeitverhältnis, auch wenn es sich noch so oft tatsächlich wiederholt, die Notwendigkeit nicht begründen kann, die zu den unerläßlichen Merkmalen der Kategorie der Kausalität gehört. In diese Lücke tritt nun die Gleichmäßigkeit der sich wiederholenden Zeitfolgen, um als Prinzip der Identität im Geschehen die Notwendigkeit auszudrücken.  50 ) Indem die Regelmäßigkeit, d. h. die Abhängigkeit jedes besonderen Geschehens von „einer Regel" in den Begriff der Kausalitätskategorie aufgenommen wird, so daß ex definitione alles Geschehen als gesetzmäßig gedacht wird  51 ), verwandelt sich das Gleiche, das in der Mannigfaltigkeit der Tatsachen des Geschehens reflexiv als dessen Gattungsbegriff gedacht wird, in die reale Identität, die den Zusammenhang von Ursache und Wirkung bestimmt. Der Allgemeinbegriff des Geschehens „gilt" nicht mehr bloß im Sinne der reflexiven Kategorie für alle darunter begriffenen einzelnen Tatsachen, sondern er wird als bestimmende Gegenständlichkeit im Sinne der konstitutiven Kategorie gedacht. Sobald wir im Begriffe des Gesetzes eine gegenständliche Abhängigkeit des besonderen Geschehens von der „allgemeinen Regel" denken (und nur unter dieser Voraussetzung scheint das erfolgreiche Voraussehen von zukünftigen Erlebnissen begründet), haben wir die reflexive Gleichheit in die konstitutive Identität verwandelt. Wir können freilich den „Gesetzen" weder eine dinghafte noch eine funktionelle Realität im Sinne der empirischen Weltvorstellung zuschreiben: aber wir können ihren Erkenntniswert ebensowenig



50) Eine Hindeutung auf dieses Verhältnis gibt TRENDELENBURG, Logische Untersuchungen II 2 , 188.
51) KANT, Kritik der rein. Vernunft, zweite Analogie der Erfahrung. A., p. 189. W. W. IV, 128; sehr viel deutlicher und besser als B., p. 232, W. W. III, 166. [23/24]

auf jenes „Gelten" im Sinne der reflexiven Gleichheitsbegriffe des diskursiven Denkens einschränken. Wir müssen für diese Art des o n t w V o n   52 ) auch eine besondere Art des Wahrheitswertes ausfindig machen, ähnlich, wie sie PLATON für seine o u s i a als den Inbegriff der „geltenden" Gattungsbegriffe des Seins in Anspruch genommen hat. Was eine solche metaphysische Realität zu bedeuten hätte, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Es genügt festzustellen, daß die uralten und ewig neuen Probleme, die zwischen Nominalismus und Realismus hin und her gewälzt werden, sich auf die einfache Formel bringen lassen: ob, wieweit und mit welchem Rechte sich reflexive Beziehungen der Gleichheit in konstitutive Beziehungen der Identität umdeuten lassen.



52) Vgl. LOTZE, Logik , § 317 ff.



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