Über Zeit und Raum.





Von





Professor Dr. A. Döring,


Gymnasialdirektor a. D. und Privatdozenten an der Berliner Universität.












I.Vortrag über das Wesen der Zeit.

II.Thesen über das Wesen des Raumes mit Erläuterungen.









Berlin 1894.


R. Gaertners Verlagsbuchhandlung


Hermann Heyfelder.


SW. Schönebergerstrasse 26.








I. Über das Wesen der Zeit.


(Weitere Ausführung eines 1892 in der Philosophischen Gesellschaft gehaltenen Vortrages.)




Die Frage nach dem Wesen der Zeit ist von mir nach neuer Methode und mit neuem Resultat schon 1890 in einem Aufsatz in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie (XIV. 4, 381-416) behandelt worden. Gegenwärtige Darstellung weicht weder hinsichtlich des Verfahrens, noch hinsichtlich des Resultats von jener früheren ab, doch glaube ich dieselbe, da sie nicht nur durch Ausscheidung mancher historisch-kritischer Partien gedrängter, sondern auch durch verbesserte Anordnung und vertiefte Fassung deutlicher und korrekter gestaltet worden ist, als eine wesentlich neue, die frühere erläuternde, ergänzende und selbst berichtigende Arbeit bezeichnen zu dürfen.
Die Frage nach dem Wesen der Zeit scheint mir durch die bisherigen Untersuchungen noch nicht erheblich über das Niveau emporgehoben zu sein, auf dem sie die geistvolle und lesenswerte Erörterung des heiligen Augustinus in den Confessionen gelassen hat, die sich bekanntlich in der Formel zusammenfasst: Si non rogas, intelligo, rogatus nescio. Wenn wir die Summe der nach den bisherigen Erörterungen sich darbietenden Möglichkeiten ziehen, so haben wir die Wahl zwischen drei Standpunkten: Die Zeit ist entweder etwas Wirkliches, der Welt der Dinge an sich Angehörendes, das durch Wahrnehmung erfasst wird, oder sie ist eine apriorische, d. h. durch eine Funktion unsrer intellektuellen Organisation erzeugte, also ausschliesslich dem Subjekt angehörige Form der Anschauung, der in der Welt der Dinge an sich nichts entspricht, oder sie ist beides, nämlich einesteils ein Wirkliches, andernteils eine nicht durch Wahrnehmung [3/4] entstandene, sondern angeborene, also entweder durch eine schöpferische Präformation, eine prästabilierte Harmonie, oder durch allmähliche Anpassung und Vererbung entstandene, der Seinsform des Wirklichen parallel gehende, von ihr unbeeinflusst doch mit ihr konform fungierende Form der Anschauung.
Von diesen drei Annahmen ist keine haltbar. Wollten wir die Zeit für etwas Wirkliches ausgeben, so würde uns die Aufgabe erwachsen, sie in einer der vier Kategorien des Wirklichen unterzubringen. Diese vier Kategorien des Wirklichen sind folgende: 1. Ding, d. h. selbständig bestehender Träger von Eigenschaften und Zuständen, Ausgangspunkt von Funktionen oder Aktionen, Beziehungspunkt von Verhältnissen zu anderen Dingen. Die Kategorie des Dinges muss hier in so weitem Sinne genommen werden, dass unter ihr auch die primitiven Elemente des selbständig Seienden, wie sie von den verschiedenen naturphilosophischen Theorien angenommen worden, z. B. die Kraftpunkte der dynamischen Theorie, Platz finden. 2. Eigenschaft, 3. Zustand, wohin auch Thätigkeit (Funktion, Aktion, Kraftwirkung) gerechnet werden kann, weil auch diese in erster Linie als ein Zustand des wirkenden Dinges betrachtet werden kann. 4. Verhältnis.
Wohin der Versuch, die Zeit als ein Ding zu fassen, führt, kann uns das Beispiel Newtons lehren, der diese Auffassung in den Principia folgendermassen formuliert: Tempus absolutum, verum et mathematicum in se et natura sua absque relatione ad externum quodvis aequabiliter fluit, alioque nomine dicitur Duratio. Diese Anschauung wird auch noch durch folgende Worte erläutert: accelerari et retardari possunt motus omnes, sed fluxus temporis absoluti mutari nequit. Hier ist ein fungierendes Etwas, das aber durch nichts anderes, als durch das Wesen seiner Funktion bestimmt wird, das zur Funktion als Träger derselben hinzugedacht worden soll, ohne aber doch selbst etwas anderes zu sein, als die Funktion selbst. In seltsamem Widerspruche zu dieser ruhelosen Aktion steht ferner die von Newton gewählte Parallelbezeichnung als Duratio. Wir hätten hier das Etwas Kants, das „ohne wirklichen Gegenstand dennoch wirklich wäre", das eine der beiden „ewigen und unendlichen, für sich bestehenden Undinge" (Kr. d. r. V. Ros. 42 und 47). [4/5]
Mit der Fassung als Eigenschaft oder Zustand im engeren Sinne kann ein verständlicher Sinn trotz aller Bemühungen überhaupt nicht verbunden werden. Zunächst müssten wir doch das Ding aufweisen können, an dem die Eigenschaft oder der Zustand haftete, und sodann müsste doch irgend eine Möglichkeit geboten sein, aus solchen Eigenschaften oder Zuständen das abzuleiten, was wir als das eigenartig Zeitliche kennen. Hier versagt aber jeder Versuch, mit den Worten einen verständlichen Sinn zu verbinden, und es ist wohl auch noch niemals versucht worden, von diesen Kategorien aus dem Rätsel der Zeit zu Leibe zu rücken.
Versuchen wir es mit der Funktion oder Aktion, so berührt sich diese mit der Newtonschen Fassung, nur dass wir jetzt die Freiheit haben, die Aktion auch anders zu bestimmen, denn als ein ewiges gleichmässiges Fliessen, und ferner auch sie an ein anderes Subjekt zu heften, als an das unfassbare, im Nebel zerfliessende der Newtonschen Konzeption, z. B. etwa an die endlichen Dinge. Aber es will auch hier nicht gelingen, irgend eine Vorstellung zu Tage zu fördern, die sich mit dem deckte und die das aufhellen könnte, was uns als das Wesen der Zeit dunkel und unfassbar vorschwebt.
Die Fassung als Verhältnis endlich ist von Leibniz und seiner Schule versucht worden. Dies Verhältnis existiert zunächst (nach Kants Formulierung in der Inauguraldissertat.) als successio statuum internorum, wird dann aber durch Abstraktion von diesen innern Zuständen verselbständigt zu einem abstractum reale a successione statuum internorum. Aber dieses abstractum reale, die leere Zeit, ist dann doch nichts weiter als eine ideale, d. h. unwirkliche Möglichkeit eben der Zustände, von denen die Vorstellung abstrahiert ist, eine Möglichkeit, die immer erst wieder zur Wirklichkeit wird, wenn etwas Wirkliches succediert, also an sich selbst genommen kaum dem Wirklichen zugezählt werden kann. Dass hier eine Ahnung des Richtigen vorliegt, wird sich aus der Darlegung meiner eigenen Auffassung ergeben. Genauere Ausführungen über diesen Standpunkt finden sich in meiner oben angeführten Abhandlung S. 392 f, 398 f.
Vorstehende Widerlegung leidet mit Notwendigkeit an einer fundamentalen , nicht wegzuschaffenden Schwierigkeit dadurch, [5/6] dass bei allen diesen Subsumtionsversuchen von der doch schlechthin unzugänglichen, nicht zu analysierenden Vorstellung der Zeit selbst ausgegangen wird. Wie kann ich hoffen, etwas subsumieren zu können, dessen Wesen, dessen konstituierende Merkmale, dessen Teilvorstellungen, dessen Inhalt ich nicht kenne? Diese vergeblichen Versuche deuten darauf hin, dass ein ganz andrer Weg betreten worden muss, auf dem zunächst ein begrifflicher, vergleichungs- und subsumtionsfähiger Inhalt gewonnen wird. Dieser Weg ist der der Unterscheidung des als wirklich gegebenen Zeitlichen von der Zeit. Immerhin aber mussten schon an dieser Stelle diese notwendig unvollkommen bleibenden Subsumtionsversuche angestellt werden, um wenigstens vorläufig dem Denken einen Weg zu verlegen, der auf keinen Fall zum Ziele führen kann, weil er ein Holzweg ist, um durch den missglückenden Denkversuch den Eindruck hervorzurufen, dass durch dies Verfahren keine Aufklärung zu gewinnen ist.
Den entgegengesetzten Weg schlug Kant ein. Er tritt den Beweis an, dass die Zeit ausschliesslich eine aus der Einrichtung unsrer intellektuellen Organisation entspringende Form der Anschauung ist. Diese Hypothese entrückt uns mit einem Male der unangenehmen Notwendigkeit, für die Zeit in einer der Kategorien des Wirklichen ein Unterkommen suchen zu müssen. In der That ist Kant in seinen Ausführungen da am glücklichsten, wo er auf die Unmöglichkeit dieser Subsumtion zu sprechen kommt. Zwar hat er nirgends diesen Nachweis in systematischer Vollständigkeit, so wie er vorstehend versucht wurde, angetreten, aber in zahlreichen Stellen der Dissertation (vergleiche meine Abhandlung S. 395 f.), wie der Vernunftkritik, blickt dies vierteilige Schema in mehr oder minder unvollständiger Fassung und summarischer Verkürzung durch und die Denkunmöglichkeit der Subsumtion ist geradezu eins der Argumente, durch die er seine eigene Hypothese zu empfehlen sucht.
Aber die Annehmlichkeit der Befreiung von diesem Subsumtionsproblem und die Aussicht, eine andere, von demselben nicht gedrückte, Wesensbestimmung der Zeit zu gewinnen, muss mit schweren Opfern erkauft werden. Wir werden hier fast an den Bären in der Fabel erinnert, der seinem Herrn vermittelst [6/7] eines Feldsteins eine Fliege vom Gesicht scheuchte, ihm bei dieser Gelegenheit aber gleichzeitig den Kopf zu Brei zermalmte. Kant verdient nicht nur durch seine Kritik der theologisierenden Metaphysik des Dogmatismus, sondern auch durch seine Lehre von der Erfahrungswelt und vorab durch seine Zeit- und Raumtheorie, den Namen des Alleszermalmers; er ist der Halbgott, der die schöne Welt zerschlägt. In der Wirklichkeit der Dinge succediert nichts mehr; Schall und Licht, die successio statuum internorum wie der Ausdruck, den wir derselben durch Sprachlaute zu geben vermeinen, sind nur Phantome, Ausgeburten eines Geheimnisvollen und unbegreiflichen Mechanismus im Ding an sich unsres Ich. Hier ist ein Idealismus, der in diesem Punkte den von ihm so scharf perhorreszierten des „guten Berkeley" (V-krit. Ros. 719) weit überholt, da es Berkeley nie eingefallen ist, die Wirklichkeit der zeitlichen Vorgänge anzuzweifeln. Aber die Konsequenz seiner Zeittheorie bringt sogar das einzige Bollwerk, das er zwischen sich und dem Berkeleyschen Idealismus aufgerichtet hat, die wirkliche Affektion des Subjekts durch die Dinge an sich, in die ernstlichste Gefahr der Überrumpelung. Denn auch ohne den Widerspruch, in den Kant sich bekanntlich mit dieser realistischen Lehre zu seinen Kategorien der Substantialität und Kausalität gesetzt hat, droht der realen Affektion schon durch die Idealität der Zeit der Untergang und damit dem Subjekt das Los des Versinkens in die nur durch die Erzeugnisse eigener produktiver Phantasiethätigkeit gemilderte Isolierhaft des Solipsismus. Ist nicht Affektion Verursachung, ursächliche Funktion? Und kann Verursachung anders gedacht werden, als in zeitlicher Succession von Ursache und Wirkung? Jedenfalls bleibt nur die Wahl zwischen zeitloser Affektion und der solipsistischen Konsequenz.
Uns in so schreckliche Konsequenzen zu ergeben, müssten wir jedenfalls durch die allerbündigste, unentrinnbarste Begründung der kantischen Hypothese genötigt werden. An einer so gearteten Begründung aber fehlt es bei Kant durchaus, denn abgesehen von den negativen Argumenten gegen die Wirklichkeit der Zeit, in denen er glücklich ist, die aber nicht der Richtigkeit seiner Theorie zu gute kommen, ruht dieser Bau ganz auf den [7/8] fünf Zeitargumenten, die aber wiederum auf sandigem Boden ihre Widerlager haben.
Für Sinn und Wert dieser Zeitargumente kann jetzt auf den 1892 erschienenen 2. Band von Vaihingers Kommentar zur Krit. der r. V. verwiesen werden, in dem dieselben eine erschöpfende und tief eindringende Erläuterung erhalten. Nur in äusserster Kürze kann hier auf die Bedeutung der einzelnen Argumente und den Grund ihrer Unzulänglichkeit hingewiesen werden.
1. Die Zeit muss a priori sein, denn die zeitlichen Grundverhältnisse des Zugleich und Nacheinander würden sonst nicht wahrgenommen werden. - Dies Argument ist zunächst unvollständig, da ausser den genannten zeitlichen Verhältnissen auch noch anderes Zeitliches vorkommt, z. B. die absolute, nicht durch Beziehung auf ein Zugleich bestimmte Dauer als zeitliche Eigenschaft, das zeitliche Element in der Bewegung, das diese zu einem zeitlich bestimmten Zustande stempelt. Ferner aber wird dies Argument nicht erwiesen, sondern ist nur Folgesatz aus dem durch eine blosse petitio principii gewonnenen allgemeinen Grundsatz, dass das, worin sich die Empfindungen ordnen, nicht selbst wieder Empfindung sein könne, vielmehr a priori im Gemüt bereit liegen müsse. Die Behauptung der Nichtwahrnehmbarkeit der zeitlichen Grundverhältnisse ohne Apriorität der Zeit beruht nicht auf einer Untersuchung des thatsächlichen Befundes; es wird nicht erwiesen, dass die Wahrnehmung des Zeitlichen ohne jene Bedingung nicht stattfinden kann, sondern es wird dies nur auf Grund des axiomatisch aufgestellten allgemeinen Grundsatzes behauptet.
2. Die Zeit ist a priori, denn sie hat das zur Begründung der Apriorität allein schon ausreichende Merkmal (Ros. 697) der Denknotwendigkeit. Diese wird hier nicht als absolute Denknotwendigkeit behauptet, sondern nur in dem relativen Sinne, dass sie „in Ansehung der Erscheinungen" nicht aufgehoben werden könne. In dieser Einschränkung auf die Erscheinungen liegt nun zunächst wieder eine petitio principii, da unter Erscheinung hier offenbar die Erscheinung im spezifisch kantischen Sinne verstanden ist, nach dem die Zeit ausschliesslich dem Gebiete [8/9] der Erscheinung angehört. Ferner aber reduziert sich die behauptete Denknotwendigkeit der Zeit für unsre Erscheinungswelt in Wirklichkeit auf die gegebene Thatsächlichkeit des Vorstellens, während wir an sich, wie schon das Beispiel der kantischen Dinge an sich beweist, ganz wohl eine Welt ohne Zeit vorstellen können. Damit zerrinnt der schon generell völlig unhaltbare, einem rückständigen rationalen Dogmatismus angehörige Begriff der Notwendigkeit auch in seiner Anwendung auf den vorliegenden Fall völlig in Nichts und mit ihm die Apriorität. Übrig bleibt nur die Gewissheit, dass unsre Welt thatsächlich eine zeitlich bestimmte ist.
3. Das dritte Argument redet von Zeitaxiomen, „apodiktischen Grundsätzen von den Verhältnissen der Zeit" und führt deren einige an. Dies scheint aber doch nur eine ad hoc ersonnene Nachbildung des betreffenden Raumarguments zu sein (das übrigens beim Raume in der 2. Auflage in die „transcendentale Erörterung" verwiesen worden ist; über diese höchst komplizierten Verhältnisse der einzelnen Gedanken im Beweisgange muss ich auf Vaihinger verweisen). Diese Zeitaxiome nun nehmen (worüber wieder Vaihinger des Näheren zu vergleichen) eine unklare Zwitterstellung ein; einesteils wird ihre Möglichkeit aus dem apriorischen Charakter der Zeit abgeleitet und erscheint somit als blosse Folgerung aus dem zweiten Argument; andernteils aber wird ihre Thatsächlichkeit als Axiome wieder geltend gemacht als Beweis für die Apriorität der Zeit, da sie eben wegen dieser axiomatischen Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit aus der Erfahrung nicht entspringen könnten. Lassen wir nun die erstere Seite dieses zwiespältigen Gebildes bei Seite und halten uns an die zweite, nach der allein diese Ausführung den Charakter eines Argumentes hat, so ist hier doch nur der Gleichförmigkeit zu Liebe über den Leisten des betreffenden (noch dazu später in einen anderen Zusammenhang verwiesenen) Raumarguments ein paralleles Zeitargument geformt worden.
Das vierte und fünfte Argument zielt nicht auf Apriorität, sondern auf Anschauungsmässigkeit der Zeit. Das Interesse ist hier, die Zeit von den Verstandesformen zu trennen und den Formen der Sinnlichkeit zuzuweisen. Kant sondert nicht genug [9/10] zwischen den unbewusst intellektuellen Funktionen, die er annimmt und die nach dem Sinne seiner Theorie das Ursprüngliche sein müssen, und den Vorstellungen von diesen Funktionen, die wir uns auf Grund ihrer Wirksamkeit bilden. Dadurch entsteht grosse Unklarheit. Der Ausdruck Form deutet auf die Funktion hin, wenngleich er freilich im allgemeinen Grundsatz von im Gemüte bereitliegenden Formen redet. Hier nun haben wir es mit der aus der Funktion entspringenden Zeitvorstellung zu thun. Er sucht zu beweisen, dass diese nicht Gattungsbegriff, sondern Anschauung d. h. Individualvorstellung ist. Es ist merkwürdig, dass ihm mit einem Male die vulgäre, dem natürlichen Vorstellen entspringende Zeitvorstellung bedeutungsvoll wird. Er bedenkt nicht, dass sich an diese thatsächlich und unvermeidlich die Annahme des Wirklichseins als Ding anhaftet, also hier wieder das „unendliche Unding" zu Tage kommt (vergl. früh. Abhandlung S. 397 f). Er bedenkt nicht, dass die Zeit eben ein ungelöstes Problem ist und die vulgäre Vorstellung nicht massgebend sein kann. Wir müssen für das erst noch festzustellende Wesen der Zeit die Bezeichnung als Anschauung ablehnen. Es lohnt sich daher garnicht in eine Prüfung der beiden letzten Argumente einzutreten. Wir können ihm gern zugeben, dass für die vulgäre Auffassung die Zeit Individualvorstellung ist, leugnen aber, dass damit irgend ein Schritt zur Erkenntnis des wahren Wesens der Zeit geschehen ist. Natürlich verwendet er selbst diese vulgäre Auffassung als Anschauung für seine Zwecke, indem er die Zeitvorstellung hinterher als „reine", d. h. auf Grund der subjektiven Funktion entsprungene Anschauung erklärt; aber für uns ist dies nicht massgebend.
Die ganze Argumentation Kants für eine so grundlegende oder vielmehr grundstürzende Lehre leidet an einer Kargheit, Knappheit, Unbestimmtheit und Schwerzugänglichkeit der sprachlichen Darstellung, die das Verständnis sehr erschwert. Die hier freilich nur angedeutete Prüfung seiner Argumente ergiebt, dass er den Beweis für seine Hypothese nicht erbracht hat. Es liesse sich dem Vorgebrachten noch vieles beifügen, aber es handelt sich hier nicht um kritische Negation, sondern um positive Begründung einer neuen befriedigenden Lehre. [10/11]
Die dritte Theorie ist die allerunbefriedigendste, weil sie die Schwierigkeiten der beiden vorhergehenden in sich vereinigt und noch eine neue hinzufügt. Zunächst ist hier die Zeit etwas Wirkliches, ein Bestandteil der wirklichen Welteinrichtung. Hier erheben sich aufs neue die Bedenken, die dieser Fassung im Wege stehen. Sodann ist sie unabhängig von dieser Wirklichkeit eine apriorische Funktion. Hier gilt zunächst das gegen die kantische Hypothese Vorgebrachte, das Unerwiesensein. Man war auf diesem Standpunkte in der Lage eine besondere Härte der kantischen Theorie, nämlich die starre zeitlose Existenzweise der mit der Zeitform ausgestatteten intellektuellen Organisation, durch die Annahme einer allmählichen Erwerbung durch Anpassung an die Wirklichkeit und Übertragung durch Vererbung zu beseitigen. Diese Theorie hat aber doch ein Innewerden des zeitlichen Charakters der wirklichen Welt in irgend einem Sinne und Masse zur Voraussetzung und steht also im Widerspruche mit der vorausgesetzten rein apriorischen, nicht von der Wirklichkeit aus bestimmten, sondern nur dieser konformen und parallelen Einrichtung unsrer Organisation. Will man aber an dieser festhalten, so verwickelt man sich eben in die dritte Schwierigkeit, nämlich in die abenteuerliche und unheimliche Annahme einer prästabilierten Harmonie zwischen der Weltwirklichkeit und der intellektuellen Funktion, eines parallelen Ablaufs ohne realen Kontakt, ohne wirkliche Affektion. -
Mein Verfahren nun zur Beseitigung dieser Schwierigkeiten und zur Gewinnung einer haltbaren Einsicht in das Wesen der Zeit beruht auf zwei grundlegenden Voraussetzungen.
1. Es ist streng zu unterscheiden zwischen der Zeit und dem Zeitlichen. Das Zeitliche ist dasjenige am Seienden, das die Zeit als Bedingung seiner Möglichkeit zur Voraussetzung hat, selbst aber in der inneren Empfindung, im Bewusstseinsverlauf, als dessen Seinsform unmittelbar und intuitiv gegeben ist und ebenso, sobald wir das affizierende Korrelat eines Teils unsrer Bewusstseinsvorgänge, die Aussenwelt, als realiter existierend annehmen, auch in dieser in mannigfachster Weise sich darbietet. Es ist als Objekt innerer und indirekt auch äusserer Wahrnehmung der Erkenntnis und der Klassifizierung und Rubrizierung unter [11/12] die Kategorien des Wirklichen zugänglich. Das Nähere über diese Rubrizierung kann erst bei der Untersuchung über das Wesen des Zeitlichen an späterer Stelle (Abschnitt II und III) gegeben worden. Die Zeit ist diejenige Bedingung der Möglichkeit des Zeitlichen, die uns zwar selbst nie unmittelbar gegeben werden kann, aber auf Grund der Wirklichkeit des Zeitlichen als reales Ingrediens der Welteinrichtung vorausgesetzt werden muss, und auf deren Beschaffenheit aus dem Wesen des Zeitlichen geschlossen werden kann.
2. Ermittelung des Wesens der Zeit aus dem Zeitlichen durch eine Erweiterung des Kausalschlusses zu einem Schlusse auf die Totalität der Bedingungen eines Wirklichen. Um den Sinn dieser Erweiterung des Kausalschlusses genauer bestimmen zu können, bedarf es einer Begriffsbestimmung und klassifizierenden Einteilung der Bedingung. Bedingung ist alles das, was zum Wirklichwerden oder zur Möglichkeit eines Wirklichen vorausgesetzt werden muss. Es giebt wirkende Bedingungen oder Bedingungen des Wirklichwerdens und ruhende Bedingungen oder Bedingungen der Möglichkeit. Unter den wirkenden Bedingungen ist die hervorstechendste, aber keineswegs die einzige, die eigentliche causa efficiens. Sie ist die wirkende Bedingung im eigentlichsten und engsten Sinne. Ausser ihr aber giebt es stets noch eine umfangreiche Gruppe von wirkenden Bedingungen im weiteren Sinne oder Mitursachen. Diese gliedern sich nach dem Gesichtspunkte des näheren oder entfernteren Zusammenhangs mit dem in Rede stehenden Geschehen in eine Skala des Näheren und Entfernteren. Die nächsten Mitursachen sind die unmittelbar mitwirkenden; sie stehen der causa efficiens so nahe, dass meist die Bestimmung der causa efficiens zweifelhaft bleibt. Es ist meist vom Standpunkte der Betrachtung abhängig, was man als die conditio qua, was als die conditio, sine qua non ansehen will. Jede dieser näheren oder unmittelbaren Bedingungen hat wieder eine unendliche Kausalkette hinter sich und schliesslich steht hinter jedem einzelnen Geschehen im Weltzusammenhange das gesamte Weltgeschehen als wirkende Bedingung im Hintergrunde. Nach einem anderen Gesichtspunkte könnte auch eingeteilt werden in ständig wirkende und [12/13] momentane oder dem singulären Falle angehörige Bedingungen. Unter den letzteren wird sich selbstverständlich die causa efficiens befinden. Die ruhenden Bedingungen oder Bedingungen der Möglichkeit sind diejenigen, von denen eine Aktion nicht ausgeht, die aber als Voraussetzungen der Möglichkeit jeder in Betracht kommenden Aktion notwendig gesetzt werden müssen. Die ruhenden Bedingungen sind als Bedingungen real, als nicht wirkend unwirklich. Es giebt nämlich eine leere, d. h. der Wirklichkeit ihrer Bedingungen entkleidete und eine reale, d. h. durch Wirklichkeiten begründete Möglichkeit. Erstere ist die blosse Vorstellungs- und Phantasiemöglichkeit. Ich kann mir z. B., um einen Fall aus einem konkreteren Gebiete heranzuziehen, vorstellen, im Kriege verwundet zu werden oder in der Lotterie zu gewinnen, auch wenn gar kein Krieg ist, oder ich doch nicht dabei beteiligt bin, oder ich kein Los besitze. Auf den hier entgegentretenden schwierigen Unterschied von real und wirklich, der für die ganze Untersuchung von ausschlaggebender Bedeutung ist, muss an späterer Stelle zurückgekommen werden.
Veranschaulichen wir uns diesen grundlegenden Punkt durch einige Beispiele. Es wird jemand durch einen vom Dache fallenden Ziegel verletzt. Die causa efficiens ist hier wohl der Fall des Ziegels mit einer bestimmten Intensität, in einer bestimmten Richtung, an einem bestimmten Orte. Hinter dieser causa efficiens steht wieder eine Fülle indirekter wirkender Ursachen: Die Umstände, die eine etwaige Lockerung des Ziegels bewirkt haben, der Sturmwind, der ihn vollends losreisst, die Schwerkraft, die ihm Richtung und Intensität der Bewegung verleiht. Die Schwerkraft bildet zugleich ein Beispiel für die Species der ständig wirkenden Bedingungen. Die nächste oder direkte Mitursache der Verletzung ist die Anwesenheit des Verletzten am Orte des Falles, hinter der wieder eine in mannigfachster Weise auszumalende Kausalkette steht. Die Möglichkeit der Verletzung überhaupt oder doch des Schweregrades derselben ferner ist bedingt durch das Fehlen einer genügend schützenden Hülle an der betreffenden Stelle, das wieder durch die mannigfachsten indirekten Mitursachen bedingt sein kann. Fragen wir [13/14] endlich nach den ruhenden Bedingungen des ganzen hier vorliegenden Geschehens, so kommen wir auf Raum und Zeit.
Ein anderes Beispiel: Es wird jemand zufällig erschossen. Hier bleibt die Bestimmung der causa efficiens im höchsten Grade zweifelhaft. Ist es das Abdrücken des Gewehres? Das Geladensein? Die Richtung des Laufes auf den Getroffenen? Die Fahrlässigkeit oder Kurzsichtigkeit dessen, der das Gewehr handhabt? Ständig wirkende Bedingungen sind hier die Explosionsfähigkeit des Pulvers, die Überwindung der Schwerkraft und der Beharrung durch die Explosion bis zur Versetzung eines schweren Objekts in eine ausserordentlich schnelle Bewegung, die Bedingungen der Widerstandsfähigkeit des Gewehrlaufes, durch die das Objekt seine Richtung erhält, kurz alle möglichen mechanischen und physikalischen Gesetze. Ruhende Bedingungen sind auch hier Zeit und Baum als Bedingungen der Möglichkeit der Bewegung. -
Indem nun nach diesen beiden grundlegenden Voraussetzungen die Untersuchung angestellt wird, entsteht die doppelte Aufgabe, einmal das wirkliche Zeitliche zunächst in den Bewusstseinsvorgängen und sodann in den das Bewusstsein affizierenden Vorgängen der Aussenwelt festzustellen, andernteils die daraus sich ergebenden Schlüsse auf das Wesen der Zeit zu ziehen. Indem wir jede dieser beiden Untersuchungen gesondert zunächst für den Bewusstseinsverlauf und sodann für die Aussenwelt anstellen, ergiebt sich folgende Vierteilung der Untersuchung:
1.Das wirkliche Zeitliche des Bewusstseinsverlaufs;
2.Bestimmung des Wesens der Zeit daraus;
3.Das wirkliche Zeitliche der Aussenwelt;
4.Zusätzliche Bestimmungen zum Wesen der Zeit daraus.

I. Das wirkliche Zeitliche des Bewusstseinsverlaufs.

Hier muss zunächst, ehe wir den Versuch machen, das hierher gehörige Zeitliche nach den Kategorien des Wirklichen zu rubrizieren, ein fundamentaler von Kant erhobener Einwand beseitigt werden. „Einsehende Männer" hatten ihm, wie er in der Vernunftkritik berichtet, den Einwurf gemacht, dass zwar nicht beim Raume, dessen Realität die Wirklichkeit der Aussenwelt zur [14/15] Voraussetzung hat, aber doch bei der Zeit, die am Bewusstseinsverlauf haftet, durch sie bedingte Vorgänge unmittelbar, intuitiv gegeben seien. Der Einwurf beschränkt sich speziell auf das Phänomen des Wechsels unsrer Vorstellungen, das die Wirklichkeit von Veränderungen (also von Succession) beweise. Kant fasst aber seine Entgegnung so generell, dass dadurch die Wirklichkeit alles und jedes Zeitlichen, das an den Bewusstseinsvorgängen zu Tage tritt, geleugnet wird. Ehe wir also versuchen, das Zeitliche am Bewusstseinsverlauf zu spezialisieren und zu rubrizieren, müssen wir uns durch Erledigung dieser Grundfrage die Bahn frei machen; ehe wir nach dem Was des wirklichen Zeitlichen im Bewusstseinsverlauf fragen, muss das Dass desselben, die Wirklichkeit selbst, unumstösslich festgestellt werden.
Die schärfste Formel Kants findet sich nicht im Anschluss an den Einwand, wo er eigentlich nur seine Behauptung, dass die Zeit subjektiv sei, wiederholt (Vaihinger, Kommentar II S. 403), sondern an einer späteren Stelle, Ros. 747. Sie lautet: „Wir schauen uns nicht an, wie wir sind, sondern wie wir affiziert werden." Dies Affiziertwerden geht hier nicht aus vom unbekannten Gegenstande an sich, sondern es besteht in der verzeitlichenden Einwirkung unsrer Organisation, in der die Formen bereit liegen.
Hier liegt nun aber schon in dem Ausdruck Affiziertwerden als Bezeichnung eines kausalen Vorganges, falls wir nicht auch hier, wie bei der Affektion durch die Dinge an sich, den Kausalvorgang zeitlos denken sollen, die Forderung der Zeit als Bedingung eingeschlossen. Lassen wir aber auch diesen schwierigen Punkt bei seite und geben wir ihm ferner einen Augenblick seine ganze Theorie der Entstehung des Zeitlichen des Bewusstseinsverlaufs durch die Affektion von seiten unsrer Organisation zu, so ist doch das Resultat dieser Affektion, der zeitliche Bewusstseinsverlauf, ein wirklicher Vorgang im Weltgeschehen, der als wirklicher die Bedingung seiner Möglichkeit fordert. Mögen die zeitlichen Bewusstseinserscheinungen verursacht sein, wie sie wollen, meinetwegen nach der kantischen Theorie, sie sind ein intuitiv erkanntes Wirkliches. Die „einsehenden Männer" hatten ihren Einwand nicht scharf genug formuliert und so gewinnt die kantische Widerlegung etwas Schein-[15/16]bares; thatsächlich aber ist hier die erste grosse Lücke in der kantischen Theorie, durch die allein schon der Realismus unaufhaltsam eindringt, um den ganzen Bau zu zersprengen. Der Bewusstseinsverlauf auch nach dem kantischen Rezept entstanden hat wirkliche zeitliche Attribute. (Vergl. hierzu. auch den früheren Aufsatz S. 399 f).
Analysieren wir nun den Bewusstseinsverlauf behufs Aussonderung der zeitlichen Momente an ihm, so ergeben sich folgende Punkte:
1. Setzen wir das den gegenwärtigen Moment des Bewusstseinsverlaufs ausfüllende Element als ein schlechthin einfaches und isolieren es zugleich gegen die vorhergehenden und nachfolgenden Elemente, gleichviel ob dieselben ihm qualitativ gleichartig oder von ihm verschieden sind, so finden wir schon an diesem einfachen und zeitlich unausgedehnten Elemente eine zeitliche Eigenschaft, nämlich die Eigenschaft, eine Zeitstelle, das Jetzt oder die Gegenwart im strengen Sinne, auszufüllen.
2. Bleibt die Bewusstseinslage hinsichtlich des angenommenen einfachen Elements im Anschluss an den vorstehend isolierten Moment unverändert, so kommt dem Bewusstseinsinhalt ein zeitlicher Zustand zu, der Dauer heisst.
3. Tritt an die Stelle des vorher vorhandenen Elements ein anderes, von ihm qualitativ verschiedenes, so findet zwischen den beiden Elementen ein zeitliches Verhältnis, das der Succession, statt. Man könnte vielleicht auch den unter 2 bezeichneten Zustand der Dauer als ein Verhältnis der Succession auffassen, indem man für das Zustandekommen desselben das Eintreten eines neuen, qualitativ verschiedenen Bewusstseinselements nicht für erforderlich erachtete, sondern auch die Dauer als eine Succession, nämlich als eine Succession gleicher Elemente, auffasste. Doch ist diese Auffassung künstlicher und nicht der wahren Sachlage gemäss; es erscheint bei ihr die Kontinuität des zeitlichen Verlaufs atomistisch aufgelöst in eine Reihe von unausgedehnten Punkten, was unrichtig ist.
4. Wird das Verhältnis der Succession noch öfter, beliebig oft, wiederholt gedacht, so entsteht die zeitliche Reihe, die nur [16/17] eine beliebig vielmalige Wiederholung des einfachen Successionsverhältnisses ist. An einem Teile der Elemente der Reihe oder auch an allen kann ferner vielleicht der Zustand einer relativen Dauer wahrgenommen werden; es entsteht alsdann eine Komplikation von Dauer und Succession. Auch für die Reihe als Ganzes ergiebt sich wieder der zeitliche Zustand der Dauer. Wird die Succession nicht vom Standpunkte der einzelnen Elemente der Reihe, sondern von dem der Reihe als Ganzem betrachtet, so kann sie auch als zeitliche Eigenschaft der Reihe betrachtet werden.
5. Eine Modifikation des Successionsverhältnisses, also ein neues, zeitliches Verhältnis, ist der zeitliche Abstand. Derselbe ergiebt sich, wenn aus einer Successionsreihe zwei oder mehrere Elemente, die durch andere zwischenliegende gesondert sind, unter Nichtachtung der zwischenliegenden in eine unmittelbare Beziehung zu einander gesetzt worden.
6. Eine zeitliche Eigenschaft der Reihe ist jedenfalls das Tempo ihres Verlaufes, d. h. die Intensität der Succession seiner Elemente. Das Tempo des Bewusstseinsverlaufs z. B. ist ein höchst unregelmässiges und wandelbares, bald, in Zuständen seelischer Gehemmtheit, ein stockendes, bald, bei normaler ungehemmter Funktion, ein rasch und gleichmässig fliessendes, bald, wie im Affekt oder Fieber, ein rapide und unaufhaltsam vorwärtsdrängendes, jedenfalls ein nicht gleichmässig beharrendes, sondern in beständigem Wechsel begriffenes. Wenn wir auch für diesen Intensitätswechsel einen festen, bewusst anzuwendenden Massstab nicht besitzen, der es uns ermöglichte, ohne künstliche Veranstaltungen seine Grade zahlenmässig auszudrücken, so giebt doch wenigstens von seinem Vorhandensein das unmittelbare Bewusstsein unzweifelhaft Kunde. Wir können uns das Tempo des Bewusstseinsverlaufs verglichen mit und beurteilt nach dem einer idealen Successionsreihe von absoluter Gleichmässigkeit der Intensität denken.
Für das empirische Bewusstsein giebt es ausser der Mannigfaltigkeit in der Form der Reihe auch eine solche in der Form des Komplexes. Ein Komplex ist z. B. die Dingvorstellung mit Eigenschaften, Zuständen und Verhältnissen. Wir [17/18] glauben hier eine Mehrheit von Teilvorstellungen zugleich auffassen zu können. Dies würde ein neues zeitliches Verhältnis, das des Zugleich, ergeben. Thatsächlich jedoch können wir die einzelnen Teilvorstellungen des Komplexes nur successive durchlaufen, in jedem Momente nur eins seiner Elemente erfassen. Im Bewusstseinsverlauf gestaltet sich auch der Komplex als Reihe; es liegt auch hier das Verhältnis der Succession vor. Dies gilt nun wohl überhaupt für das anscheinende Zugleichsein mehrerer Elemente des Bewusstseinsverlaufs, auch da, wo diese Elemente nicht einem einheitlichen Komplex angehören. Die empirische Beobachtung scheint die Möglichkeit absoluter Gleichzeitigkeit zu ergeben, doch ist diese Beobachtung wohl eine ungenaue und der Wechsel der Bewusstseinsvorgänge in diesen Fällen ein so rascher, dass die reflektierende Konzeption ihm nicht folgen kann. Vielleicht entsteht der Schein der Gleichzeitigkeit dadurch, dass die Elemente mehrerer inhaltlich verschiedener Reihen, die im Ablauf begriffen sind, alternierend ins Bewusstsein treten, sich gleichsam gegenseitig durch Ineinanderschieben interpolieren. In Wirklichkeit ist eine Zeitstelle im Bewusstseinsverlaufe in strengem Sinn nur durch je ein Element, das im Blickpunkte des Bewusstseins befindliche, ausgefüllt und das Verhältnis des Zugleich kann in strengem Sinne im Bewusstseinsverlauf nicht konstatiert werden, vielmehr muss dieser als eine einzige, freilich aus den buntesten Mischungen von Elementen zusammengesetzte Reihe betrachtet werden.
7. Dagegen kommen im Bewusstseinsverlauf in mannigfachster Weise die Verhältnisse des Vergangenen zum Jetzt und das Früher und Später in Bezug auf einen nicht dem aktuellen Jetzt angehörigen, sondern beliebig fixierten Zeitpunkt vor. Aus dem ersteren Verhältnis ergiebt sich auch, indem das Jetzt immer wieder der Vergangenheit anheimfällt, das wenigstens vorgestellte Verhältnis des Zukünftigen zum Jetzt und zum Vergangenen. Das Früher und Später kann sowohl ein Verhältnis der betreffenden Vorstellungselemente untereinander, als ein solches beider zu einem erinnerten oder als zukünftig vorgestellten dritten sein. Das Verhältnis des Vergangenen zum Jetzt kommt z. B. zum Bewusstsein, wenn die abgelaufenen Glieder einer [18/19] Reihe in der Erinnerung reproduziert werden, oder wenn ein Element mit der Nebenvorstellung, schon früher im Bewusstsein gewesen zu sein, auftritt, oder wenn bei Komplexen das Bewusstsein auftritt, dass Elemente des früheren Bestandes, Eigenschaften, Zustände, Verhältnisse, in Wegfall gekommen oder durch andere ersetzt sind. Durch Kombination des Vergangenen mit dem Früher und Später entsteht das Verhältnis des Vorvergangenen und Nachvergangenen, durch Kombination des Zukünftigen mit diesen beiden Verhältnissen das des in der Zukunft Vergangenen und der potenzierten Zukunft. Ebenso durch Kombination der Eigenschaft der Dauer mit dem Vergangenen und Zukünftigen die gemischte zeitliche Bestimmung der Dauer in der Vergangenheit und in der Zukunft.

II. Bestimmung des Wesens der Zeit aus dem Zeitlichen des Bewusstseinsverlaufs.

Was wirklich ist, muss möglich sein. Was als ruhende Bedingung des bis jetzt festgestellten wirklichen Zeitlichen gefordert werden muss, macht also die nächsten Wesensbestimmungen der Zeit aus.
Die Zeit ermöglicht, dass ein Element des Wirklichen sowohl in einem minimalen Moment vorhanden sei, als auch, dass es von diesem Moment aus durch nachfolgende Momente hindurch verharre. Sie ermöglicht, dass das Element in dem nachfolgenden Element von einem andern abgelöst werde, mit diesem in das Verhältnis der Succession trete. Sie ermöglicht, dass dies Successionsverhältnis sich vielmals wiederhole, dass schliesslich eine einzige, aus einer für uns unberechenbar grossen Menge von Gliedern zusammengesetzte Successionsreihe, die Reihe des individuellen Bewusstseinsverlaufs, ablaufe.
Hierbei entsteht nun sofort die Frage, ob diese letztgenannte Möglichkeit als eine schlechthin unendliche gefordert werden muss. Nun ist mein Bewusstseinsverlauf zunächst durch Zustände der Bewusstlosigkeit unterbrochen. Aber auch wenn ich ihn über diese Unterbrechungen hinweg so weit als möglich rückwärts verfolge, muss ich ihn als einmal angefangen habend vorstellen. Ebenso bin ich genötigt, ihn als einmal zu Ende gehend [19/20] zu betrachten. Aus diesem Thatbestande scheint also die Forderung der Unendlichkeit der Zeit nicht ableitbar zu sein. Es wird zunächst nur gefordert, dass mein Bewusstseinsverlauf von seinem Anfangspunkte bis zu seinem zu erwartenden Endpunkte als zeitliches Verhältnis möglich sei. Ueber diese Einschränkung der Forderung aber führt folgende Erwägung hinaus.
Ich bin nicht genötigt vorzustellen, dass dieser mein Bewusstseinsverlauf nur jetzt, sein Ganzes als Gegenwart im weiteren Sinne gefasst, stattfinden könnte; ich kann diesen Verlauf der Möglichkeit nach, in Gedanken, beliebig nach vorwärts und rückwärts verschieben und zwar ohne Grenzen. Es ist nicht abzusehen, warum vor und hinter ihm die Möglichkeit stattzufinden wie durch einen Abgrund abgeschnitten sein sollte. So ergiebt sich die Forderung, dass die Möglichkeit der Succession nicht eine durch die zufällige Ausdehnung meines Bewusstseinsverlaufs nach rückwärts und vorwärts begrenzte sein, dass dieser Möglichkeit überhaupt eine Grenze nicht gezogen werden darf. Mit anderen Worten es ergiebt sich schon aus der Betrachtung der zeitlichen Beschaffenheit meines Bewusstseinsverlaufs für die Zeit die Forderung, extensiv unendliche oder unbegrenzte Möglichkeit der Succession zu sein.
Die Verhältnisse des zeitlichen Abstandes, des Vergangenen und Zukünftigen, das Früher und Später und was sich daran anschliesst, sind nur Modifikationen des Successionsverhältnisses und ergeben keine besonderen Schlüsse auf das Wesen der Zeit.
Dagegen ergiebt sich aus dem Wechsel im Tempo des Bewusstseinsverlaufs eine weitere Folgerung. Für diesen Wechsel muss die Zeit Spielraum gewähren: es muss in ihr nicht nur ein einziges nie wechselndes, etwa ein absolut gleichmässiges Tempo, sondern eine Mannigfaltigkeit desselben möglich sein. Die Zeit ist die Bedingung der Möglichkeit jedes beliebigen Wechsels im Tempo der Succession. Endlich ergiebt die Ablehnung absoluter Gleichzeitigkeit mehrerer Elemente des Bewusstseinsverlaufs und das unbegrenzt wandelbare Tempo desselben noch eine besonders wichtige Folgerung. Die Succession der Elemente musste so rasch gedacht werden, dass die Perzeption diesem Vorgange nicht folgen kann. Auch das Tempo der Succession kann so beschleunigt ge-[20/21]dacht werden, dass die Dauer der einzelnen Elemente nur noch eine minimale, für unsre Auffassung chaotisch verschwimmende ist. Demnach muss die Zeit das Auftreten minimal ausgedehnter Teile der Successionsreihe oder eine unendliche Teilbarkeit des zeitlichen bis an die absolute Grenze, den absolut dauerlosen Zeitpunkt, die Negation der zeitlichen Ausdehnung, den nicht mehr mit einem Bewusstseinsinhalt erfüllbaren Nullpunkt des Zeitlichen ermöglichen. Die Zeit als Bedingung der Möglichkeit des Zeitlichen im Bewusstseinsverlauf muss die Möglichkeit intensiver Unendlichkeit, d. h. unendlicher zeitlicher Teilbarkeit des Bewusstseinsverlaufs, gewährleisten. Diese Teilbarkeit muss deshalb als eine unter Ausschluss des Zeitpunktes, der überhaupt keine zeitliche Grösse mehr ist, unendliche gefordert werden, weil nicht abzusehen ist, bis zu welchem Masse minimaler Ausdehnung die Elemente des Bewusstseinsverlaufs thatsächlich geteilt vorkommen können.
Zu den beiden Richtungen der Unendlichkeit, die sich hier ergeben haben, der extensiven und intensiven, muss schon hier die Bemerkung gemacht werden, dass die Unendlichkeit selbst nie realisiert wird, sondern stets im Gebiete der Möglichkeit verbleibt. Das Unendliche ist seinem Wesen nach das bloss Mögliche; Unendlichkeit und Möglichkeit sind Wechselbegriffe. Als Merkmal des Möglichen ist die Unendlichkeit frei von den Anstössen, die gegen sie als Merkmal des wirklichen in den beiden ersten kantischen Antinomien mit Recht geltend gemacht werden. Das Wirkliche bleibt stets endlich und kann die Unendlichkeit des Möglichen nie realisieren.
Um den Anforderungen zu genügen, die sich vorstellend ergeben haben, braucht zunächst die Zeit nichts Wirkliches zu sein, was sie ja als Unendliches und wegen der Unmöglichkeit, sie in einer der vier Kategorien des Wirklichen unterzubringen, ohnedies nicht sein kann. Es genügt, sie als reale Bedingung der Möglichkeit des wirklichen Zeitlichen zu fassen. Hier nun ergiebt sich die Nötigung, den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität endgültig festzustellen. Wir werden dazu imstande sein, wenn wir den Ausdruck wirklich in aktivem Sinne, als das Wirkende, oder doch Wirkungsfähige, wie in vergesslich, versöhn-[21/22]lich, nicht in passivem Sinne, wie in hässlich, fassen, worauf uns ja auch schon die sprachliche Grundbedeutung hinweist. In der That wohnt ja auch den bisher unterschiedenen Arten des Zeitlichen die Wirkungsfähigkeit bei. Von der Eigenschaft eines Bewusstseinszustandes, in einem gegebenen Moment im Bewusstsein vorhanden zu sein, vom Zustande der Dauer, von den Verhältnissen der Succession, vom Tempo des Ablaufs gehen mannigfache, die ganze Bewusstseinslage bestimmende Wirkungen aus. Nicht nur der Vorstellungsablauf, sondern auch Gefühle und Strebungen werden durch diese zeitlichen Momente beeinflusst. Dagegen ist die Zeit selbst etwas Wirkungsunfähiges, nur Bedingung der Möglichkeit solcher vom Zeitlichen ausgehenden Wirkungen. Wollten wir an dieser Stelle trotz der vorgenannten Gegengründe den Versuch machen, ihr eine selbständige Wirklichkeit in der Form eines selbständigen Geschehens, eines für sich selbst Succedierenden, beizulegen, so würde uns dies in eine neue doppelte Schwierigkeit verwickeln. Erstens müsste für dies neue Wirkliche der Succession in einem fortschreitenden Regressus wieder eine Bedingung der Möglichkeit in der Welteinrichtung, eine Zeit als reale Möglichkeitsbedingung für die Zeit als Wirklichkeit, statuiert worden. Zweitens müsste der wirklichen Zeit als einem wirklichen Succedierenden ein Tempo beigelegt werden. Dies Tempo könnte entweder ein gleichmässiges sein, oder es könnte in mannigfacher Weise als ungleichmässig gedacht werden. Bei ersterer Annahme wäre dies Tempo auf jeden Fall, bei letzterer mit Ausnahme des abenteuerlichen Falles einer vollständigen Konformität mit dem unberechenbar wechselnden Tempo meines Bewusstseinsverlaufs von letzterem verschieden und es entstände die ungeheuerliche Annahme, dass an dem, das das Tempo meines Bewusstseinsverlaufs ermöglichen soll, zugleich ein selbständiges und von dem jenes verschiedenes Tempo sich geltend machte. Somit ergiebt sich hier eine neue Nötigung, die ohnedies durch nichts geforderte und auch sonst als undenkbar erwiesene selbständige Wirklichkeit der Zeit fallen zu lassen. [22/23]

III. Das wirkliche Zeitliche der Aussenwelt.

Ich muss hier auf den Beweis der Wirklichkeit der Aussenwelt und die Untersuchung der Frage nach dem Masse der Erkennbarkeit derselben verzichten. Ich betrachte die Wirklichkeit der Aussenwelt als hinlänglich erweisbar. Ihre Erkennbarkeit ist hinsichtlich der Qualitäten durch die Thatsache der Umwandlung eines äusseren Vorganges in einen Bewusstseinsvorgang schwer beeinträchtigt. Für die Erkennbarkeit der quantitativen Mannigfaltigkeit und der zeitlichen Eigentümlichkeit der Elemente der Aussenwelt - worauf es hier allein ankommt - braucht diese Umwandlung in einen Bewusstseinsvorgang kein Hindernis zu bilden. Im Gegenteil muss - im Gegensatz gegen die kantische Annahme einer zeitlosen Affektion - gerade angenommen werden, dass die zeitlichen Eigentümlichkeiten der durch äussere Affektion verursachten Bewusstseinsvorgänge ein getreues Abbild der entsprechenden Eigentümlichkeiten im verursachenden Äusseren ist.
Unter dieser Annahme nun erweitert sich das Gebiet des unsrer Beobachtung zugänglichen wirklichen Zeitlichen weit über die engen Grenzen des eigenen Bewusstseinsverlaufs hinaus, eine unendliche Mannigfaltigkeit des Seins und Geschehens, an dem wirkliches Zeitliches haftet, tritt uns in der bewusstlosen Aussenwelt und in den Bewusstseinsverläufen anderer Wesen entgegen, von denen wir durch Vermittlung der Aussenwelt Kunde erhalten.
Im allgemeinen erhält durch diese Erweiterung des Beobachtungsmaterials unsre Kenntnis vom wirklichen Zeitlichen keinen spezifischen Zuwachs. Neu sind folgende Punkte:
1. Das unzweifelhafte Vorhandensein einer Vielheit des zugleich Dauernden oder Succedierenden. Unzählige Elemente der Aussenwelt und der fremden Bewusstseinsverläufe sind unzweifelhaft auch dann vorhanden, wenn sie unser Bewusstsein nicht gerade affizieren und ohne überhaupt je in die Sphäre unseres Bewusstseins zu geraten; sie bilden eine Mannigfaltigkeit von zeitlich Bestimmtem, das an derselben Zeitstelle zusammentrifft.
2. Während wir in unserem Bewusstseinsverlauf nur ein einziges, nur in seinen successiven Teilen wechselndes Tempo [23/24] kennen lernten, ergiebt das Weltgeschehen die Thatsächlichkeit vieler gleichzeitig vorhandener Tempi von jeder erdenklichen Verschiedenheit: gleichmässige Tempi von den mannigfaltigsten Intensitätsgraden, ungleichmässige in allen Abarten vom gleichmässig beschleunigten oder verzögerten oder dem durch periodische Wiederkehr von Reihenteilen, die ungleiche Intensität haben, ein gewisses Mass von Gleichmässigkeit im Ungleichmässigen zeigenden bis zum absolut ungleichmässigen und regellosen.
3. Indem sich das Gebiet des wenigstens indirekt, durch Nachrichten oder Kausalschlüsse, erfahrbaren Vergangenen und des nach Analogie des Erfahrbaren zu erwartenden Zukünftigen weit über die Grenzen des individuellen Bewusstseinsverlaufs erweitert, tritt neu hinzu die Thatsächlichkeit eines zwar nicht absolut, aber doch für unser Vorstellen unbegrenzten Successionsverlaufs.
4. Wenigstens sehr erheblich verstärkt wird die Nötigung zur Annahme unbegrenzter Teilbarkeit des Zeitlichen, indem wir thatsächlich zur Annahme viel kleinerer Teilchen eines Successionsverlaufs genötigt sind, als sie uns im Bewusstseinsverlauf entgegentraten. Es braucht nur an die Billionen von Ätherschwingungen der Farbenlehre erinnert zu werden um zu zeigen, dass wir in der Aussenwelt viel kleinere Successionselemente anzunehmen genötigt sind, als die unsrer Beobachtung im Bewusstseinsverlauf zugänglichen.

IV. Neu hinzutretende Bestimmungen des Wesens der Zeit.

Dies neugewonnene Material muss auch auf die bisher gewonnenen Bestimmungen des Wesens der Zeit modifizierend und erweiternd wirken.
Zwar durch die blosse numerische Vermehrung der Fälle tritt keine Veränderung in der Bestimmung des Wesens der Zeit ein. Für das Gewicht der Forderung bleibt es sich gleich, ob für vieles oder weniges Wirkliches die Bedingung der Möglichkeit gefordert wird, wenn es nur ein Wirkliches ist, für das die Forderung erhoben wird.
Völlig neu dagegen ist zunächst diejenige Anforderung an die Zeit, die aus dem thatsächlichen Zugleichsein vieler zeitlich bestimmten Elemente abgeleitet werden muss. Durch das [24/25] Zugleichsein wird das Vorhandensein eines freien Spielraumes für die Möglichkeit nicht nur einer Succession in einem identischen Zeitraum, sondern für das zeitliche Nebeneinander unzähliger gleichzeitiger Momente des Geschehens gefordert. All dies Gleichzeitige muss nebeneinander bestehen können, ohne sich gegenseitig zu hemmen oder zu verwirren.
Ebenso steht es mit der Mannigfaltigkeit der Tempi der vielen gleichzeitig ablaufenden Successionsreihen. Auch für dieses zeitliche Nebeneinander, für diese Vielheit von Successionsweisen und Successionsintensitäten muss der Spielraum vorhanden sein. Nicht nur ein einziges, nur in seinen succedierenden Teilen ungleichartiges Tempo, sondern eine unendliche Mannigfaltigkeit von Successionsreihen höchst ungleicher Intensität muss ungehemmt nebeneinander ablaufen können.
Wenigstens eine sehr bedeutende Verstärkung erhält die Forderung der extensiven Unendlichkeit der Zeit als der Bedingung der Möglichkeit eines nach rückwärts und vorwärts für unser Vorstellen nicht zu begrenzenden Ablaufs des Geschehens durch die weit grössere Ausdehnung des erfahrbaren Geschehens nach rückwärts und vorwärts, und ebenso die Forderung der intensiven Unendlichkeit als Bedingung der Möglichkeit unbegrenzt kleiner Minima des Zeitlichen durch die grössere Kleinheit der Successionselemente, zu deren Annahme im äusseren Geschehen wir genötigt waren.
Auch die Negation der Wirklichkeit der Zeit erhält hier noch ein erheblich verstärktes Gewicht. Welchen Sinn sollte es haben, dasjenige, das die Bedingung der Möglichkeit vieler gleichzeitiger Successionsreihen vom verschiedenartigsten Tempo ist, zugleich als ein gleichartiges Wirkliches diesen Successionsreihen an die Seite zu stellen und dadurch ihre Zahl ohne Not um eine zu vermehren, eine völlig unkonstatierbare Parallelerscheinung zum wirklichen Zeitlichen, gleichsam einen gespenstischen Doppelgänger desselben zu schaffen?
Versuchen wir die gewonnenen Resultate zusammenzufassen! Die Zeit ist dasjenige Ingrediens der Welteinrichtung, durch das nicht nur Dauer und Succession überhaupt, und zwar letztere mit successiv wechselnder Ge-[25/26]schwindigkeit, sondern insbesondere auch der zugleich stattfindende Ablauf einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Successionsreihen von unendlich mannigfacher Geschwindigkeit möglich ist. Diese Möglichkeit muss als extensiv unendlich, d. h. als Möglichkeit unbegrenzten Geschehens nach rückwärts und vorwärts, gedacht werden; ferner als intensiv unendlich, d. h. als Möglichkeit unbegrenzter zeitlicher Zerteilung der Elemente des Seins und Geschehens.
Denken wir uns die so bestimmte Zeit aus der Welteinrichtung fort, so würden wir damit die Möglichkeit dieser unsrer Welt völlig aufheben. Es mag eine andre Welt ohne sie möglich sein, von deren Wirklichkeit wir aber nichts wissen und von deren Beschaffenheit wir kaum imstande sind, uns eine deutliche Vorstellung zu machen. Die Zeit ist zwar nicht, wie Kant meint, notwendig, aber sie ist thatsächlich: sie ist eine der Grundthatsachen, auf denen die Welteinrichtung, wie sie nun einmal ist, ruht.
Eine vollkommen deutliche Vorstellung vom Wesen der Zeit haben wir auf unserem Wege nicht gewonnen. Haben wir auch den Begriff der realen Möglichkeit mit einigen näheren Bestimmungen versehen, so bleibt doch dieser Grundbegriff selbst in seiner Unterschiedenheit von der Wirklichkeit mehr ein Postulat unsres Denkens, etwas, das wir zur gegebenen Wirklichkeit hinzudenken müssen, um ihr Zustandekommen verständlich zu machen, als eine deutlich vollziehbare Vorstellung. Immerhin aber scheint mir ein Resultat damit gewonnen zu sein, das den Vorzug hat, durch ein methodisches, auf jedem Punkte kontrollierbares Verfahren erlangt zu sein, und das an Bestimmtheit, Haltbarkeit und Brauchbarkeit zur Welterklärung weit über alle bisher aufgestellten Theorien hinausgeht. Insbesondere erscheint dieser Theorie gegenüber die kantische hinsichtlich der Brauchbarkeit zur Welterklärung als eine Auskunft der Verzweiflung, die mit der Wirklichkeit nicht sowohl der Zeit, als des Zeitlichen den ganzen Bestand der gesicherten Wirklichkeit preisgiebt und die gesamte wirkliche Welt in ein illusorisches Phantom auflöst. Andrerseits wird sie von der Schwierigkeit, die Zeit in einer der Kategorien des Wirklichen unterbringen und ein wirk-[26/27]liches Unendliches, das doch auch zugleich wieder ein Endliches sein soll, annehmen zu müssen, nicht betroffen und wahrt doch zugleich in genügendem Masse die Wirklichkeit der Welt des empirischen Bewusstseins.
Insbesondere auch erscheint sie noch am ersten geeignet, gegenüber dem schwierigsten Welträtsel, das freilich du Bois-Reymond vergessen hat, in den Katalog seiner sieben Welträtsel aufzunehmen, und das in der ersten Antinomie Kants mit einbegriffen ist, wenigstens standzuhalten und wenn nicht eine Lösung, so doch eine erträgliche Abfindung mit demselben herbeizuführen. Es ist dies das Dilemma der zeitlichen Unendlichkeit oder Endlichkeit des Wirklichen, die Frage, ob der Weltprozess anfangs- und endlos ist, oder angefangen hat und endigen wird. Die Annahme v. Hartmanns und Dührings, dass es einen Anfang und ein Ende der Zeit selbst gäbe, bietet eine solche Lösung nicht, denn Anfang und Ende sind schon zeitliche Bestimmungen und es wird somit ein Zeitliches vor der Zeit unvermerkt vorausgesetzt.
Die von meiner Theorie aus sich bietende Lösung ist folgende. Nehmen wir in rein gedankenmässiger Sonderung als nicht zeitlich existierend an einesteils den Urgrund des Seienden, andernteils die Zeit als reale Möglichkeit des Zeitlichen, also auch der Verzeitlichung, so kann die obige Antinomie gelöst werden durch die Annahme eines unzeitlichen, absolut kontinuierlichen Eingehens des zeitlosen Urgrundes in die zeitliche Daseinsweise, wofür eben die unzeitliche Existenz der Zeit die Möglichkeit darbietet. Es ist das die Theorie, die in der Sprache des Dogmas ewige Schöpfung heisst. Rätselhaft bleibt dabei freilich, wie aus diesem zeitlosen Vorgange eine Successionsreihe, nämlich der zeitlich verlaufende Weltprozess, hervorgehen kann. Es muss eben angenommen werden, dass der Weltprozess als Ganzes in diesem zeitlosen Akte der Verzeitlichung schon enthalten ist und dass er eben durch die - an sich zeitlose - Verzeitlichung die Formen des successiv verlaufenden Prozesses annimmt.
Doch ich muss mich für diese schwierigste aller Weltfragen mit diesen wenigen Andeutungen begnügen.

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II. Thesen über das Wesen des Raumes.


(Gestellt und verhandelt in der Philosophischen Gesellschaft 1892.)


1. These. Soll der Raum als wirklich behauptet werden, so könnte er von den vier Kategorien des Wirklichen (Ding, Eigenschaft, Zustand, Verhältnis) nur in die des Dinges gesetzt werden.

Zur Begründung dieser These muss schon hier anticipierend der Unterschied des Raumes vom Räumlichen herangezogen werden. Die herrschende Vernachlässigung dieses Unterschiedes ist die erste Ursache aller Verwirrung in dieser Untersuchung.
Das Räumliche kommt vor: 1. als Eigenschaft (Gestalt, Grösse), 2. als Zustand (Bewegung, bei der allerdings auch die Zeit als Bedingung der Möglichkeit in Betracht kommt), 3. als Verhältnis (Abstand, Ort überhaupt, sofern der Ort eines Wirklichen nur durch das Verhältnis zu anderen räumlich fixierten Wirklichen, also im Wege der Gegenseitigkeit, bestimmt gedacht werden kann).
Der Raum selbst, als dasjenige, was erst diese räumlichen Accidentien der Elemente des Wirklichen ermöglicht, kann, wie ein Versuch lehrt, in keine dieser drei Kategorien gebracht werden und wird auch sowohl in der populären Anschauung, als auch meist in den Theorien der Philosophen verdinglicht. Gegen den Raum als Ding ist schon die idealistische Polemik des Eleaten Zeno gerichtet, Demokrit als Realist behauptet die Dinglichkeit. Dem Begriffe des Dinges muss hier dieselbe weite Bedeutung beigegeben werden, wie in der Untersuchung über die Zeit, so dass sie auch den elementaren Kraftpunkt mit einschliesst. [28/29]
2. These. Die Verdinglichung des Raumes scheitert schon an der notwendig zu setzenden Unendlichkeit.

a) Der Raum muss notwendig unendlich gedacht worden. Eine detaillierte Begründung dieser Notwendigkeit als Ergebnis des meinem Verfahren eigentümlichen Gedankenganges kann erst im weiteren Verlaufe der Thesen gegeben werden. Hier muss die absolute Unvorstellbarkeit eines endlichen Raumes als Grund genügen. Was sollte denn da sein, wo der Raum aufhört? Aristoteles hat allerdings die seltsame Behauptung gewagt, dass ausserhalb seiner kugelförmigen Welt kein Raum sei, aber auch bei ihm bleibt dies eine unvollziehbare Vorstellung.
b) Das Unendliche aber kann nichts Dingliches sein, weil es überhaupt nichts Wirkliches sein kann. Das Wirkliche kann als unausgedehnt, unräumlich vorgestellt werden, z. B. als Immaterielles, Seelisches, oder als Punktuelles, gesteht man ihm aber eine räumliche Grösse zu, so kann diese ebenso wenig, wie die zeitliche und numerische, unendlich gedacht werden, sondern ist zahlenmässig messbar und angebbar. Keine noch so weitgehende Vervielfältigung des Wirklichen erreicht die Unendlichkeit. Für das Wirkliche giebt es immer Zahl und Mass, deren das Unendliche spottet.
c) Ausser der Unendlichkeit spricht gegen die Verdinglichung auch der Umstand, dass das Dingliche, wie alles Wirkliche überhaupt, notwendig als ein Wirkendes gedacht worden muss, dem Raum aber Wirkungen nicht zugeschrieben werden können.
3. These. Die kantische Idealität des Raumes ist eine unbewiesene Lehre, die unsre empirische Vorstellung von der Aussenwelt zu einer völlig illusorischen degradiert und überdies nicht einmal die Entstehung der räumlichen Vorstellungen erklärlich macht.

a) Unbewiesen. Für die Raumargumente Kants gilt im allgemeinen dasselbe, wie für die Zeitargumente. Wie diese zerfallen sie in Beweise für die Apriorität und für den Charakter [29/30] als Anschauung. Zur Begründung der Apriorität wird im ersten Argumente auch hier auf den allgemeinen Grundsatz von den Formen, in denen sich die Empfindungen ordnen, zurückgegangen. Als solche Formen werden hier das Ausser mir und Aussereinander angeführt. Auch hier wird also nicht bewiesen, dass die räumlichen Formen thatsächlich nicht aus der Erfahrung stammen, sondern es wird aus einer unbewiesenen petitio principii gefolgert, dass sie nicht daraus stammen können. Im zweiten Argumente wird die Apriorität aus der angeblichen Notwendigkeit der Raumvorstellung gefolgert, die hier sogar als eine nicht nur relative, eingeschränkte, sondern als eine absolute behauptet wird. Das dritte Raumargument der ersten Auflage fusst auf der Apodiktizität der geometrischen Grundsätze, die nur unter der Voraussetzung der Apriorität des Raumes möglich und erklärlich sein soll. Dies ist nicht zuzugeben, wie überhaupt die Behandlung der Apriorität und Apodiktizität als Wechselbegriffe eine von den petitiones principiorum ist, auf denen der ganze Bau der Transcendentalphilosophie ruht. In der zweiten Auflage hat Kant den Gedankengang dieses Argumentes vollständig umgekehrt, indem er aus der Apriorität des Raumes die Apodiktizität der geometrischen Axiome folgert. Die beiden letzten Argumente sollen den Charakter des Raumes als Anschauung beweisen. Hier, wie bei der Zeit, benutzt er den Anschauungscharakter, den das vulgäre Vorstellen dem Raume giebt, um die Erklärung desselben zur „reinen Anschauung" vorzubereiten. In Wirklichkeit ist nicht der Raum selbst Anschauung, sondern das Räumliche (vergl. Erläuterung zu These 1 und weiter unten) hat den Charakter der Anschaulichkeit, den wir alsdann durch ein naheliegendes und begreifliches quid pro quo auf den Raum selbst als ein einheitliches Ding übertragen.
b) Die Aussenwelt illusorisch machend. Nach der kantischen Raumtheorie giebt es in der Sphäre des Wirklichen weder ein Ausser mir noch ein Aussereinander, weder Gestalt noch Grösse, noch Bewegung. Das Wirkliche, das durch Affektion die Empfindung hervorruft, ist ein völlig unvorstellbares, in einer intelligiblen Sphäre raum- und zeitlos existierendes Etwas, das nicht erkannt, sondern nur als Grenzbegriff vorgestellt werden [30/31] kann. Nehmen wir hier den Ausdruck intelligibel nicht im historisch fixierten, sondern im wörtlichen Sinne, so haben wir ein wahres lucus a non lucendo; er „spottet seiner selbst, weiss selbst nicht wie". Wie bei der Zeit, so hat auch beim Raum Kant sich die volle Konsequenz seiner Theorie durch die Lehre von der empirischen Realität verschleiert. Diese empirische Realität ist objektiv und an sich eine notwendige Illusion, zu der ich durch die Einrichtung meiner intellektuellen Organisation unrettbar verdammt bin und die doppelt empfindlich wird, wenn ich sie kritisch durchschaue. Die Erscheinungswelt wird zu einer unheimlichen Schattenwelt.
c) Unfähig, die Entstehung der räumlichen Vorstellungen zu erklären. Kant macht nicht den geringsten Versuch zu zeigen, wie bei seiner Theorie die räumliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt, die unendliche Mannigfaltigkeit der räumlichen Attribute, möglich ist, wie der subjektive Faktor es anfängt, die jeweilige Besonderheit des Räumlichen als Eigenschaft, Zustand und Verhältnis zu produzieren. Die von ihm supponierte Anschauungsform ist etwas lediglich Einförmiges, aus dem diese Mannigfaltigkeit nicht verständlich wird. Im raumlosen „Gegenstande an sich" soll ein Antrieb und eine Handhabe zur mannigfaltigen Verräumlichung nicht liegen. Wäre dies der Fall, so läge in der räumlichen Beschaffenheit der Erscheinungsdinge doch noch einiger Erkenntniswert; sie wären ein phaenomenon bene fundatum. Dies nimmt aber Kant nicht an; es muss also hier lediglich ein unbekanntes Gesetz für das unbewusste Schaffen des „Gemüts" wirksam sein. So lange dieser Nachweis nicht geführt wird, bleibt die Hypothese unvollständig.

Anmerkung. Auch die dritte bei der Zeit in Betracht gezogene Möglichkeit, dass sie sowohl Seinsform, als auch apriorische Anschauungsform wäre, könnte für den Raum ebenfalls in Betracht gezogen werden. Es bedarf dessen hier jedoch nicht, da hierbei lediglich das bereits bei der Zeit Bemerkte wiederholt werden müsste.




4. These. Der Raum selbst ist nicht wahrnehmbar. Sein Wesen kann nur festgestellt werden aus den wahrgenommenen räumlichen Eigenschaften, [31/32] Zuständen und Verhältnissen, und zwar vermittelst eines erweiterten Kausalschlusses vom Wirklichen auf die unumgänglichen realen Bedingungen seiner Möglichkeit.

Diese These giebt das neue und eigenartige Verfahren an, das hier, wie bei der Zeit, zur Ermittelung der gesuchten Wesensbestimmung zur Anwendung kommen soll.
a) Gegen die Nichtwahrnehmbarkeit des Raumes erhobt sich der Einwarf, dass ich doch anscheinend, wenn ich meinen Blick auf das von Objekten nicht ausgefüllte Leere in meiner Umgebung oder auf den unendlichen Weltraum richte, den Raum wahrnehme. Dies muss bestritten werden. Ich nehme in dem angenommenen Falle nicht den Raum, sondern nur Abstände zwischen Objekten, von denen in den meisten Fällen das eine ich selbst bin, wahr. Vielleicht ist das zweite, korrespondierende Objekt nur die blaue, graue oder dunkle Luftperspektive, oder es sind Sterne, immer aber handelt es sich bei der vermeintlichen Raumwahrnehmung um Wahrnehmung eines Abstandes zwischen zwei Objekten, also eines räumlichen Verhältnisses. Wenn schlechthin nichts Räumliches wahrgenommen würde, auch nicht mein eigener Körper, so wäre auch die Vorstellung des Raumes unmöglich. Es giebt also auch kein Problem des Zustandekommens der Raumwahrnehmung, sondern nur ein solches des Zustandekommens der Wahrnehmung des Räumlichen.
b) Über den erweiterten Kausalschluss aus dem wirklichen Räumlichen auf das Wesen des Raumes gilt dasselbe, was hinsichtlich dieses Punktes bei der Zeit ausgeführt worden ist. Die Anwendung dieses methodischen Prinzips auf den Raum wird in These 6 zu Tage treten. Auch für den Raum kommt hierbei der Unterschied von real und wirklich in Betracht; als Bedingung der Möglichkeit ist auch er real, aber nicht wirklich; er wirkt nichts, sondern sein ganzes Wesen geht in dem Bedingungsein auf.
5. These. Die Feststellung des thatsächlich gegebenen räumlichen Wirklichen darf nicht bei der [32/33] natürlichen populären Betrachtung der Aussenwelt stehen bleiben, sondern muss die Wahrnehmung zu einer wissenschaftlich kritischen Erfassung des wirklichen Sachverhalts hinsichtlich der räumlichen Eigenschaften, Verhältnisse und Zustände steigern. Die Ergebnisse dieses Verfahrens werden in den Erläuterungen detailliert.

a) Schon das Zustandekommen des natürlichen Bildes der Aussenwelt ist ein kompliziertes und schwieriges Problem. Wie kommen wir dazu, überhaupt eine Aussenwelt anzunehmen, die Empfindungen zu lokalisieren und zu projizieren? Auf Grund welcher Bestandteile der Empfindungen kommen wir ferner dazu, den Objekten dieser Aussenwelt räumliche Attribute, Grösse, Gestalt, das Aussereinander nebst der mannigfaltigen Richtung und Grösse der Abstände, endlich Bewegung beizulegen? Die befriedigende Beantwortung dieser Frage würde eine vollständige Erkenntnislehre erfordern, und dabei doch noch nicht einmal auf die wahre Beschaffenheit des Räumlichen führen. Die so und so gestalteten, so und so grossen körperlichen Objekte werden dabei als das letzte räumliche Wirkliche angesehen, während doch für die Schlüsse auf das Wesen des Raumes nur die letzten Resultate einer kritischen Analyse der räumlichen Objekte verwendbar sind. Ich beschränke mich daher hier auf einige prinzipiell wichtige Andeutungen ohne Begründung. Als erstes Element der Wahrnehmung des Räumlichen erscheint mir die Richtungswahrnehmung der Empfindungen. Indem die Richtung des Eintreffens im Centralorgan empfunden wird, wird sie auf Grund eines instinktiven Kausalschlusses entlang den Empfindungsbahnen zur Peripherie und über diese hinaus rückwärts verfolgt. So entsteht die Lokalisation und Projektion. Die Tiefendimension des Räumlichen ist die erste und ursprünglichste, zugleich auch die am leichtesten zu erklärende räumliche Wahrnehmung; sie ist mit der Statuierung der Empfindungsursache überhaupt und der Versetzung derselben in eine Sphäre ausserhalb des Bewusstseins, mit der Verwandlung der Empfindung in Wahrnehmung durch [33/34] den instinktiven Kausalschluss, der die Wahrnehmung zu einem intellektuellen Akte macht, unmittelbar mitgegeben. Viel schwieriger zu erklären sind die Wahrnehmung von Gestalt und Grösse, von Abständen und deren mannigfacher Grösse und Richtung, endlich der Bewegung. Hier kommt das binokulare Sehen, das zwei teilweise verschiedene Eindrucksgruppen ergiebt, ferner vor allem die mannigfachsten Bewegungsempfindungen, entspringend aus den zum Zwecke der Wahrnehmungen vorgenommenen Bewegungen, sei es des ganzen Körpers oder einzelner Teile desselben, insbesondere des Auges und seiner Teile und des so höchst beweglichen Tastorgans, in Betracht.
Um jedoch zur Erkenntnis der wahren Beschaffenheit des Räumlichen zu gelangen, genügt diese blosse Erklärung des unbewussten natürlichen Wahrnehmungsprozesses nicht. Dazu bedarf es eines bewussten kritischen Verfahrens von ebenfalls höchst komplizierter Beschaffenheit, vermöge dessen hinter der erscheinenden Aussenwelt eine wesentlich anders gestaltete enthüllt wird, von der jene nur das oberflächliche und teilweise täuschende Erscheinungsbild ist. Ich muss mich hier darauf beschränken, die Resultate dieses kritischen Prozesses, die wirkliche Welt des Räumlichen nach den drei Kategorien Eigenschaft, Verhältnis und Zustand geordnet aufzuführen.
b) Die räumliche Grundeigenschaft des Wirklichen ist Punktualität oder Ausdehnungslosigkeit. Das Letzte, bei dem die Analyse Halt machen soll, darf nicht weiter zerlegbar sein, Wenn aber ein nicht weiter zerlegbares Element des Wirklichen gefunden werden soll, darf nicht von einem Kontinuum ausgegangen werden. Vom Kontinuum aus kann auch durch unendlich fortgesetzte Teilung das schlechthin Einfache nie erreicht werden. Auch das materielle Atom Demokrits und des gewöhnlichen Atomismus ist noch ein Kontinuum. So kommen wir auf das nicht materielle dynamische Atom. Diese hier ohne Beweis hinzunehmende Punktualität des Elementaren ist nach der gewöhnlichen Auffassung des Raums als eines wirklichen Kontinuums keine räumliche Eigenschaft, da der Punkt dieser Auffassung als die Grenze des Raumes erscheint. Wir müssen sie jedoch wegen [34/35] der aus ihr zu gewinnenden Folgerungen auf das Wesen des Raumes als eine räumliche Eigenschaft in Anspruch nehmen.
Eine fernere Eigenschaft des ursprünglichen Räumlichen, die zwar nicht ausschliesslich räumlicher Natur ist, aber doch ein räumliches Element in sich hat und daher ebenfalls für die Feststellung des Wesens des Raumes unentbehrlich ist, ist die Eigenschaft der dynamischen Atome, nach einer Totalität von Richtungen Kraft auszustrahlen. Die Kraftausstrahlung selbst ist eine Thätigkeit, also ein Zustand; was aber hier in Betracht kommt, ist das konstant wirkende Vermögen dazu, insbesondere die damit verbundene räumliche Bestimmtheit. Diese besteht in der unbegrenzten Vielheit (Totalität, Universalität) der Richtungen und der unbegrenzten Weite des Wirkungsgebietes der Kraftausstrahlung. Jede der unbegrenzt vielen Richtungen stellt eine Linie von unbegrenzter Länge dar.
Diese punktuellen Kraftelemente stehen ferner in räumlichen Verhältnissen. Hierher gehören zunächst ihre Abstände. Dieselben sind von unbegrenzter Mannigfaltigkeit nach Richtung und Grösse. Die Grösse des Abstandes kann vom nicht mehr vorstellbaren Minimum bis zum nicht mehr vorstellbaren Maximum variieren. Das nicht mehr Vorstellbare ist aber nicht das Unendliche. Weder durch fortgesetzte Verkleinerung, noch durch fortgesetzte Vergrösserung kann das Unendliche erreicht werden, doch hat das unendlich Kleine des Abstandes seine Grenze am punktuellen Zusammenfallen, während das unendlich Grosse desselben, auch wenn die Vergrösserung des Abstandes in unbegrenzter Zeit ins Unbegrenzte fortgesetzt wird, nie erreicht wird. Die Abstände haben aber ferner, wie die Kraftäusserungen, unendlich viele Richtungen. Nehmen wir irgend ein empirisches Objekt, so hat jeder elementare Bestandteil desselben von jedem anderen einen bestimmten Abstand, jeder dieser Abstände aber hat eine bestimmte Richtung. Auf der unbegrenzten Mannigfaltigkeit der Abstandsrichtungen der Elemente beruht die Gestalt der empirischen Objekte, auf der unbegrenzten Mannigfaltigkeit der Abstandsgrössen der Elemente die Grösse der empirischen Objekte. Ferner aber gehört zu den Verhältnissen auch die eindeutige, absolute örtliche Fixierung jedes einzelnen Kraft-[35/36]punktes in jedem gegebenen Momente. Diese Absolutheit der örtlichen Fixierung wird vielfach geleugnet. Diese Leugnung liegt z. B. in der Lehre von der Relativität der Bewegung, insofern bei Annäherung zweier Objekte die Ortsveränderung von jedem von beiden beliebig ausgesagt werden könne. Als Beweisgrund wird auch angeführt, dass im unendlichen Leeren jeder Anhaltspunkt für örtliche Fixierung fehle. alle Orte gleichbedeutend seien. Aber dieser Beweisgrund aus dem unendlichen Leeren ist unzutreffend. Es sind unbegrenzt viele wirkliche Dinge vorhanden, deren jedes von jedem einen Abstand von bestimmter Richtung und Grösse hat. Durch diese Mannigfaltigkeit der Abstände wird die absolute Bedeutung des Ortes eines jeden gewährleistet. Die eindeutige örtliche Fixierung ist nur eine Verallgemeinerung des Begriffes des Abstandes. Auch die Wirklichkeit der Bewegung als Zustand entweder des einen oder des anderen der beiden in Betracht kommenden Elemente oder beider, sei es mit gleicher oder verschiedener Geschwindigkeit, in gleicher oder entgegengesetzter Richtung, spricht gegen die Relativität der Ortsbestimmung, bei ihr wird die Bewegung illusorisch.
Die örtliche Fixierung darf nicht mit der Punktualität verwechselt werden. Letztere ist nur Ausdehnungslosigkeit ohne Beziehung auf einen bestimmten Ort, eine bestimmte räumliche Lage. Sie ist räumliche Eigenschaft, die örtliche Fixierung ist universelles räumliches Verhältnis zu allen übrigen durch eben dasselbe Verhältnis örtlich bestimmten Elementen.
Von besonderer Bedeutung für die Erkenntnis des Wesens des Raumes ist der räumliche Zustand der Bewegung. Hier kommt zunächst die Richtung in Betracht. Während bei den Abständen und Kraftwirkungen die Richtung stets geradlinig gedacht wird, ist diese Beschränkung bei der Bewegung aufgehoben. Die Bewegung ist Resultante verschieden wirkender Kräfte und ist daher in jedem Zeitmomente der Richtung nach variabel. So kommen schon beim einfachen seinen Ort verändernden Elemente nicht nur alle geradlinigen Richtungen vor, sondern infolge von plötzlichen einmaligen Einwirkungen Richtungsveränderungen unter allen möglichen Winkeln, infolge mehr andauernd wirkender modifizierender Kräfte alle erdenklichen regel-[36/37]mässigen und unregelmässigen Kurven der Bahn. In unbegrenzter Komplikation kommt dieselbe Mannigfaltigkeit der Richtungen in Betracht, wenn Systeme von Elementen von bestimmten, unverändert bleibenden Abständen bewegt gedacht werden. Diese Systeme können linear (gerad- und krummlinig), flächenhaft (eben oder in allen möglichen Variationen uneben) oder körperlich (in unbegrenzter Mannigfaltigkeit) angeordnet gedacht werden. So entsteht eine unbegrenzte Mannigfaltigkeit von Nuancen der Grundrichtung der Bewegung.
Auch die Weite der Bewegung ist selbstverständlich eine räumliche Bestimmung. Sie ist der Möglichkeit nach unbegrenzt, indem schon auf Grund des Beharrungsgesetzes jede vorhandene Bewegung, solange sie nicht gehemmt wird, als unbegrenzt sich fortsetzend vorgestellt werden muss.
Auch die Bewegungsgrösse, d. h. die Geschwindigkeit, hat eine gewisse räumliche Bedeutung, insofern die Möglichkeit, die Ortsveränderung bald in grösserer bald in geringerer Zeit, und mit jedem Masse von Variabilität der Geschwindigkeit in den einzelnen Zeiträumen auszuführen, auch an räumliche Bedingungen geknüpft ist. Dies ist wenigstens insofern der Fall, als kein von seiten des Raumes der Mannigfaltigkeit und Variabilität der Bewegungsintensitäten in den Weg gelegtes Hindernis angenommen worden darf.
6. These. Hiernach ergiebt sich folgendes über das Wesen des Raumes:

1. Er ist reales, aber nicht wirkendes Ingrediens der Welteinrichtung;
2. Er ist reale Bedingung der Möglichkeit der Punktualität und der örtlichen Fixierung;
3. Er ermöglicht von jedem Punkte aus unbegrenzt viele gradlinige Richtungen der Kraftwirkung, des Abstandes und der Bewegung, bei letzterer auch unbegrenzte Variation der Richtung durch konkurrierende Kraftwirkungen;
4. Er ist als Bedingung unbegrenzter Mannigfaltigkeit der örtlichen Fixierungen und der Unbegrenztheit der Weite bei Kraftwirkung, Abstand und Bewegung unendlich. [37/38]
a) Bei den Folgerungen über das Wesen des Raumes findet teilweise eine andere Gruppierung statt, als bei der analytischen Ermittelung des wirklichen Räumlichen. Während bei letzterer die Begriffe Eigenschaft, Verhältnis, Zustand als Leitfaden dienten, wird jetzt dasjenige Räumliche zusammengestellt, das die gleichen Züge in der Bedingung der Möglichkeit, dem Raume selbst, erfordert.
b) (ad 1). Hier kommt zunächst der Unterschied zwischen real und wirklich in Betracht. Hinsichtlich desselben kann auf die entsprechende Erörterung bei der Zeit verwiesen werden.
Dass nun der Raum nichts Wirkliches ist, ergiebt sich daraus, dass ihm in keiner Beziehung eine wirkende (fördernde, hemmende, modifizierende) Kausalität zugeschrieben werden kann. Er ist einflusslos auf Wesen, Eigenschaften und Zustände des in ihm Befindlichen, soweit es sich nicht um blosse Ermöglichung, sondern um Verwirklichung handelt. Alle räumlichen Bestimmungen der Elemente des Wirklichen werden durch ihn nicht ursächlich ihrer Wirklichkeit nach bestimmt, sondern nur ihrer Möglichkeit nach bedingt. Diese Wirkungslosigkeit des Raumes scheint insbesondere auch zu genügen, um die räumliche Möglichkeit der unbegrenzten Mannigfaltigkeit und Variabilität der Bewegungsgrössen zu erklären, sodass dafür eine besondere positive Wesensbestimmung desselben nicht angenommen zu werden braucht.
c) (ad 2). Die örtliche Fixierung wird hier nicht insofern mit der Punktualität zusammengestellt, als sie das Ergebnis einer Mannigfaltigkeit von Abständen ist, sondern nur insofern, als sie eine punktuelle ist. Beide Ausdrücke bilden ein e n d i a d u o i n , es handelt sich um örtlich fixierte Punktualität oder um punktuelle örtliche Fixierung. Ohne die örtliche Fixierung ist die Punktualität ein in der Luft schwebendes Abstraktum, das nur künstlich für sich isoliert worden kann, das aber seiner vollen Wirklichkeit nach nur als in einem bestimmten örtlichen Punkte fixiert vorgestellt werden kann. Diese örtlich fixierte Punktualität oder Ausdehnungslosigkeit muss der Raum als möglich gewährleisten; er ist Möglichkeit der punktuellen Örtlichkeit oder Anwesenheit an einem Orte. [38/39]
d) (ad 3). Hier kommt die Frage der Dreidimensionalität in Betracht. Zunächst kommt diese dem Raume selbst auf keinen Fall zu. Dimensionen kann nur ein Wirkliches, näher ein empirisches, aus vielen Elementen zusammengesetztes Ding haben. Es liegt also in der Annahme eines dreidimensionalen Raumes ein Rückfall in die dem natürlichen Vorstellen so naheliegende Verdinglichung des Raumes. Dieser Rückfall liegt auch den müssigen Spekulationen über das etwaige Vorhandensein einer grösseren Zahl von Dimensionen zu Grunde. Aber auch für das wirkliche Räumliche beruht die Dreidimensionalität auf einer geometrischen Abstraktion, durch die die unendliche Mannigfaltigkeit der Richtungen künstlich eingeschränkt wird. Die erste Dimension wird gewonnen, indem aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der möglichen und wirklichen Richtungen eine einzige, eine in bestimmter Richtung verlaufende gerade Linie, herausgegriffen wird, die zweite durch das auf derselben errichtete Lot, neben dem es aber schon in der durch beide Linien bestimmten Ebene und vollends ausserhalb derselben vom Fusspunkte des Lotes aus unzählige andere Linien in allen möglichen Richtungen giebt, die dritte durch das auf beiden in einer zweiten Ebene errichtete Lot, das ebenfalls wieder eine künstliche Beschränkung der möglichen Richtungen darstellt. Dieselbe künstliche Beschränkung liegt vor, wenn man sich drei sich rechtwinklig durchschneidende Ebenen vorstellt. Auch hier liegt die Einschränkung im Beiseitelassen der unbegrenzt vielen andern möglichen Richtungen, in denen schon in einer Linie unzählige Ebenen sich durchschneiden können. Die Dreidimensionalität beruht auf der künstlichen Einschränkung der Ausdehnungsrichtung auf das Rechtwinklige. Wird von dieser isolierenden Betrachtungsweise abgesehen und Dimension gleich Ausdehnungsrichtung genommen, so hat schon die ebene Fläche, wenn wir sie vom Punkte aus durch allseitige Ausdehnung desselben in einer Ebene entstanden denken, unzählig viele Dimensionen, die in den unzählig vielen von einem Punkte aus schon in dieser Ebene möglichen Radien ihren Ausdruck finden. Vollends aber gilt dies von dem durch allseitige Ausdehnung eines Punktes entstanden gedachten Körper. Auch für die empirischen Dinge hat [39/40] die Dreidimensionalität nur die Bedeutung der Unterscheidung von der blossen ebenen Fläche; in Wirklichkeit finden sich in ihnen unzählige Ausdehnungsrichtungen.
Vom Raume also als der Bedingung der Möglichkeit unbegrenzt vieler geradliniger Richtungen der Kraftwirkung, des Abstandes und der Bewegung von einem Punkte aus und vollends der unbegrenzten Variabilität der Bewegungsrichtungen gilt somit, dass er unbegrenzt viele Ausdehnungsrichtungen, geradlinige und krummlinige, letztere mit jeder Möglichkeit der Abänderung, ermöglichen muss.
e) (ad 4). Als Bedingung unbegrenzter Mannigfaltigkeit der örtlichen Fixierung und unbegrenzter Weite der Kraftwirkung, des Abstandes und der Bewegung muss der Raum unendlich sein. Denn das Unbegrenzte ist zwar noch nicht das Unendliche; es nimmt seinen Ausgangspunkt vom Wirklichen; es ist das noch nicht verwirklichte unbegrenzt Mannigfaltige, das aber wirklich werden kann. Diese Möglichkeit der Verwirklichung wird beim Unendlichen von vornherein als ausgeschlossen gedacht; es ist von vornherein in die Sphäre des Möglichen eingeschlossen. Überall aber, wo das Wirkliche ein unbegrenzt Mannigfaltiges sein kann, muss das entsprechende Mögliche, um allen Ansprüchen des Wirklichen genügen zu können, schlechthin unendlich sein. Dies ist aber bei der örtlichen Fixierung, die an unbegrenzt vielen Orten stattfindet, ebenso bei der Weite der Kraftwirkung, des Abstandes und der Bewegung, die sich als unbegrenzte muss verwirklichen können, der Fall.
f) Eine fassliche Bestimmung des Raumes wäre nur dann möglich, wenn diese Bestimmungen zu einer begrifflichen oder anschaulichen Einheit zusammengefasst werden könnten. Hier aber bewahrheitet sich zunächst das gegen Kant Bemerkte, dass zwar das Räumliche anschaulich ist, der Raum selbst aber nicht als Anschauung bezeichnet werden kann. Und was die begriffliche Einheit anlangt, so können wir zwar beim Raume, wie bei der Zeit, die gewonnenen Resultate in der Form einer Definition zusammenfassen. Wir können sagen: der Raum ist dasjenige Ingrediens der Welteinrichtung, das punktuelle örtliche Fixierung und unbegrenzte Mannigfaltigkeit der Richtung und [40/41] Weite der Ausdehnung ermöglicht. Wir können auch bei der empirischen Betrachtung der Aussenwelt stehen bleiben und sagen: er ist dasjenige, was das Ausser mir und Aussereinander, die Mannigfaltigkeit der Gestalten, Grössen, Abstände und Orte, sowie der Bewegungen ermöglicht. Aber einen einheitlichen, im Denken vollziehbaren Begriff haben wir dadurch nicht gewonnen; wir müssen uns eben mit den Resultaten einer methodischen Analyse begnügen. Erkennbar ist jedenfalls, dass auch der Raum eine Grundbedingung der bei der Zeit besprochenen zeitlos verlaufenden Verendlichung des Grundes des Seienden bildet, auf der der Weltprozess beruht.

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